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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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lands macht, werden diesen zu wirtlichen Festen. Ein neues Heft Musi-
kalten, eine politische oder historische Schrift, deren Titel man in der Zei.
tung gelesen und die ein Glücksfall in die Hände des Nachbars gebracht hat,
geht von Hand zu Hand, ist Gegenstand der allgemeinsten Theilnahme, bietet
Tage lang den Stoff für alle eingehenderen Gespräche. Und wie man ge¬
wohnt ist, zu den Schöpfungen der Kunst und Wissenschaft, von denen man
einmal einen bedeutenden Eindruck empfangen, immer wieder zurückzukehren,
so ist man in diesem Lande auch mit den Menschen, die einem im Leben über¬
haupt etwas bedeutet haben, enger verbunden, als unter den glücklicheren Him¬
melsstrichen, die es in Neigung und Belieben des Einzelnen setzen, ob er sich
neben der äußern Welt der Erscheinung auch eine innere des Herzens und der
Empfindung schaffen will. Die deutsche Einwohnerschaft jeder der drei Pro¬
vinzen bildet in gewissem Sinne eine oder einige große Familien, die sich
trotz ständischer Gegensätze und Rivalitäten mit einander verbunden wissen durch
das Band gleicher Kirche und Sprache und durch den Kampf mit politischen
Schwierigkeiten, von denen im Grunde alle in gleicher Weise bedroht sind.
Da sich alles mehr oder minder kennt, liebt oder heißt, nimmt Jeder einen ge¬
wissen Antheil an dem Andern; a,ä Koe geschlossene Verbindungen auf rein sach¬
licher Grundlage sind so gut wie unbekannt, jedes Verhältniß, mag es auf der
Universität oder in einer politischen Versammlung, zwischen Jungen oder Alten
geschlossen sein, nimmt einen persönlichen und dauernden Charakter an. Trotz
der politischen Präponderanz und beziehungsweisen Ausschließlichkeit des Adels
herrscht unter den Gebildeten des Landes eine sociale Gleichheit, deren aristo¬
kratisches Gepräge zu der Formenstrenge der deutschen Geselligkeit in ziemlich
ausgesprochenem Gegensatz steht. Es ist nicht immer leicht, ein Mitglied der
herrschenden Gesellschaft zu werden, -- einmal in dieselbe aufgenommen, fühlt
man sich aber rasch und vollständig eingebürgert. Enger mit einander verbun¬
den, direkter auf einander angewiesen, bewegen die Menschen sich mit größerer
Ungezwungenheit und Offenheit; da sie einander kennen, mit einander aus¬
kommen müssen, würde das Comvdiespielcn ihnen wenig helfen. Der Natur
der Sache nach spielt das Familienleben noch seine ursprüngliche Rolle, ist die
Gesellschaft eigentlich nur das erweiterte Haus. Namentlich auf dem flachen
Lande herrscht eine großartige Gastfreiheit, der es im Ernst darum zu thun ist,
den Fremden möglichst rasch und gründlich heimisch zu machen, ihn an den
Freuden und Leiden, Sorgen und Interessen der Familie theilnehmen zu lassen.
Als ächte Kolonisten sind die Liv-, Est- und Kurländer viel schlechtere Rechner,
als ihre dichter bei einander wohnenden westlichen Stammesbrüder; der stark
ausgebildete Sinn für Gemüthlichkeit und Behagen, der ihnen eigenthümlich
ist. läßt die Frage nach dem Verhältniß, in welchem Wünsche und Mittel zur
Befriedigung derselben stehen, seltener aufkommen, als vernünftiger Weise ge-


lands macht, werden diesen zu wirtlichen Festen. Ein neues Heft Musi-
kalten, eine politische oder historische Schrift, deren Titel man in der Zei.
tung gelesen und die ein Glücksfall in die Hände des Nachbars gebracht hat,
geht von Hand zu Hand, ist Gegenstand der allgemeinsten Theilnahme, bietet
Tage lang den Stoff für alle eingehenderen Gespräche. Und wie man ge¬
wohnt ist, zu den Schöpfungen der Kunst und Wissenschaft, von denen man
einmal einen bedeutenden Eindruck empfangen, immer wieder zurückzukehren,
so ist man in diesem Lande auch mit den Menschen, die einem im Leben über¬
haupt etwas bedeutet haben, enger verbunden, als unter den glücklicheren Him¬
melsstrichen, die es in Neigung und Belieben des Einzelnen setzen, ob er sich
neben der äußern Welt der Erscheinung auch eine innere des Herzens und der
Empfindung schaffen will. Die deutsche Einwohnerschaft jeder der drei Pro¬
vinzen bildet in gewissem Sinne eine oder einige große Familien, die sich
trotz ständischer Gegensätze und Rivalitäten mit einander verbunden wissen durch
das Band gleicher Kirche und Sprache und durch den Kampf mit politischen
Schwierigkeiten, von denen im Grunde alle in gleicher Weise bedroht sind.
Da sich alles mehr oder minder kennt, liebt oder heißt, nimmt Jeder einen ge¬
wissen Antheil an dem Andern; a,ä Koe geschlossene Verbindungen auf rein sach¬
licher Grundlage sind so gut wie unbekannt, jedes Verhältniß, mag es auf der
Universität oder in einer politischen Versammlung, zwischen Jungen oder Alten
geschlossen sein, nimmt einen persönlichen und dauernden Charakter an. Trotz
der politischen Präponderanz und beziehungsweisen Ausschließlichkeit des Adels
herrscht unter den Gebildeten des Landes eine sociale Gleichheit, deren aristo¬
kratisches Gepräge zu der Formenstrenge der deutschen Geselligkeit in ziemlich
ausgesprochenem Gegensatz steht. Es ist nicht immer leicht, ein Mitglied der
herrschenden Gesellschaft zu werden, — einmal in dieselbe aufgenommen, fühlt
man sich aber rasch und vollständig eingebürgert. Enger mit einander verbun¬
den, direkter auf einander angewiesen, bewegen die Menschen sich mit größerer
Ungezwungenheit und Offenheit; da sie einander kennen, mit einander aus¬
kommen müssen, würde das Comvdiespielcn ihnen wenig helfen. Der Natur
der Sache nach spielt das Familienleben noch seine ursprüngliche Rolle, ist die
Gesellschaft eigentlich nur das erweiterte Haus. Namentlich auf dem flachen
Lande herrscht eine großartige Gastfreiheit, der es im Ernst darum zu thun ist,
den Fremden möglichst rasch und gründlich heimisch zu machen, ihn an den
Freuden und Leiden, Sorgen und Interessen der Familie theilnehmen zu lassen.
Als ächte Kolonisten sind die Liv-, Est- und Kurländer viel schlechtere Rechner,
als ihre dichter bei einander wohnenden westlichen Stammesbrüder; der stark
ausgebildete Sinn für Gemüthlichkeit und Behagen, der ihnen eigenthümlich
ist. läßt die Frage nach dem Verhältniß, in welchem Wünsche und Mittel zur
Befriedigung derselben stehen, seltener aufkommen, als vernünftiger Weise ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/343>, abgerufen am 27.09.2024.