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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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zu bieten, und dieses hat darum noch ein Stück Arbeit vor sich, um zu der
Höhe seiner geschichtlichen Aufgabe zu gelangen. -- Seine Hauptbedeutung hat
Mitau als Sitz der Provinzialverwaltung und des Schulwesens. Außer einem
historischen Museum und verschiedener gelehrter Anstalten besitzt diese Stadt
noch einige sehr beträchtliche Buchhandlungen, die vorwiegend den literarischen
Bedürfnissen des flachen Landes dienen, und einige größere Buchdruckereien,
die hauptsächlich mit dem Druck und Vertrieb keltischer Bücher und Zeitschriften
beschäftigt sind. Die Wohlhabenheit des kurländischen Bauern macht diesen
zu einem nicht unwichtigen Factor des städtischen Lebens; der Detailhandel
Milans lebt hauptsächlich von bäuerlichen Käufern und nirgend geschieht es
häusiger als hier, daß der wohlhabende Bauerwirth seinen Sohn in die Stadt
schickt, um ein Gewerbe zu erlernen und in die Reihe der deutschen Bürger zu
treten. Die Grenzscheide zwischen Letten und Deutschen ist überhaupt nirgend
schwerer zu ziehen, als in Kurland, wo die Mehrzahl der wohlhabenden Bauem
des Unterlandes Deutsch versteht und der städtische Bürger so häusig mit dem
Bauer in Berührung kommt, daß er die Sprache desselben lernen muß. Anders
in Riga, wo die Selbstgenügsamkeit des stolzen Bürgers des Bauern weniger
bedarf und die germanisirten Schichten der städtischen Bevölkerung, die zahl¬
reichen Markthelfer, Hausleute, Schiffsarbcitcr u. s. w. ihren lettischen Ursprung
rascher vergessen. Während es in Riga zahlreiche Leute giebt, die kaum ein
Wort keltisch verstehen, geschieht es nicht selten, daß der Kurländer seiner Rede
einen lettischen Ausdruck einschließt, und charakteristisch genug führt die Cor¬
poration der in Dorpat studirenden Kurländer in ihrem Wappen einen lettischen
Wahlspruch. Von Alters her hat die deutsche Herrschaft in Kurland minder
schroffe und ausschließliche Formen angenommen, als in den Nachbarprovinzen.

Das in allen kurländischen Orten reichlich vertretene Judenthum in Ab¬
zug gebracht, sehen die zahlreichen Landstädte Liv- und Kurlands einander
ebenso ähnlich, als ihre beiden Hauptstädte unähnlich sind. In Wolmar
und Wenden fließt das Leben in derselben idyllischen Abgeschlossenheit hin.
deren sich die kurischen Städte Goldingen, Hasenpot oder Tuckum erfreuen.
Neben Handwerkern und einzelnen Kleinhändlern finden sich dieselben Hono¬
ratioren unfehlbar wieder: der Stadtpastor, die Aerzte, der Kreislehrer und
seine Kollegen, der rechtsgelehrte Syndicus des Raths, der in der Regel zu¬
gleich Advokat ist, der Postmeister, endlich die adligen Glieder und der rechts¬
gelehrte Secretär des Land- oder Ordnungsgerichts (in Kurland Oberhaupt¬
mann- und Hauptmanngcricht), Zwischen bescheidener Berufsthätigkeit und
familienhafter Geselligkeit schwinden die Tage einander zum Verwechseln ahn.
lieh dahin. -- Besuche bei benachbarten Gutsbesitzern. Iagdparthien und um
die Weihnachtszeit übliche Reisen nach Riga oder Mita" bieten die einzige Ab¬
wechselung. Den Sammelplatz der Männer bildet ein Club mit einem


zu bieten, und dieses hat darum noch ein Stück Arbeit vor sich, um zu der
Höhe seiner geschichtlichen Aufgabe zu gelangen. — Seine Hauptbedeutung hat
Mitau als Sitz der Provinzialverwaltung und des Schulwesens. Außer einem
historischen Museum und verschiedener gelehrter Anstalten besitzt diese Stadt
noch einige sehr beträchtliche Buchhandlungen, die vorwiegend den literarischen
Bedürfnissen des flachen Landes dienen, und einige größere Buchdruckereien,
die hauptsächlich mit dem Druck und Vertrieb keltischer Bücher und Zeitschriften
beschäftigt sind. Die Wohlhabenheit des kurländischen Bauern macht diesen
zu einem nicht unwichtigen Factor des städtischen Lebens; der Detailhandel
Milans lebt hauptsächlich von bäuerlichen Käufern und nirgend geschieht es
häusiger als hier, daß der wohlhabende Bauerwirth seinen Sohn in die Stadt
schickt, um ein Gewerbe zu erlernen und in die Reihe der deutschen Bürger zu
treten. Die Grenzscheide zwischen Letten und Deutschen ist überhaupt nirgend
schwerer zu ziehen, als in Kurland, wo die Mehrzahl der wohlhabenden Bauem
des Unterlandes Deutsch versteht und der städtische Bürger so häusig mit dem
Bauer in Berührung kommt, daß er die Sprache desselben lernen muß. Anders
in Riga, wo die Selbstgenügsamkeit des stolzen Bürgers des Bauern weniger
bedarf und die germanisirten Schichten der städtischen Bevölkerung, die zahl¬
reichen Markthelfer, Hausleute, Schiffsarbcitcr u. s. w. ihren lettischen Ursprung
rascher vergessen. Während es in Riga zahlreiche Leute giebt, die kaum ein
Wort keltisch verstehen, geschieht es nicht selten, daß der Kurländer seiner Rede
einen lettischen Ausdruck einschließt, und charakteristisch genug führt die Cor¬
poration der in Dorpat studirenden Kurländer in ihrem Wappen einen lettischen
Wahlspruch. Von Alters her hat die deutsche Herrschaft in Kurland minder
schroffe und ausschließliche Formen angenommen, als in den Nachbarprovinzen.

Das in allen kurländischen Orten reichlich vertretene Judenthum in Ab¬
zug gebracht, sehen die zahlreichen Landstädte Liv- und Kurlands einander
ebenso ähnlich, als ihre beiden Hauptstädte unähnlich sind. In Wolmar
und Wenden fließt das Leben in derselben idyllischen Abgeschlossenheit hin.
deren sich die kurischen Städte Goldingen, Hasenpot oder Tuckum erfreuen.
Neben Handwerkern und einzelnen Kleinhändlern finden sich dieselben Hono¬
ratioren unfehlbar wieder: der Stadtpastor, die Aerzte, der Kreislehrer und
seine Kollegen, der rechtsgelehrte Syndicus des Raths, der in der Regel zu¬
gleich Advokat ist, der Postmeister, endlich die adligen Glieder und der rechts¬
gelehrte Secretär des Land- oder Ordnungsgerichts (in Kurland Oberhaupt¬
mann- und Hauptmanngcricht), Zwischen bescheidener Berufsthätigkeit und
familienhafter Geselligkeit schwinden die Tage einander zum Verwechseln ahn.
lieh dahin. — Besuche bei benachbarten Gutsbesitzern. Iagdparthien und um
die Weihnachtszeit übliche Reisen nach Riga oder Mita» bieten die einzige Ab¬
wechselung. Den Sammelplatz der Männer bildet ein Club mit einem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/341>, abgerufen am 27.09.2024.