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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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und Engländer die Gelegenheit unbenutzt lassen, Preußen an die noch immer
ungelöste deutsch-dänische Grcnzregulirung in Nordschleswig zu erinnern oder
die Bestimmungen des prager Friedens über das Verhältniß des deutschen
Südens unter "Gesichtspunkte" des europäischen Gleichgewichts d. h. der
Interessen Oesterreichs und Frankreichs zu stellen? Selbst wenn Preußen
sich vor Beschickung der projectirten Versammlung die solidesten Bürgschaften
dafür sicherte, daß dieselbe sich ausschließlich mit Rom und Italien be¬
schäftigen werde, wäre ein Congreß, an welchem die europäischen Mittelstaaten
theilnehmen, eine deutsche Calamität. Das Fiasco, das die süddeutschen Par-
ticularistcn und Ultramontanen in Sachen der Zoll- und Allianzverträge erlit¬
ten haben, wird dieselben nicht verhindern, auf anderen Gebieten Revanche zu
nehmen, und wir haben alle Ursache, ihnen die Gelegenheit zu Experimenten
dieser Art von vornherein zu versperren. Daß ein europäischer Congreß nicht
das Feld sein werde, aus welchem für Frankreichs italienische Politik Lorbeeren
zu holen sind, weiß man in Paris wahrscheinlich ebenso gut, wie diesseit des
Rheins.

Gerade darum liegt die Annahme nahe, Napoleon III. gehe mit dem
Gedanken um, diese Versammlung zu anderen Zwecken als denen der Rettung
des Papstthums auszubeuten, und um Franzosen mit politischen Fragen zu
beschäftigen, die er sich hütet, jetzt bei ihrem wirklichen Namen zu nennen.
Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich überhaupt verstehen, daß und warum
der französische Kaiser sich von einem Congreß Vortheile verspricht. Daß die
innere Lage Frankreichs bedenklich genug ist, um nur durch eine künstliche Ab¬
leitung des Volksgeistes auf auswärtige Angelegenheiten gefristet werden zu
können, dafür mehren sich die Anzeigen täglich. Die Bewegung gegen den
Dctroi, welchen man den Industriellen der in das pariser Weichbild gezogenen
Nachbarorte aufnöthigen will, die Demonstrationen an den Gräbern des Ca-
vaignac und anderer Republikaner, die heftigen Deklamationen der Oppositions¬
presse gegen die völlige Entwürdigung des liberalen Frankreich zu Gunsten der
Curie, die Keckheit endlich, mit weicher die Jugend des Huartior latiir gegen
regierungsfreundliche Lehrer zu demonstriren wagte, -- im einzelnen wollen
diese Symptome zunehmender Unzufriedenheit gegen das Kaiserreich noch nicht
dick sagen; sie bezeugen aber doch, daß der revolutionäre Zündstoff, dessen Vor¬
handensein schon vor Jahresfrist nicht geleugnet werden konnte, nicht abgenom-
wen hat, sondern gewachsen ist, und daß die Mittel, welche man bisher gegen
ihn angewandt hat, nicht mehr verfangen wollen. Es muß mit dem Gefühl,
das der Kaiser selbst für die Bedenklichkeit der Lage seiner Herrschaft hat, ziem¬
lich weit gekommen sein, wenn er sich von Arbciteraufläufen wie denen der
letzten Woche bereits aus der Ruhe schrecken läßt, und wenn er von seinem
Seine-Präfecten zu conseauentem Festhalten an einmal beschlossenen Maßregeln


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und Engländer die Gelegenheit unbenutzt lassen, Preußen an die noch immer
ungelöste deutsch-dänische Grcnzregulirung in Nordschleswig zu erinnern oder
die Bestimmungen des prager Friedens über das Verhältniß des deutschen
Südens unter „Gesichtspunkte" des europäischen Gleichgewichts d. h. der
Interessen Oesterreichs und Frankreichs zu stellen? Selbst wenn Preußen
sich vor Beschickung der projectirten Versammlung die solidesten Bürgschaften
dafür sicherte, daß dieselbe sich ausschließlich mit Rom und Italien be¬
schäftigen werde, wäre ein Congreß, an welchem die europäischen Mittelstaaten
theilnehmen, eine deutsche Calamität. Das Fiasco, das die süddeutschen Par-
ticularistcn und Ultramontanen in Sachen der Zoll- und Allianzverträge erlit¬
ten haben, wird dieselben nicht verhindern, auf anderen Gebieten Revanche zu
nehmen, und wir haben alle Ursache, ihnen die Gelegenheit zu Experimenten
dieser Art von vornherein zu versperren. Daß ein europäischer Congreß nicht
das Feld sein werde, aus welchem für Frankreichs italienische Politik Lorbeeren
zu holen sind, weiß man in Paris wahrscheinlich ebenso gut, wie diesseit des
Rheins.

Gerade darum liegt die Annahme nahe, Napoleon III. gehe mit dem
Gedanken um, diese Versammlung zu anderen Zwecken als denen der Rettung
des Papstthums auszubeuten, und um Franzosen mit politischen Fragen zu
beschäftigen, die er sich hütet, jetzt bei ihrem wirklichen Namen zu nennen.
Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich überhaupt verstehen, daß und warum
der französische Kaiser sich von einem Congreß Vortheile verspricht. Daß die
innere Lage Frankreichs bedenklich genug ist, um nur durch eine künstliche Ab¬
leitung des Volksgeistes auf auswärtige Angelegenheiten gefristet werden zu
können, dafür mehren sich die Anzeigen täglich. Die Bewegung gegen den
Dctroi, welchen man den Industriellen der in das pariser Weichbild gezogenen
Nachbarorte aufnöthigen will, die Demonstrationen an den Gräbern des Ca-
vaignac und anderer Republikaner, die heftigen Deklamationen der Oppositions¬
presse gegen die völlige Entwürdigung des liberalen Frankreich zu Gunsten der
Curie, die Keckheit endlich, mit weicher die Jugend des Huartior latiir gegen
regierungsfreundliche Lehrer zu demonstriren wagte, — im einzelnen wollen
diese Symptome zunehmender Unzufriedenheit gegen das Kaiserreich noch nicht
dick sagen; sie bezeugen aber doch, daß der revolutionäre Zündstoff, dessen Vor¬
handensein schon vor Jahresfrist nicht geleugnet werden konnte, nicht abgenom-
wen hat, sondern gewachsen ist, und daß die Mittel, welche man bisher gegen
ihn angewandt hat, nicht mehr verfangen wollen. Es muß mit dem Gefühl,
das der Kaiser selbst für die Bedenklichkeit der Lage seiner Herrschaft hat, ziem¬
lich weit gekommen sein, wenn er sich von Arbciteraufläufen wie denen der
letzten Woche bereits aus der Ruhe schrecken läßt, und wenn er von seinem
Seine-Präfecten zu conseauentem Festhalten an einmal beschlossenen Maßregeln


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[0323] und Engländer die Gelegenheit unbenutzt lassen, Preußen an die noch immer ungelöste deutsch-dänische Grcnzregulirung in Nordschleswig zu erinnern oder die Bestimmungen des prager Friedens über das Verhältniß des deutschen Südens unter „Gesichtspunkte" des europäischen Gleichgewichts d. h. der Interessen Oesterreichs und Frankreichs zu stellen? Selbst wenn Preußen sich vor Beschickung der projectirten Versammlung die solidesten Bürgschaften dafür sicherte, daß dieselbe sich ausschließlich mit Rom und Italien be¬ schäftigen werde, wäre ein Congreß, an welchem die europäischen Mittelstaaten theilnehmen, eine deutsche Calamität. Das Fiasco, das die süddeutschen Par- ticularistcn und Ultramontanen in Sachen der Zoll- und Allianzverträge erlit¬ ten haben, wird dieselben nicht verhindern, auf anderen Gebieten Revanche zu nehmen, und wir haben alle Ursache, ihnen die Gelegenheit zu Experimenten dieser Art von vornherein zu versperren. Daß ein europäischer Congreß nicht das Feld sein werde, aus welchem für Frankreichs italienische Politik Lorbeeren zu holen sind, weiß man in Paris wahrscheinlich ebenso gut, wie diesseit des Rheins. Gerade darum liegt die Annahme nahe, Napoleon III. gehe mit dem Gedanken um, diese Versammlung zu anderen Zwecken als denen der Rettung des Papstthums auszubeuten, und um Franzosen mit politischen Fragen zu beschäftigen, die er sich hütet, jetzt bei ihrem wirklichen Namen zu nennen. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich überhaupt verstehen, daß und warum der französische Kaiser sich von einem Congreß Vortheile verspricht. Daß die innere Lage Frankreichs bedenklich genug ist, um nur durch eine künstliche Ab¬ leitung des Volksgeistes auf auswärtige Angelegenheiten gefristet werden zu können, dafür mehren sich die Anzeigen täglich. Die Bewegung gegen den Dctroi, welchen man den Industriellen der in das pariser Weichbild gezogenen Nachbarorte aufnöthigen will, die Demonstrationen an den Gräbern des Ca- vaignac und anderer Republikaner, die heftigen Deklamationen der Oppositions¬ presse gegen die völlige Entwürdigung des liberalen Frankreich zu Gunsten der Curie, die Keckheit endlich, mit weicher die Jugend des Huartior latiir gegen regierungsfreundliche Lehrer zu demonstriren wagte, — im einzelnen wollen diese Symptome zunehmender Unzufriedenheit gegen das Kaiserreich noch nicht dick sagen; sie bezeugen aber doch, daß der revolutionäre Zündstoff, dessen Vor¬ handensein schon vor Jahresfrist nicht geleugnet werden konnte, nicht abgenom- wen hat, sondern gewachsen ist, und daß die Mittel, welche man bisher gegen ihn angewandt hat, nicht mehr verfangen wollen. Es muß mit dem Gefühl, das der Kaiser selbst für die Bedenklichkeit der Lage seiner Herrschaft hat, ziem¬ lich weit gekommen sein, wenn er sich von Arbciteraufläufen wie denen der letzten Woche bereits aus der Ruhe schrecken läßt, und wenn er von seinem Seine-Präfecten zu conseauentem Festhalten an einmal beschlossenen Maßregeln 41*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/323>, abgerufen am 20.10.2024.