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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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die lutherische Kirche in einem Hirtenbrief an die Glieder seiner Diöcese belei¬
digt und dadurch das ganze Land in Aufregung versetzt hatte; die moskauer
Demokraten ruhten nicht, bevor auch ein ausgezeichneter livländischer Geistlicher,
Propst Döbner. seines Amtes entsetzt worden war; dieser hatte in einer letti.
schen Kirchengeschichte den Bilderdienst getadelt und in durchaus maßvoller
Weise als Abweichung von den ursprünglichen Lehren des Christenthums
bezeichnet.

Vergebens war die Regierung bemüht, den Eifer zu zügeln und einer
billigen Auffassung der baltischen Zustände und Verhältnisse in der russischen
Presse Anerkennung zu verschaffen, vergebens bekundete sie ihre Abneigung gegen
gewaltsame Beeinträchtigung der lutherischen Kirche, -- die einmal in Fluß ge¬
kommene, durch die Vorgänge in Litthauen beständig geschulte Bewegung der
Geister stürmte unaufhaltsam weiter und ließ sich weder Maß noch Ziel setzen.
Die Most. Zig. hatte zur Zeit des polnischen Aufstandes und der drohen¬
den westmächtlichen Intervention wichtige Dienste geleistet und zählte bis in
die höchsten Kreise hinauf zahlreiche und eifrige Anhänger und Verehrer, die
niedere Bureaukratie wurde von der nationalen Demokratie geradezu beherrscht,
die gemäßigten Staatsmänner, welche an der Spitze der Geschäfte standen, wo"
ren isolirt und mußten mit den vorhandenen Factoren rechnen, um sich über¬
haupt halten zu können. Die einzelnen Versuche zu einer heilsamen Reak¬
tion im Sinn der Mäßigung und Humanität, weiche namentlich nach dem Ka.
rakasowschen Attentat auf die Person des Kaisers stattfanden und durch die
Thatsache weitverbreiteter socialistischer Umtriebe in der Jugend vollkommen
motivirt waren, konnten wohl weiteren Excessen vorbeugen, den Sitz des Uebels
aber trafen sie nicht.

Dieses ist noch gegenwärtig die Lage der Dinge. Eine richtige Auffassung
der neuesten Vorgänge in den Ostseeprovinzen ist allein möglich, wenn die¬
selben unter dem Gesichtspunkt der Pression betrachtet werden, welche die
national-demokratische Partei thatsächlich auf alle Kreise der russischen Gesell¬
schaft ausübt, um alles nicht specifisch-russische Leben in den Grenzprovinzen
des Reichs zu vernichten. -- Die brennende Frage, um welche es sich gegen¬
wärtig handelt, ist bekanntlich die Geschäftssprache in den Staatsbehörden Liv-,
Est- und Kurlands; diese sollen auf Grund eines im I. 18ö0 erlassenen, aber
später als "unausführbar" sistirten Befehls alle Verhandlungen russisch führen
und blos in dieser Sprache correspondiren, während das deutsche Idiom in
den ständischen Behörden und Gerichten zunächst noch unangetastet bleiben soll.
Man würde sich aber vollständig betrügen, wollte man glauben, die Na¬
tionalpartei habe keine weitergehenden Absichten und sei zufrieden gestellt,
wenn die Gouvernementsregierungen, Cameral- und Domänenhöfe zu Riga,
Mitau und Reval fortan blos russische Papiere in die Welt sendeten. Für die


die lutherische Kirche in einem Hirtenbrief an die Glieder seiner Diöcese belei¬
digt und dadurch das ganze Land in Aufregung versetzt hatte; die moskauer
Demokraten ruhten nicht, bevor auch ein ausgezeichneter livländischer Geistlicher,
Propst Döbner. seines Amtes entsetzt worden war; dieser hatte in einer letti.
schen Kirchengeschichte den Bilderdienst getadelt und in durchaus maßvoller
Weise als Abweichung von den ursprünglichen Lehren des Christenthums
bezeichnet.

Vergebens war die Regierung bemüht, den Eifer zu zügeln und einer
billigen Auffassung der baltischen Zustände und Verhältnisse in der russischen
Presse Anerkennung zu verschaffen, vergebens bekundete sie ihre Abneigung gegen
gewaltsame Beeinträchtigung der lutherischen Kirche, — die einmal in Fluß ge¬
kommene, durch die Vorgänge in Litthauen beständig geschulte Bewegung der
Geister stürmte unaufhaltsam weiter und ließ sich weder Maß noch Ziel setzen.
Die Most. Zig. hatte zur Zeit des polnischen Aufstandes und der drohen¬
den westmächtlichen Intervention wichtige Dienste geleistet und zählte bis in
die höchsten Kreise hinauf zahlreiche und eifrige Anhänger und Verehrer, die
niedere Bureaukratie wurde von der nationalen Demokratie geradezu beherrscht,
die gemäßigten Staatsmänner, welche an der Spitze der Geschäfte standen, wo«
ren isolirt und mußten mit den vorhandenen Factoren rechnen, um sich über¬
haupt halten zu können. Die einzelnen Versuche zu einer heilsamen Reak¬
tion im Sinn der Mäßigung und Humanität, weiche namentlich nach dem Ka.
rakasowschen Attentat auf die Person des Kaisers stattfanden und durch die
Thatsache weitverbreiteter socialistischer Umtriebe in der Jugend vollkommen
motivirt waren, konnten wohl weiteren Excessen vorbeugen, den Sitz des Uebels
aber trafen sie nicht.

Dieses ist noch gegenwärtig die Lage der Dinge. Eine richtige Auffassung
der neuesten Vorgänge in den Ostseeprovinzen ist allein möglich, wenn die¬
selben unter dem Gesichtspunkt der Pression betrachtet werden, welche die
national-demokratische Partei thatsächlich auf alle Kreise der russischen Gesell¬
schaft ausübt, um alles nicht specifisch-russische Leben in den Grenzprovinzen
des Reichs zu vernichten. — Die brennende Frage, um welche es sich gegen¬
wärtig handelt, ist bekanntlich die Geschäftssprache in den Staatsbehörden Liv-,
Est- und Kurlands; diese sollen auf Grund eines im I. 18ö0 erlassenen, aber
später als „unausführbar" sistirten Befehls alle Verhandlungen russisch führen
und blos in dieser Sprache correspondiren, während das deutsche Idiom in
den ständischen Behörden und Gerichten zunächst noch unangetastet bleiben soll.
Man würde sich aber vollständig betrügen, wollte man glauben, die Na¬
tionalpartei habe keine weitergehenden Absichten und sei zufrieden gestellt,
wenn die Gouvernementsregierungen, Cameral- und Domänenhöfe zu Riga,
Mitau und Reval fortan blos russische Papiere in die Welt sendeten. Für die


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[0375] die lutherische Kirche in einem Hirtenbrief an die Glieder seiner Diöcese belei¬ digt und dadurch das ganze Land in Aufregung versetzt hatte; die moskauer Demokraten ruhten nicht, bevor auch ein ausgezeichneter livländischer Geistlicher, Propst Döbner. seines Amtes entsetzt worden war; dieser hatte in einer letti. schen Kirchengeschichte den Bilderdienst getadelt und in durchaus maßvoller Weise als Abweichung von den ursprünglichen Lehren des Christenthums bezeichnet. Vergebens war die Regierung bemüht, den Eifer zu zügeln und einer billigen Auffassung der baltischen Zustände und Verhältnisse in der russischen Presse Anerkennung zu verschaffen, vergebens bekundete sie ihre Abneigung gegen gewaltsame Beeinträchtigung der lutherischen Kirche, — die einmal in Fluß ge¬ kommene, durch die Vorgänge in Litthauen beständig geschulte Bewegung der Geister stürmte unaufhaltsam weiter und ließ sich weder Maß noch Ziel setzen. Die Most. Zig. hatte zur Zeit des polnischen Aufstandes und der drohen¬ den westmächtlichen Intervention wichtige Dienste geleistet und zählte bis in die höchsten Kreise hinauf zahlreiche und eifrige Anhänger und Verehrer, die niedere Bureaukratie wurde von der nationalen Demokratie geradezu beherrscht, die gemäßigten Staatsmänner, welche an der Spitze der Geschäfte standen, wo« ren isolirt und mußten mit den vorhandenen Factoren rechnen, um sich über¬ haupt halten zu können. Die einzelnen Versuche zu einer heilsamen Reak¬ tion im Sinn der Mäßigung und Humanität, weiche namentlich nach dem Ka. rakasowschen Attentat auf die Person des Kaisers stattfanden und durch die Thatsache weitverbreiteter socialistischer Umtriebe in der Jugend vollkommen motivirt waren, konnten wohl weiteren Excessen vorbeugen, den Sitz des Uebels aber trafen sie nicht. Dieses ist noch gegenwärtig die Lage der Dinge. Eine richtige Auffassung der neuesten Vorgänge in den Ostseeprovinzen ist allein möglich, wenn die¬ selben unter dem Gesichtspunkt der Pression betrachtet werden, welche die national-demokratische Partei thatsächlich auf alle Kreise der russischen Gesell¬ schaft ausübt, um alles nicht specifisch-russische Leben in den Grenzprovinzen des Reichs zu vernichten. — Die brennende Frage, um welche es sich gegen¬ wärtig handelt, ist bekanntlich die Geschäftssprache in den Staatsbehörden Liv-, Est- und Kurlands; diese sollen auf Grund eines im I. 18ö0 erlassenen, aber später als „unausführbar" sistirten Befehls alle Verhandlungen russisch führen und blos in dieser Sprache correspondiren, während das deutsche Idiom in den ständischen Behörden und Gerichten zunächst noch unangetastet bleiben soll. Man würde sich aber vollständig betrügen, wollte man glauben, die Na¬ tionalpartei habe keine weitergehenden Absichten und sei zufrieden gestellt, wenn die Gouvernementsregierungen, Cameral- und Domänenhöfe zu Riga, Mitau und Reval fortan blos russische Papiere in die Welt sendeten. Für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/375>, abgerufen am 20.10.2024.