Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Glaubensfreiheit factische Geltung erlangt hatte, stand ihnen drohend gegenüber;
wer der griech.-orth. Kirche angehört, kann dieselbe nicht wieder verlassen, selbst die
Kinder aus gemischten Ehen gehören unwiderruflich dieser Kirche an. Nachdem alle
Bitten undVorstellungen der inihrenGewissenGeängstetenkeinGehör gefunden hatten,
organisirte sich ein passiver Widerstand, dessen Gewalt noch heute nicht ge¬
brochen ist. Zehntausende von Männern, Weibern und Kindern erklärten feierlich,
keine Gewalt der Erde werde sie jemals dazu zwingen, eine griechische Kirche zu
besuchen oder an den Amtshandlungen derselben Theil zunehmen: sie besuchten
fortan nur noch lutherische Gottesdienste, und da kein lutherischer Prediger bei
schwerer Strafe sacramcntale Handlungen an Gliedern der griechischen Kirche
vornehmen darf, drängten sie sich heimlich oder unter falschen Namen zum
Abendmahl; die Taufen an ihren Kindern vollzogen sie selbst nach lutherischem
Ritus, ihre Ehen wurden durch keinen Geistlichen eingesegnet, sondern einfach durch
gegenseitiges Gelöbniß der Treue vor Zeugen abgeschlossen. Alle Mittel der Ge¬
walt und der Ueberredung haben sich vergeblich erwiesen und die Negierung
hat schließlich auch davon Abstand nehmen müssen Personen, die zuwider den
Vorschriften der griechischen Kirche jahrlang nicht zum Abendmahl gehen, mit
Criminalstrafen zu belegen. Was aus diesen Ausgestoßenen werden soll, weiß
Niemand im Lande zu sagen; der Freisinn der Regierung welche die Confession
der in gemischten Ehen erzeugten Kinder neuerdings (1868) der Entscheidung
der Aeltern überlassen und den Taufzwang für außer der Ehe geborene Kinder
aufgehoben hat, -- findet an der Eifersucht der griechisch-orthoxen Kirche,
welche von ihrem "Eigenthum" nicht lassen will, eine unüberspringliche Schranke
und die ihres angeblichen Liberalismus wegen vielgerühmte moskauer Demo-
cratie, entblödet sich nicht, die Regierung wegen der ihrer Concessionen an
die vom Zeitgeist geforderte Gewissensfreiheit zu verlästern und den Fanatismus
des griechisch-russischen Klerus immer wieder anzufachen. Wie ein Alp ruht
dieser entsetzliche Zustand der Dinge auf dem Gewissen des Landes -- da sich
alle Versuche des Adels und der Geistlichkeit zur Retablirung der traktaten-
mäßigen Gewissensfreiheit als vergeblich erwiesen haben und jedes Kind im
Lande weiß, daß der Glaubensdruck der auf die Konvertiten ausgeübt wird,
nicht von dem Kaiser und nicht von der Negierung ausgeht, sondern eine
Forderung des russischen Volkswillens ist, ist nichts übriggeblieben, als die
Unterwerfung unter den Druck eines unabänderlichen Verhängnisses, das schwei¬
gend getragen werden muß.

Ueber die äußeren Zustände des baltischen Festlandes haben wir uns der
Hauptsache nach orientirt; von dem geistigen Leben und seinen Hauptträgern,
der Universität Dorpat und dem Bürgerthum der Städte, wird in einem
folgenden Abschnitt ausführlich die Rede sein. Es bleibt übrig der Inseln
des rigaschen Meerbusens zu gedenken, die in den Kreis baltisch-deutschen Cultur-


Glaubensfreiheit factische Geltung erlangt hatte, stand ihnen drohend gegenüber;
wer der griech.-orth. Kirche angehört, kann dieselbe nicht wieder verlassen, selbst die
Kinder aus gemischten Ehen gehören unwiderruflich dieser Kirche an. Nachdem alle
Bitten undVorstellungen der inihrenGewissenGeängstetenkeinGehör gefunden hatten,
organisirte sich ein passiver Widerstand, dessen Gewalt noch heute nicht ge¬
brochen ist. Zehntausende von Männern, Weibern und Kindern erklärten feierlich,
keine Gewalt der Erde werde sie jemals dazu zwingen, eine griechische Kirche zu
besuchen oder an den Amtshandlungen derselben Theil zunehmen: sie besuchten
fortan nur noch lutherische Gottesdienste, und da kein lutherischer Prediger bei
schwerer Strafe sacramcntale Handlungen an Gliedern der griechischen Kirche
vornehmen darf, drängten sie sich heimlich oder unter falschen Namen zum
Abendmahl; die Taufen an ihren Kindern vollzogen sie selbst nach lutherischem
Ritus, ihre Ehen wurden durch keinen Geistlichen eingesegnet, sondern einfach durch
gegenseitiges Gelöbniß der Treue vor Zeugen abgeschlossen. Alle Mittel der Ge¬
walt und der Ueberredung haben sich vergeblich erwiesen und die Negierung
hat schließlich auch davon Abstand nehmen müssen Personen, die zuwider den
Vorschriften der griechischen Kirche jahrlang nicht zum Abendmahl gehen, mit
Criminalstrafen zu belegen. Was aus diesen Ausgestoßenen werden soll, weiß
Niemand im Lande zu sagen; der Freisinn der Regierung welche die Confession
der in gemischten Ehen erzeugten Kinder neuerdings (1868) der Entscheidung
der Aeltern überlassen und den Taufzwang für außer der Ehe geborene Kinder
aufgehoben hat, — findet an der Eifersucht der griechisch-orthoxen Kirche,
welche von ihrem „Eigenthum" nicht lassen will, eine unüberspringliche Schranke
und die ihres angeblichen Liberalismus wegen vielgerühmte moskauer Demo-
cratie, entblödet sich nicht, die Regierung wegen der ihrer Concessionen an
die vom Zeitgeist geforderte Gewissensfreiheit zu verlästern und den Fanatismus
des griechisch-russischen Klerus immer wieder anzufachen. Wie ein Alp ruht
dieser entsetzliche Zustand der Dinge auf dem Gewissen des Landes — da sich
alle Versuche des Adels und der Geistlichkeit zur Retablirung der traktaten-
mäßigen Gewissensfreiheit als vergeblich erwiesen haben und jedes Kind im
Lande weiß, daß der Glaubensdruck der auf die Konvertiten ausgeübt wird,
nicht von dem Kaiser und nicht von der Negierung ausgeht, sondern eine
Forderung des russischen Volkswillens ist, ist nichts übriggeblieben, als die
Unterwerfung unter den Druck eines unabänderlichen Verhängnisses, das schwei¬
gend getragen werden muß.

Ueber die äußeren Zustände des baltischen Festlandes haben wir uns der
Hauptsache nach orientirt; von dem geistigen Leben und seinen Hauptträgern,
der Universität Dorpat und dem Bürgerthum der Städte, wird in einem
folgenden Abschnitt ausführlich die Rede sein. Es bleibt übrig der Inseln
des rigaschen Meerbusens zu gedenken, die in den Kreis baltisch-deutschen Cultur-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191985"/>
            <p xml:id="ID_629" prev="#ID_628"> Glaubensfreiheit factische Geltung erlangt hatte, stand ihnen drohend gegenüber;<lb/>
wer der griech.-orth. Kirche angehört, kann dieselbe nicht wieder verlassen, selbst die<lb/>
Kinder aus gemischten Ehen gehören unwiderruflich dieser Kirche an. Nachdem alle<lb/>
Bitten undVorstellungen der inihrenGewissenGeängstetenkeinGehör gefunden hatten,<lb/>
organisirte sich ein passiver Widerstand, dessen Gewalt noch heute nicht ge¬<lb/>
brochen ist. Zehntausende von Männern, Weibern und Kindern erklärten feierlich,<lb/>
keine Gewalt der Erde werde sie jemals dazu zwingen, eine griechische Kirche zu<lb/>
besuchen oder an den Amtshandlungen derselben Theil zunehmen: sie besuchten<lb/>
fortan nur noch lutherische Gottesdienste, und da kein lutherischer Prediger bei<lb/>
schwerer Strafe sacramcntale Handlungen an Gliedern der griechischen Kirche<lb/>
vornehmen darf, drängten sie sich heimlich oder unter falschen Namen zum<lb/>
Abendmahl; die Taufen an ihren Kindern vollzogen sie selbst nach lutherischem<lb/>
Ritus, ihre Ehen wurden durch keinen Geistlichen eingesegnet, sondern einfach durch<lb/>
gegenseitiges Gelöbniß der Treue vor Zeugen abgeschlossen. Alle Mittel der Ge¬<lb/>
walt und der Ueberredung haben sich vergeblich erwiesen und die Negierung<lb/>
hat schließlich auch davon Abstand nehmen müssen Personen, die zuwider den<lb/>
Vorschriften der griechischen Kirche jahrlang nicht zum Abendmahl gehen, mit<lb/>
Criminalstrafen zu belegen. Was aus diesen Ausgestoßenen werden soll, weiß<lb/>
Niemand im Lande zu sagen; der Freisinn der Regierung welche die Confession<lb/>
der in gemischten Ehen erzeugten Kinder neuerdings (1868) der Entscheidung<lb/>
der Aeltern überlassen und den Taufzwang für außer der Ehe geborene Kinder<lb/>
aufgehoben hat, &#x2014; findet an der Eifersucht der griechisch-orthoxen Kirche,<lb/>
welche von ihrem &#x201E;Eigenthum" nicht lassen will, eine unüberspringliche Schranke<lb/>
und die ihres angeblichen Liberalismus wegen vielgerühmte moskauer Demo-<lb/>
cratie, entblödet sich nicht, die Regierung wegen der ihrer Concessionen an<lb/>
die vom Zeitgeist geforderte Gewissensfreiheit zu verlästern und den Fanatismus<lb/>
des griechisch-russischen Klerus immer wieder anzufachen. Wie ein Alp ruht<lb/>
dieser entsetzliche Zustand der Dinge auf dem Gewissen des Landes &#x2014; da sich<lb/>
alle Versuche des Adels und der Geistlichkeit zur Retablirung der traktaten-<lb/>
mäßigen Gewissensfreiheit als vergeblich erwiesen haben und jedes Kind im<lb/>
Lande weiß, daß der Glaubensdruck der auf die Konvertiten ausgeübt wird,<lb/>
nicht von dem Kaiser und nicht von der Negierung ausgeht, sondern eine<lb/>
Forderung des russischen Volkswillens ist, ist nichts übriggeblieben, als die<lb/>
Unterwerfung unter den Druck eines unabänderlichen Verhängnisses, das schwei¬<lb/>
gend getragen werden muß.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_630" next="#ID_631"> Ueber die äußeren Zustände des baltischen Festlandes haben wir uns der<lb/>
Hauptsache nach orientirt; von dem geistigen Leben und seinen Hauptträgern,<lb/>
der Universität Dorpat und dem Bürgerthum der Städte, wird in einem<lb/>
folgenden Abschnitt ausführlich die Rede sein. Es bleibt übrig der Inseln<lb/>
des rigaschen Meerbusens zu gedenken, die in den Kreis baltisch-deutschen Cultur-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0224] Glaubensfreiheit factische Geltung erlangt hatte, stand ihnen drohend gegenüber; wer der griech.-orth. Kirche angehört, kann dieselbe nicht wieder verlassen, selbst die Kinder aus gemischten Ehen gehören unwiderruflich dieser Kirche an. Nachdem alle Bitten undVorstellungen der inihrenGewissenGeängstetenkeinGehör gefunden hatten, organisirte sich ein passiver Widerstand, dessen Gewalt noch heute nicht ge¬ brochen ist. Zehntausende von Männern, Weibern und Kindern erklärten feierlich, keine Gewalt der Erde werde sie jemals dazu zwingen, eine griechische Kirche zu besuchen oder an den Amtshandlungen derselben Theil zunehmen: sie besuchten fortan nur noch lutherische Gottesdienste, und da kein lutherischer Prediger bei schwerer Strafe sacramcntale Handlungen an Gliedern der griechischen Kirche vornehmen darf, drängten sie sich heimlich oder unter falschen Namen zum Abendmahl; die Taufen an ihren Kindern vollzogen sie selbst nach lutherischem Ritus, ihre Ehen wurden durch keinen Geistlichen eingesegnet, sondern einfach durch gegenseitiges Gelöbniß der Treue vor Zeugen abgeschlossen. Alle Mittel der Ge¬ walt und der Ueberredung haben sich vergeblich erwiesen und die Negierung hat schließlich auch davon Abstand nehmen müssen Personen, die zuwider den Vorschriften der griechischen Kirche jahrlang nicht zum Abendmahl gehen, mit Criminalstrafen zu belegen. Was aus diesen Ausgestoßenen werden soll, weiß Niemand im Lande zu sagen; der Freisinn der Regierung welche die Confession der in gemischten Ehen erzeugten Kinder neuerdings (1868) der Entscheidung der Aeltern überlassen und den Taufzwang für außer der Ehe geborene Kinder aufgehoben hat, — findet an der Eifersucht der griechisch-orthoxen Kirche, welche von ihrem „Eigenthum" nicht lassen will, eine unüberspringliche Schranke und die ihres angeblichen Liberalismus wegen vielgerühmte moskauer Demo- cratie, entblödet sich nicht, die Regierung wegen der ihrer Concessionen an die vom Zeitgeist geforderte Gewissensfreiheit zu verlästern und den Fanatismus des griechisch-russischen Klerus immer wieder anzufachen. Wie ein Alp ruht dieser entsetzliche Zustand der Dinge auf dem Gewissen des Landes — da sich alle Versuche des Adels und der Geistlichkeit zur Retablirung der traktaten- mäßigen Gewissensfreiheit als vergeblich erwiesen haben und jedes Kind im Lande weiß, daß der Glaubensdruck der auf die Konvertiten ausgeübt wird, nicht von dem Kaiser und nicht von der Negierung ausgeht, sondern eine Forderung des russischen Volkswillens ist, ist nichts übriggeblieben, als die Unterwerfung unter den Druck eines unabänderlichen Verhängnisses, das schwei¬ gend getragen werden muß. Ueber die äußeren Zustände des baltischen Festlandes haben wir uns der Hauptsache nach orientirt; von dem geistigen Leben und seinen Hauptträgern, der Universität Dorpat und dem Bürgerthum der Städte, wird in einem folgenden Abschnitt ausführlich die Rede sein. Es bleibt übrig der Inseln des rigaschen Meerbusens zu gedenken, die in den Kreis baltisch-deutschen Cultur-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/224
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/224>, abgerufen am 20.10.2024.