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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Uebergewicht des Adels geltend, neben welchem das Bürgerthum zu keiner selb¬
ständigen Machtstellung gediehen ist. Die nicht eben zahlreichen stattlicheren
Häuser gehören Edelleuten, welche hier den Winter zu verbringen gewohnt sind.

Der Gouverneur residirt in dem großartig angelegten Schloß, das Ernst
Johann Biron im vorigen Jahrhundert bauen ließ und das wundersam
gegen die Bescheidenheit seiner Umgebung absticht. Während in Riga die
eigentliche Gesellschaft aus Patriciern, Edelleuten und höheren Beamten zusam¬
mengesetzt ist. bildet der Adel in Mitau eine gesonderte, fast unnahbare Kaste,
mit welcher der gebildete Bürgerstand bis in die neueste Zeit hinein jede ge¬
sellschaftliche Berührung beinahe ängstlich vermeidet. Da die größeren Bank-
und Handelshäuser fast ausnahmslos in den Händen von Juden sind, die
eine besondere sociale und politische Gruppe bilden, ist das Bürgerthum
der Stadt ausschließlich auf Beamte und Gelehrte angewiesen, die als "Literaten"
den übrigen Elementen fremd gegenüber stehen. In neuerer Zeit beginnt
sich indessen ein entschiedener Fortschritt zum Besseren geltend zu machen,
namentlich seit das Vereinswesen Wurzel geschlagen und die verschiedenen
Gruppen, die sich sonst theilnahmlos gegenüber gestanden, zur Annäherung ge¬
zwungen hat. Die Hauptschuld an den Mißverhältnissen der Gegenwart tra¬
gen der Mangel einer selbständigen Stadtverfassung und die jüdische Übervöl¬
kerung. Soll Kurland und mit ihm Mitau zu einer gesunden bürgerliche"
Entwickelung durchdringen, so muß vor Allem der Bann fallen, der die Juden
an dieses Land fesselt und dazu verurtheilt, ein Proletariat zu bilden, das wie
ein Bleigewicht am städtischen Leben belügt, jeder freien Bewegung desselben
hindernd in den Weg tritt. Das jüdische Element ist dieser Provinz nur schäd¬
lich, weil es allzu zahlreich vertreten ist und das gesammte städtische Leben über¬
wuchert, -- über die schwach bevölkerten Gouvernements des centralen Rußland
verbreitet würde es den geeigneten Spielraum für seine Geschäftigkeit finden
und entschiedenen Nutzen stiften. Das Handwerk, der Handel und die niedere
Arbeit sind auch in Mitau vorwiegend in jüdischen Händen. Der Bürger fühlt
sich darum in stetem Kriege mit diesem gefährlichen Concurrenten, der in Be¬
zug auf seine Bildung meist ebenso tief unter ihm, wie unter dem Juden
Deutschlands steht und durch ein rohes, fast barbarisches Vorurtheil niederge¬
halten wird. Mangel an Anstalten der Großindustrie und die nahe Nachbar¬
schaft der großen livländischen Hauptstadt lassen kein wirkliches Gewerbsleben
aufkommen, der Wohlstand ist gering und wird noch durch die Kosten einer
Communalverwaltung gedrückt, die ausschließlich aus städtischen Steuern
bestritten werden muß, da es der Stadt ebenso an größerem Grundbesitz wie
an Capitalien fehlt. Das durch die Uebermacht der Ritterschaft machtlos ge¬
wordene herzogliche Regiment, das 225 Jahre lang über Kurland geherrscht
hatte, war außer Stande gewesen, dem städtischen Element einen Rückhalt


Uebergewicht des Adels geltend, neben welchem das Bürgerthum zu keiner selb¬
ständigen Machtstellung gediehen ist. Die nicht eben zahlreichen stattlicheren
Häuser gehören Edelleuten, welche hier den Winter zu verbringen gewohnt sind.

Der Gouverneur residirt in dem großartig angelegten Schloß, das Ernst
Johann Biron im vorigen Jahrhundert bauen ließ und das wundersam
gegen die Bescheidenheit seiner Umgebung absticht. Während in Riga die
eigentliche Gesellschaft aus Patriciern, Edelleuten und höheren Beamten zusam¬
mengesetzt ist. bildet der Adel in Mitau eine gesonderte, fast unnahbare Kaste,
mit welcher der gebildete Bürgerstand bis in die neueste Zeit hinein jede ge¬
sellschaftliche Berührung beinahe ängstlich vermeidet. Da die größeren Bank-
und Handelshäuser fast ausnahmslos in den Händen von Juden sind, die
eine besondere sociale und politische Gruppe bilden, ist das Bürgerthum
der Stadt ausschließlich auf Beamte und Gelehrte angewiesen, die als „Literaten"
den übrigen Elementen fremd gegenüber stehen. In neuerer Zeit beginnt
sich indessen ein entschiedener Fortschritt zum Besseren geltend zu machen,
namentlich seit das Vereinswesen Wurzel geschlagen und die verschiedenen
Gruppen, die sich sonst theilnahmlos gegenüber gestanden, zur Annäherung ge¬
zwungen hat. Die Hauptschuld an den Mißverhältnissen der Gegenwart tra¬
gen der Mangel einer selbständigen Stadtverfassung und die jüdische Übervöl¬
kerung. Soll Kurland und mit ihm Mitau zu einer gesunden bürgerliche»
Entwickelung durchdringen, so muß vor Allem der Bann fallen, der die Juden
an dieses Land fesselt und dazu verurtheilt, ein Proletariat zu bilden, das wie
ein Bleigewicht am städtischen Leben belügt, jeder freien Bewegung desselben
hindernd in den Weg tritt. Das jüdische Element ist dieser Provinz nur schäd¬
lich, weil es allzu zahlreich vertreten ist und das gesammte städtische Leben über¬
wuchert, — über die schwach bevölkerten Gouvernements des centralen Rußland
verbreitet würde es den geeigneten Spielraum für seine Geschäftigkeit finden
und entschiedenen Nutzen stiften. Das Handwerk, der Handel und die niedere
Arbeit sind auch in Mitau vorwiegend in jüdischen Händen. Der Bürger fühlt
sich darum in stetem Kriege mit diesem gefährlichen Concurrenten, der in Be¬
zug auf seine Bildung meist ebenso tief unter ihm, wie unter dem Juden
Deutschlands steht und durch ein rohes, fast barbarisches Vorurtheil niederge¬
halten wird. Mangel an Anstalten der Großindustrie und die nahe Nachbar¬
schaft der großen livländischen Hauptstadt lassen kein wirkliches Gewerbsleben
aufkommen, der Wohlstand ist gering und wird noch durch die Kosten einer
Communalverwaltung gedrückt, die ausschließlich aus städtischen Steuern
bestritten werden muß, da es der Stadt ebenso an größerem Grundbesitz wie
an Capitalien fehlt. Das durch die Uebermacht der Ritterschaft machtlos ge¬
wordene herzogliche Regiment, das 225 Jahre lang über Kurland geherrscht
hatte, war außer Stande gewesen, dem städtischen Element einen Rückhalt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/340>, abgerufen am 27.09.2024.