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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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grundverschieden ist von der anmaßenden Junkerhoffahrt des märkischen "Herrn
von" oder des ärmern livländischen Edelmanns, dessen jüngere Söhne jenem
häusig nachahmen. Aus den Kreisen der Ritterschaft "von Kurland und Pillen"
ist von vornherein jede Ostentation und Großthuerei verbannt, -- die Vor¬
nehmheit thut sich in knappen, derben, häufig schlichten, immer sicheren und selbst¬
bewußten Lebens- und Umgangsformen kiznd, -- charakteristisch genug werden
im gewöhnlichen Leben keine Titel gebraucht, heißt der Edelmann, mag er
simpler Baron sein oder es zum Kanzler- und Oberburggrafenamt gebracht
haben, immer nur "Herr von". Dem Bürgerlichen begegnet man höflich und
ungebunden -- da man sich nie vergeben zu können glaubt, hat man es nicht
nöthig anspruchsvoll aufzutreten oder sein Uebergewicht äußerlich fühlbar zu
machen; den hochgestellten Beamten läßt man gern fühlen, daß es für den kurländi-
schen Edelmann keine vornehmen Leute giebt, und daß die Zugehörigkeit zur Ritter¬
schaft der höchste Rang ist, zudem es der Sterbliche überhaupt bringen kann--mit dem
Bauern endlich wird in derber oft herrischer, in der Regel aber väterlich-herzlicher
Weise verkehrt. Die geniale Charakteristik, welche Hippel in den beiden ersten Bänden
seiner "Lebensläufe" von der Art des kurischen Edelmanns entwirft,- ist der
Hauptsache nach heute so zutreffend, wie vor hundert Jahren. Der Kurländer
ist allen Fragen des Lebens gegenüber, in erster Reihe, Practiker und Naturalist,
nichts ist seiner Natur so fremd und antipathisch, wie die graue Theorie --
aber er besitzt in der That ein practisches Geschick, das den Nagel auf den
Kopf trifft, ohne lange an der Wand herumgchämmert zu haben. In der
freien Natur aufgewachsen, von bequemen Verhältnissen getragen, bis in das
späteste Alter unermüdlicher Jäger und Reiter, mit unverwüstlichem Humor
und gesunder Laune begabt, giebt er sich gern das Ansehen des leichtsinnigen,
breitspurigen Lebemanns; hinter dieser derben Schale birgt sich aber öfter als
der Fremde glauben möchte, ein tüchtiger edler Kern. Mancher rauhe Waid¬
mann, von dem man annehmen möchte, er habe nie über seine nächste Um¬
gebung hinausgedacht, entpuppt sich bei näherer Bekanntschaft als tüchtiger
Jurist, scharfsichtiger Politiker oder belesener Kenner historischer und literarischer
Dinge. Das "Ms Lire yue Mi'trttrv" ist in diesem Lande so alt hergebracht,
gilt so allgemein für das Merkmal wahrer Aristocratie, daß jeder sich scheut,
mehr sein zu wollen, als simpler Kurländer, daß die feineren Züge des Charakters
und der Bildung gleichsam absichtlich zurückgedrängt werden, um ihren Inhaber
nicht dem Verdacht der Pedanterie oder Sentimentalität auszusetzen.

Wesentlich dem Edelmann gleich geartet, wenn auch äußerlich von dem¬
selben verschieden, ist der bürgerliche Kurländer, mag er praktischer Jurist, Ge¬
lehrter oder Geistlicher sein. Selbst der ehrsame, streng orthodoxe Landpastor,
der für die sittliche und religiöse Bildung seiner Bauern mit unermüdlichem
Eifer thätig ist, verleugnet die Eigenthümlichkeiten der kurischen Natur nur selten;


grundverschieden ist von der anmaßenden Junkerhoffahrt des märkischen „Herrn
von" oder des ärmern livländischen Edelmanns, dessen jüngere Söhne jenem
häusig nachahmen. Aus den Kreisen der Ritterschaft „von Kurland und Pillen"
ist von vornherein jede Ostentation und Großthuerei verbannt, — die Vor¬
nehmheit thut sich in knappen, derben, häufig schlichten, immer sicheren und selbst¬
bewußten Lebens- und Umgangsformen kiznd, — charakteristisch genug werden
im gewöhnlichen Leben keine Titel gebraucht, heißt der Edelmann, mag er
simpler Baron sein oder es zum Kanzler- und Oberburggrafenamt gebracht
haben, immer nur „Herr von". Dem Bürgerlichen begegnet man höflich und
ungebunden — da man sich nie vergeben zu können glaubt, hat man es nicht
nöthig anspruchsvoll aufzutreten oder sein Uebergewicht äußerlich fühlbar zu
machen; den hochgestellten Beamten läßt man gern fühlen, daß es für den kurländi-
schen Edelmann keine vornehmen Leute giebt, und daß die Zugehörigkeit zur Ritter¬
schaft der höchste Rang ist, zudem es der Sterbliche überhaupt bringen kann—mit dem
Bauern endlich wird in derber oft herrischer, in der Regel aber väterlich-herzlicher
Weise verkehrt. Die geniale Charakteristik, welche Hippel in den beiden ersten Bänden
seiner „Lebensläufe" von der Art des kurischen Edelmanns entwirft,- ist der
Hauptsache nach heute so zutreffend, wie vor hundert Jahren. Der Kurländer
ist allen Fragen des Lebens gegenüber, in erster Reihe, Practiker und Naturalist,
nichts ist seiner Natur so fremd und antipathisch, wie die graue Theorie —
aber er besitzt in der That ein practisches Geschick, das den Nagel auf den
Kopf trifft, ohne lange an der Wand herumgchämmert zu haben. In der
freien Natur aufgewachsen, von bequemen Verhältnissen getragen, bis in das
späteste Alter unermüdlicher Jäger und Reiter, mit unverwüstlichem Humor
und gesunder Laune begabt, giebt er sich gern das Ansehen des leichtsinnigen,
breitspurigen Lebemanns; hinter dieser derben Schale birgt sich aber öfter als
der Fremde glauben möchte, ein tüchtiger edler Kern. Mancher rauhe Waid¬
mann, von dem man annehmen möchte, er habe nie über seine nächste Um¬
gebung hinausgedacht, entpuppt sich bei näherer Bekanntschaft als tüchtiger
Jurist, scharfsichtiger Politiker oder belesener Kenner historischer und literarischer
Dinge. Das „Ms Lire yue Mi'trttrv" ist in diesem Lande so alt hergebracht,
gilt so allgemein für das Merkmal wahrer Aristocratie, daß jeder sich scheut,
mehr sein zu wollen, als simpler Kurländer, daß die feineren Züge des Charakters
und der Bildung gleichsam absichtlich zurückgedrängt werden, um ihren Inhaber
nicht dem Verdacht der Pedanterie oder Sentimentalität auszusetzen.

Wesentlich dem Edelmann gleich geartet, wenn auch äußerlich von dem¬
selben verschieden, ist der bürgerliche Kurländer, mag er praktischer Jurist, Ge¬
lehrter oder Geistlicher sein. Selbst der ehrsame, streng orthodoxe Landpastor,
der für die sittliche und religiöse Bildung seiner Bauern mit unermüdlichem
Eifer thätig ist, verleugnet die Eigenthümlichkeiten der kurischen Natur nur selten;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/216>, abgerufen am 20.10.2024.