Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

geführte Gildenhäuser, ein stolzes Ritterhaus, eine Gasbeleuchtungsanstalt, das
städtische Realgymnasium, die (mit Hilfe der Ritterschaften und übrigen Städte
des baltischen Landes von der Stadt erhaltene) polytechnische Schule, eine Na¬
vigationsschule , zahllose Fabriken und Privatgebäude sind binnen weniger
Jahre emporgewachsen und bekunden den aufstrebenden Wohlstand der Bürger¬
schaft. Ihrer Initiative verdankt das Land die nahe livländische Eisenbahn
(Riga-Dünaburg), die erste Telegraphenlinie (nach Dünamünde) und eine Reihe
kolossaler Hase"bauten, welche der drohenden Versandung des Dünastroms eine
Grenze gesetzt haben. Auch das moderne Genossenschaftswesen hat in den
Mauern dieser Stadt die erste Pflanzstätte gefunden. Schon in früherer Zeit
waren die Männer der Wissenschaft, die Aerzte. Historiker, Advokaten, Natur¬
wissenschaftler und Techniker zu besonderen Vereinen zusammengetreten; seit den
letzten Jahren haben sich hier Productions- und Konsumvereine gebildet, eine
Handwerkerbildungsgesellschaft, verschiedene Turner-, Schützen-, Feuerwehr- und
Sängerverbindungen sind rasch aufeinander gefolgt und so gedeihlich fortgeschrit¬
ten, daß sie bis nach Neval und Windau hin Nachahmung gefunden haben.

Aber auch auf den verschiedenen Gebieten geistigen und künstlerischen Le¬
bens hat Riga von jeher eine wichtige Rolle für das baltische Land gespielt.
Daß hier beinahe ebenso viel Deutsche bei einander wohnen, als im gesamm-
ten übrigen Livland, machte sich von Alters her geltend. Riga war die Wiege der Re¬
formation, unter seinem Schutz wurden die ersten Buchdruckereien gegründet, die
ersten Bibliotheken gesammelt und schon im 17. Jahrhunderte periodische
Schriften herausgegeben. Hier schlugen während der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts die Ideen der Aufklärung und der allgemeinen Menschenrechte die
erste Wurzel; an die städtische Domschule wurde bekanntlich 1764 Herder berufen,
dessen Gedächtniß durch ein Standbild auf dem Platz der kleinen Waage (jetzt
Herderplatz) verewigt worden ist; im Hause des Rathsherrn Behrens hat Ha-
mann, der "Magus des Nordens", viele Jahre lang gelebt, Kants "Kritik der
reinen Vernunft" wurde bei dem Stadtbuchdrucker Fröhlich im Auftrage eines
rigaer Verlegers, des trefflichen Hartknoch, gedruckt. Wenige Jahre später wurde
durch die Bemühungen des Geheimrath v. Vietinghof (des Vaters der bekann¬
ten Mystikerin Juliane v. Krüdener) ein stehendes Theater errichtet, das sich so
schnell Ruf und Anerkennung zu erobern wußte, daß Schiller ihm den Don
Carlos (in seiner ersten, noch in Prosa geschriebenen Version) verlauft"'; 1802
wurde durch den Generalsuperintendenten Carl Gottlob Sonntag, einen Freund
Herders und Wielands, die "literarisch-praktische Bürgcrverbindung" ein Verein
zur Förderung des Wohlstandes und der Aufklärung der Handwerker und
der kleinen Bürger gestiftet. In neuerer Zeit ist es ganz besonders Riga ge¬
wesen, dem das Land den Aufschwung der politischen Presse zu danken hat;
die seit neunzig Jahren bestehende "Nigasche Zeitung", eine vornehmlich


geführte Gildenhäuser, ein stolzes Ritterhaus, eine Gasbeleuchtungsanstalt, das
städtische Realgymnasium, die (mit Hilfe der Ritterschaften und übrigen Städte
des baltischen Landes von der Stadt erhaltene) polytechnische Schule, eine Na¬
vigationsschule , zahllose Fabriken und Privatgebäude sind binnen weniger
Jahre emporgewachsen und bekunden den aufstrebenden Wohlstand der Bürger¬
schaft. Ihrer Initiative verdankt das Land die nahe livländische Eisenbahn
(Riga-Dünaburg), die erste Telegraphenlinie (nach Dünamünde) und eine Reihe
kolossaler Hase»bauten, welche der drohenden Versandung des Dünastroms eine
Grenze gesetzt haben. Auch das moderne Genossenschaftswesen hat in den
Mauern dieser Stadt die erste Pflanzstätte gefunden. Schon in früherer Zeit
waren die Männer der Wissenschaft, die Aerzte. Historiker, Advokaten, Natur¬
wissenschaftler und Techniker zu besonderen Vereinen zusammengetreten; seit den
letzten Jahren haben sich hier Productions- und Konsumvereine gebildet, eine
Handwerkerbildungsgesellschaft, verschiedene Turner-, Schützen-, Feuerwehr- und
Sängerverbindungen sind rasch aufeinander gefolgt und so gedeihlich fortgeschrit¬
ten, daß sie bis nach Neval und Windau hin Nachahmung gefunden haben.

Aber auch auf den verschiedenen Gebieten geistigen und künstlerischen Le¬
bens hat Riga von jeher eine wichtige Rolle für das baltische Land gespielt.
Daß hier beinahe ebenso viel Deutsche bei einander wohnen, als im gesamm-
ten übrigen Livland, machte sich von Alters her geltend. Riga war die Wiege der Re¬
formation, unter seinem Schutz wurden die ersten Buchdruckereien gegründet, die
ersten Bibliotheken gesammelt und schon im 17. Jahrhunderte periodische
Schriften herausgegeben. Hier schlugen während der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts die Ideen der Aufklärung und der allgemeinen Menschenrechte die
erste Wurzel; an die städtische Domschule wurde bekanntlich 1764 Herder berufen,
dessen Gedächtniß durch ein Standbild auf dem Platz der kleinen Waage (jetzt
Herderplatz) verewigt worden ist; im Hause des Rathsherrn Behrens hat Ha-
mann, der „Magus des Nordens", viele Jahre lang gelebt, Kants „Kritik der
reinen Vernunft" wurde bei dem Stadtbuchdrucker Fröhlich im Auftrage eines
rigaer Verlegers, des trefflichen Hartknoch, gedruckt. Wenige Jahre später wurde
durch die Bemühungen des Geheimrath v. Vietinghof (des Vaters der bekann¬
ten Mystikerin Juliane v. Krüdener) ein stehendes Theater errichtet, das sich so
schnell Ruf und Anerkennung zu erobern wußte, daß Schiller ihm den Don
Carlos (in seiner ersten, noch in Prosa geschriebenen Version) verlauft»'; 1802
wurde durch den Generalsuperintendenten Carl Gottlob Sonntag, einen Freund
Herders und Wielands, die „literarisch-praktische Bürgcrverbindung" ein Verein
zur Förderung des Wohlstandes und der Aufklärung der Handwerker und
der kleinen Bürger gestiftet. In neuerer Zeit ist es ganz besonders Riga ge¬
wesen, dem das Land den Aufschwung der politischen Presse zu danken hat;
die seit neunzig Jahren bestehende „Nigasche Zeitung", eine vornehmlich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0338" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192099"/>
            <p xml:id="ID_922" prev="#ID_921"> geführte Gildenhäuser, ein stolzes Ritterhaus, eine Gasbeleuchtungsanstalt, das<lb/>
städtische Realgymnasium, die (mit Hilfe der Ritterschaften und übrigen Städte<lb/>
des baltischen Landes von der Stadt erhaltene) polytechnische Schule, eine Na¬<lb/>
vigationsschule , zahllose Fabriken und Privatgebäude sind binnen weniger<lb/>
Jahre emporgewachsen und bekunden den aufstrebenden Wohlstand der Bürger¬<lb/>
schaft. Ihrer Initiative verdankt das Land die nahe livländische Eisenbahn<lb/>
(Riga-Dünaburg), die erste Telegraphenlinie (nach Dünamünde) und eine Reihe<lb/>
kolossaler Hase»bauten, welche der drohenden Versandung des Dünastroms eine<lb/>
Grenze gesetzt haben. Auch das moderne Genossenschaftswesen hat in den<lb/>
Mauern dieser Stadt die erste Pflanzstätte gefunden. Schon in früherer Zeit<lb/>
waren die Männer der Wissenschaft, die Aerzte. Historiker, Advokaten, Natur¬<lb/>
wissenschaftler und Techniker zu besonderen Vereinen zusammengetreten; seit den<lb/>
letzten Jahren haben sich hier Productions- und Konsumvereine gebildet, eine<lb/>
Handwerkerbildungsgesellschaft, verschiedene Turner-, Schützen-, Feuerwehr- und<lb/>
Sängerverbindungen sind rasch aufeinander gefolgt und so gedeihlich fortgeschrit¬<lb/>
ten, daß sie bis nach Neval und Windau hin Nachahmung gefunden haben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_923" next="#ID_924"> Aber auch auf den verschiedenen Gebieten geistigen und künstlerischen Le¬<lb/>
bens hat Riga von jeher eine wichtige Rolle für das baltische Land gespielt.<lb/>
Daß hier beinahe ebenso viel Deutsche bei einander wohnen, als im gesamm-<lb/>
ten übrigen Livland, machte sich von Alters her geltend. Riga war die Wiege der Re¬<lb/>
formation, unter seinem Schutz wurden die ersten Buchdruckereien gegründet, die<lb/>
ersten Bibliotheken gesammelt und schon im 17. Jahrhunderte periodische<lb/>
Schriften herausgegeben. Hier schlugen während der zweiten Hälfte des 18.<lb/>
Jahrhunderts die Ideen der Aufklärung und der allgemeinen Menschenrechte die<lb/>
erste Wurzel; an die städtische Domschule wurde bekanntlich 1764 Herder berufen,<lb/>
dessen Gedächtniß durch ein Standbild auf dem Platz der kleinen Waage (jetzt<lb/>
Herderplatz) verewigt worden ist; im Hause des Rathsherrn Behrens hat Ha-<lb/>
mann, der &#x201E;Magus des Nordens", viele Jahre lang gelebt, Kants &#x201E;Kritik der<lb/>
reinen Vernunft" wurde bei dem Stadtbuchdrucker Fröhlich im Auftrage eines<lb/>
rigaer Verlegers, des trefflichen Hartknoch, gedruckt. Wenige Jahre später wurde<lb/>
durch die Bemühungen des Geheimrath v. Vietinghof (des Vaters der bekann¬<lb/>
ten Mystikerin Juliane v. Krüdener) ein stehendes Theater errichtet, das sich so<lb/>
schnell Ruf und Anerkennung zu erobern wußte, daß Schiller ihm den Don<lb/>
Carlos (in seiner ersten, noch in Prosa geschriebenen Version) verlauft»'; 1802<lb/>
wurde durch den Generalsuperintendenten Carl Gottlob Sonntag, einen Freund<lb/>
Herders und Wielands, die &#x201E;literarisch-praktische Bürgcrverbindung" ein Verein<lb/>
zur Förderung des Wohlstandes und der Aufklärung der Handwerker und<lb/>
der kleinen Bürger gestiftet. In neuerer Zeit ist es ganz besonders Riga ge¬<lb/>
wesen, dem das Land den Aufschwung der politischen Presse zu danken hat;<lb/>
die seit neunzig Jahren bestehende &#x201E;Nigasche Zeitung", eine vornehmlich</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0338] geführte Gildenhäuser, ein stolzes Ritterhaus, eine Gasbeleuchtungsanstalt, das städtische Realgymnasium, die (mit Hilfe der Ritterschaften und übrigen Städte des baltischen Landes von der Stadt erhaltene) polytechnische Schule, eine Na¬ vigationsschule , zahllose Fabriken und Privatgebäude sind binnen weniger Jahre emporgewachsen und bekunden den aufstrebenden Wohlstand der Bürger¬ schaft. Ihrer Initiative verdankt das Land die nahe livländische Eisenbahn (Riga-Dünaburg), die erste Telegraphenlinie (nach Dünamünde) und eine Reihe kolossaler Hase»bauten, welche der drohenden Versandung des Dünastroms eine Grenze gesetzt haben. Auch das moderne Genossenschaftswesen hat in den Mauern dieser Stadt die erste Pflanzstätte gefunden. Schon in früherer Zeit waren die Männer der Wissenschaft, die Aerzte. Historiker, Advokaten, Natur¬ wissenschaftler und Techniker zu besonderen Vereinen zusammengetreten; seit den letzten Jahren haben sich hier Productions- und Konsumvereine gebildet, eine Handwerkerbildungsgesellschaft, verschiedene Turner-, Schützen-, Feuerwehr- und Sängerverbindungen sind rasch aufeinander gefolgt und so gedeihlich fortgeschrit¬ ten, daß sie bis nach Neval und Windau hin Nachahmung gefunden haben. Aber auch auf den verschiedenen Gebieten geistigen und künstlerischen Le¬ bens hat Riga von jeher eine wichtige Rolle für das baltische Land gespielt. Daß hier beinahe ebenso viel Deutsche bei einander wohnen, als im gesamm- ten übrigen Livland, machte sich von Alters her geltend. Riga war die Wiege der Re¬ formation, unter seinem Schutz wurden die ersten Buchdruckereien gegründet, die ersten Bibliotheken gesammelt und schon im 17. Jahrhunderte periodische Schriften herausgegeben. Hier schlugen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Ideen der Aufklärung und der allgemeinen Menschenrechte die erste Wurzel; an die städtische Domschule wurde bekanntlich 1764 Herder berufen, dessen Gedächtniß durch ein Standbild auf dem Platz der kleinen Waage (jetzt Herderplatz) verewigt worden ist; im Hause des Rathsherrn Behrens hat Ha- mann, der „Magus des Nordens", viele Jahre lang gelebt, Kants „Kritik der reinen Vernunft" wurde bei dem Stadtbuchdrucker Fröhlich im Auftrage eines rigaer Verlegers, des trefflichen Hartknoch, gedruckt. Wenige Jahre später wurde durch die Bemühungen des Geheimrath v. Vietinghof (des Vaters der bekann¬ ten Mystikerin Juliane v. Krüdener) ein stehendes Theater errichtet, das sich so schnell Ruf und Anerkennung zu erobern wußte, daß Schiller ihm den Don Carlos (in seiner ersten, noch in Prosa geschriebenen Version) verlauft»'; 1802 wurde durch den Generalsuperintendenten Carl Gottlob Sonntag, einen Freund Herders und Wielands, die „literarisch-praktische Bürgcrverbindung" ein Verein zur Förderung des Wohlstandes und der Aufklärung der Handwerker und der kleinen Bürger gestiftet. In neuerer Zeit ist es ganz besonders Riga ge¬ wesen, dem das Land den Aufschwung der politischen Presse zu danken hat; die seit neunzig Jahren bestehende „Nigasche Zeitung", eine vornehmlich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/338
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/338>, abgerufen am 27.09.2024.