Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.Die Regierung hatte die Einführung von Schwurgerichten gewünscht und Alles, Diese Beispiele werden genügen, um eine Vorstellung von den innern und Die Regierung hatte die Einführung von Schwurgerichten gewünscht und Alles, Diese Beispiele werden genügen, um eine Vorstellung von den innern und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0373" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192134"/> <p xml:id="ID_1005" prev="#ID_1004"> Die Regierung hatte die Einführung von Schwurgerichten gewünscht und Alles,<lb/> was in Liv-, Est- und Kurland darauf Anspruch machte, „liberal" zu sein,<lb/> glaubte sich für diesen Vorschlag begeistern zu müssen. Aber in welcher Sprache<lb/> sollten diese Gerichte verhandeln? Die Ausschließung aller derjenigen, welche<lb/> des Deutschen nicht mählig sind, hätte die Regierung niemals bewilligt. — aus<lb/> Rücksicht auf die lettischen und chemischen Geschwornen in der Sprache dieser zu<lb/> verhandeln, war wegen der Armuth dieser Idiome geradezu unmöglich, — die<lb/> von Moskau her empfohlene Einführung der russischen Gerichtssprache stieß<lb/> selbstverständlich auf allgemeinen Widerspruch. — Als in Riga von einer zeit¬<lb/> gemäßen Umgestaltung der Stadtverfassung die Rede war. verlangte die Most.<lb/> Ztg. sogleich, daß die Herrschaft des deutschen Elements und der deutschen<lb/> Sprache gebrochen und der rigaer Commune kein größeres M<iß von Selbst¬<lb/> verwaltung gelassen werde, als den russischen Städten. Bei der Jugend der<lb/> russischen Städteentwickelung wäre die Erfüllung dieser Forderung für die bal¬<lb/> tischen Städte ein Rückschritt gewesen, der alle Vortheile, welche man sich von<lb/> der Reform versprach, paralysirt hätte. Seit nahezu zwei Jahren liegt das<lb/> Projekt einer neuen rigaer Verfassung vor, ohne daß die Bestätigung derselben<lb/> seitens der Regierung erfolgt wäre; der Minister des Innern hält es für noth¬<lb/> wendig, zunächst die Bestätigung des Entwurfs für eine neue allgemeine russi¬<lb/> sche Städteordnung abzuwarten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1006"> Diese Beispiele werden genügen, um eine Vorstellung von den innern und<lb/> äußern Schwierigkeiten zu ermöglichen, mit welchen die baltischen Reformver¬<lb/> suche der letzten Jahre zu kämpfen hatten. Aber noch ehe dieselben zu einem<lb/> auch nur vorläufigen Abschluß gediehen, war der Zeitpunkt für eine Neugestal¬<lb/> tung im liberalen und zugleich deutsch-conservativen Sinne für die Ostseepro¬<lb/> vinzen längst verpaßt. Die liberale und humane Strömung, welche die ersten<lb/> Reqierungsjahre 'Alexanders II. begleitet hatte, war zufolge des unseligen pol-<lb/> nisch-litthauischen Aufstandes vom Jahre 1863 in einen exclusiv-nationalen Fa¬<lb/> natismus umgeschlagen, der nur Ein Ziel kannte: die Vernichtung alles nicht<lb/> russischen Lebens in den westlichen Grenzprovinzen und die Herstellung eines<lb/> einheitlichen, national-russischen Bauernstaats. Schon zur Zeit der Aufhebung<lb/> der Leibeigenschaft hatte die Lehre von der weltcrlvscnden Kraft des russischen<lb/> Gemeindebesitzes, der berufen sei. an die Stelle des persönlichen Grundeigen¬<lb/> thums zu treten und dadurch die sociale Frage zu lösen, eine bedeutende Rolle<lb/> gespielt. Als die Regierung im Jahre 1863 zur Bekämpfung des polnisch-<lb/> litthauischen Aufstandes, der vorzüglich von Edelleuten und katholischen Geist¬<lb/> lichen geleitet worden war, zu einer radicalen Umgestaltung der bäuerlichen<lb/> Verhältnisse in Litthauen und Polen schritt, um das Landvolk durch Aufhebung<lb/> aller auf ihm ruhenden Lasten in das russische Interesse zu ziehen, hatte die<lb/> Demokratie ihr Evangelium vom Gemeindebesitz neu hervorgeholt,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0373]
Die Regierung hatte die Einführung von Schwurgerichten gewünscht und Alles,
was in Liv-, Est- und Kurland darauf Anspruch machte, „liberal" zu sein,
glaubte sich für diesen Vorschlag begeistern zu müssen. Aber in welcher Sprache
sollten diese Gerichte verhandeln? Die Ausschließung aller derjenigen, welche
des Deutschen nicht mählig sind, hätte die Regierung niemals bewilligt. — aus
Rücksicht auf die lettischen und chemischen Geschwornen in der Sprache dieser zu
verhandeln, war wegen der Armuth dieser Idiome geradezu unmöglich, — die
von Moskau her empfohlene Einführung der russischen Gerichtssprache stieß
selbstverständlich auf allgemeinen Widerspruch. — Als in Riga von einer zeit¬
gemäßen Umgestaltung der Stadtverfassung die Rede war. verlangte die Most.
Ztg. sogleich, daß die Herrschaft des deutschen Elements und der deutschen
Sprache gebrochen und der rigaer Commune kein größeres M<iß von Selbst¬
verwaltung gelassen werde, als den russischen Städten. Bei der Jugend der
russischen Städteentwickelung wäre die Erfüllung dieser Forderung für die bal¬
tischen Städte ein Rückschritt gewesen, der alle Vortheile, welche man sich von
der Reform versprach, paralysirt hätte. Seit nahezu zwei Jahren liegt das
Projekt einer neuen rigaer Verfassung vor, ohne daß die Bestätigung derselben
seitens der Regierung erfolgt wäre; der Minister des Innern hält es für noth¬
wendig, zunächst die Bestätigung des Entwurfs für eine neue allgemeine russi¬
sche Städteordnung abzuwarten.
Diese Beispiele werden genügen, um eine Vorstellung von den innern und
äußern Schwierigkeiten zu ermöglichen, mit welchen die baltischen Reformver¬
suche der letzten Jahre zu kämpfen hatten. Aber noch ehe dieselben zu einem
auch nur vorläufigen Abschluß gediehen, war der Zeitpunkt für eine Neugestal¬
tung im liberalen und zugleich deutsch-conservativen Sinne für die Ostseepro¬
vinzen längst verpaßt. Die liberale und humane Strömung, welche die ersten
Reqierungsjahre 'Alexanders II. begleitet hatte, war zufolge des unseligen pol-
nisch-litthauischen Aufstandes vom Jahre 1863 in einen exclusiv-nationalen Fa¬
natismus umgeschlagen, der nur Ein Ziel kannte: die Vernichtung alles nicht
russischen Lebens in den westlichen Grenzprovinzen und die Herstellung eines
einheitlichen, national-russischen Bauernstaats. Schon zur Zeit der Aufhebung
der Leibeigenschaft hatte die Lehre von der weltcrlvscnden Kraft des russischen
Gemeindebesitzes, der berufen sei. an die Stelle des persönlichen Grundeigen¬
thums zu treten und dadurch die sociale Frage zu lösen, eine bedeutende Rolle
gespielt. Als die Regierung im Jahre 1863 zur Bekämpfung des polnisch-
litthauischen Aufstandes, der vorzüglich von Edelleuten und katholischen Geist¬
lichen geleitet worden war, zu einer radicalen Umgestaltung der bäuerlichen
Verhältnisse in Litthauen und Polen schritt, um das Landvolk durch Aufhebung
aller auf ihm ruhenden Lasten in das russische Interesse zu ziehen, hatte die
Demokratie ihr Evangelium vom Gemeindebesitz neu hervorgeholt,
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