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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Bürger, vor Allem der Kaufmann. Alt und vornehm erscheint die Stadt auch
äußerlich. Erst vor wenigen Jahren wurden die Wälle, welche den eigentlichen
Stadtkern umgaben und nur all'zu lang einzwängten, geschleift und in Spazier¬
gänge verwandelt. Dieses städtische Centrum sticht noch heute von den neueren
Theilen (den der Nähe der früheren Festung wegen meist aus Holz gebauten Vor¬
städten) in eigenthümlichster Weise ab. Durch enge, in altdeutscher Art winklig-ge¬
wundene Gassen, auf welche zahlreiche Giebelhäuser, mächtige Speicher und
Jahrhunderte alte Dome hinabschauen, zieht ein rühriges, lebhaftes Handels¬
treiben: ein niemals endenwollender Strom hochbeladener Lastwagen wälzt sich
dem Ufer der majestätischen, mit zahlreichen Schiffen bedeckten Dura zu. Jen¬
seit derselben, in der niedrigen, meist in Holz gebauten s. g. Mitauer Vor¬
stadt sieht man Juden. Polen, Russen, kurische und lithauische Bauern eifrig
beschäftigt, immer neue Massen Flachs. Leinsaat und Getreide anzufahren:
längst der gesammten Ostseeküste bis tief nach Lithauen hinein ist der Flachs¬
bau die Haupteinnahme des Landmanns, der häusig nicht mehr Getreide baut,
als er für sein Haus braucht, den Ueberschuß an Zeit und Kräfien aber dem
Anbau und der Bearbeitung dieses Gewächses zuwendet, welches weitaus den
wichtigsten Exportartikel der Häfen von Riga, Pernau und Windau bildet.

An die Ostseite der Rigaer Altstadt schließt sich die weitausgedehnte mos¬
kauer Vorstadt, südlich von der Dura. nördlich von den Sandbergen begrenzt,
seit Jahrhunderten den Sammelplatz russischer Sectirer, deren Vorfahren sich
bereits zu polnischer und schwedischer Zeit vor den Folgen ihres Widerstandes
gegen die Kirchenreform des Metropoliten nitor in den Schutz des Protestan¬
tismus geflüchtet hatten. Von der eigentlichen Stadt durch einen breiten
Gürtel von Baumgängen und mächtige Speicherreihen getrennt, bietet dieser
Stadttheil das in den Ostseeprovinzen sonst unbekannte Bild ächt russischen Lebens.
Hier sind die Deutschen in der Minderzahl, wenngleich an der Spitze der Local-
vttwaltung; in niedrigen, meist grün angestrichenen Holzhäusern Hausen bärtige
Männer, die das nationale rothe Hemd über den Beinkleidern tragen und als
Kleinhändler, Hafenarbeiter. Zimmer- und FabrMeute ihr Leben fristen. Ihrer
Mehrheit nach gehören sie der extremsten Richtung des russischen Schisma, der
"Popenlosen" Secte an: wegen der Toleranz, mit welcher der rigasche Rath sie
in Zeiten der Bedrückung gegen den Verfolgungseifer "rechtgläubiger" Eiferer
geschützt, namentlich ihre priesterlich nicht eingesegneten Ehen anerkannt hat,
sind sie entschiedene Freunde des herrschenden deutschen Elements und gute
Bürger der alten Hansestadt. Während der Sommermonate sammeln sich in
den Straßen dieses entlegenen Quartiers, das mancher Bürger der anderen
Stadttheile kaum einmal im Leben betreten bat. zahllose "Struscnrussen". kleine,
häufig bartlose Gestalten, an dem schmutzigen Schafspelz und dem Filzkegel
auf dem Kopf erkennbar, Männer auf ungeheuren, mit Flachs und Getreide be-


Bürger, vor Allem der Kaufmann. Alt und vornehm erscheint die Stadt auch
äußerlich. Erst vor wenigen Jahren wurden die Wälle, welche den eigentlichen
Stadtkern umgaben und nur all'zu lang einzwängten, geschleift und in Spazier¬
gänge verwandelt. Dieses städtische Centrum sticht noch heute von den neueren
Theilen (den der Nähe der früheren Festung wegen meist aus Holz gebauten Vor¬
städten) in eigenthümlichster Weise ab. Durch enge, in altdeutscher Art winklig-ge¬
wundene Gassen, auf welche zahlreiche Giebelhäuser, mächtige Speicher und
Jahrhunderte alte Dome hinabschauen, zieht ein rühriges, lebhaftes Handels¬
treiben: ein niemals endenwollender Strom hochbeladener Lastwagen wälzt sich
dem Ufer der majestätischen, mit zahlreichen Schiffen bedeckten Dura zu. Jen¬
seit derselben, in der niedrigen, meist in Holz gebauten s. g. Mitauer Vor¬
stadt sieht man Juden. Polen, Russen, kurische und lithauische Bauern eifrig
beschäftigt, immer neue Massen Flachs. Leinsaat und Getreide anzufahren:
längst der gesammten Ostseeküste bis tief nach Lithauen hinein ist der Flachs¬
bau die Haupteinnahme des Landmanns, der häusig nicht mehr Getreide baut,
als er für sein Haus braucht, den Ueberschuß an Zeit und Kräfien aber dem
Anbau und der Bearbeitung dieses Gewächses zuwendet, welches weitaus den
wichtigsten Exportartikel der Häfen von Riga, Pernau und Windau bildet.

An die Ostseite der Rigaer Altstadt schließt sich die weitausgedehnte mos¬
kauer Vorstadt, südlich von der Dura. nördlich von den Sandbergen begrenzt,
seit Jahrhunderten den Sammelplatz russischer Sectirer, deren Vorfahren sich
bereits zu polnischer und schwedischer Zeit vor den Folgen ihres Widerstandes
gegen die Kirchenreform des Metropoliten nitor in den Schutz des Protestan¬
tismus geflüchtet hatten. Von der eigentlichen Stadt durch einen breiten
Gürtel von Baumgängen und mächtige Speicherreihen getrennt, bietet dieser
Stadttheil das in den Ostseeprovinzen sonst unbekannte Bild ächt russischen Lebens.
Hier sind die Deutschen in der Minderzahl, wenngleich an der Spitze der Local-
vttwaltung; in niedrigen, meist grün angestrichenen Holzhäusern Hausen bärtige
Männer, die das nationale rothe Hemd über den Beinkleidern tragen und als
Kleinhändler, Hafenarbeiter. Zimmer- und FabrMeute ihr Leben fristen. Ihrer
Mehrheit nach gehören sie der extremsten Richtung des russischen Schisma, der
„Popenlosen" Secte an: wegen der Toleranz, mit welcher der rigasche Rath sie
in Zeiten der Bedrückung gegen den Verfolgungseifer „rechtgläubiger" Eiferer
geschützt, namentlich ihre priesterlich nicht eingesegneten Ehen anerkannt hat,
sind sie entschiedene Freunde des herrschenden deutschen Elements und gute
Bürger der alten Hansestadt. Während der Sommermonate sammeln sich in
den Straßen dieses entlegenen Quartiers, das mancher Bürger der anderen
Stadttheile kaum einmal im Leben betreten bat. zahllose „Struscnrussen". kleine,
häufig bartlose Gestalten, an dem schmutzigen Schafspelz und dem Filzkegel
auf dem Kopf erkennbar, Männer auf ungeheuren, mit Flachs und Getreide be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/335>, abgerufen am 27.09.2024.