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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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tief unter dem Bildungsniveau des größeren, rein lettischen Landcstheils. Während
im übrigen Kurland feine anderen als lutherische Landkirchen zu finden sind,
zählt das Oberland zahlreiche Katholiken, Arkaden, Bekenner der griech.-orthod.
Konfession und russische Aligläubige, die aus dem benachbarten Witepsk und
aus Polnisch.Livland eingewandert und zu einem verwilderten Mischvolk ver¬
schmolzen sind, das das lettische Element überwuchert hat und dem nachgesagt
Wird, daß es Pferdediebstahl, Straßenrand und Branntwcinschmuggcl allen
übrigen Beschäftigungen vorziehe. Geschäftsleben und Handel sind hier fast
ausschließlich in Händen von Juden.") die zu polnischer Zeit nach Kurland
eingewandert, die Mehrzahl der Städte des Landes übervölkert und -- dank
der Armuth, Rohheit und Unbildung, die sie aus Polen mitbrachten -- demo-
ralisirt haben. Nirgend aber werden sie zahlreicher vorgefunden als im Ober¬
lands, dessen wilder, sitten- und gesetzloser Charakter ihrer Betriebsamkeit und
Geschmeidigkeit nicht entbehren kann und in welchem sie als Händler, Makler,
Hehler, Factoren, Branntweinbrenner u. s. w. eine wichtige, in alle Lebens-
verhältnisse eingreifende Rolle spielen. Der abweichende Charakter dieses ver¬
kommenen Winkels theilt sich zuweilen selbst dem Adel mit, der sonst ein rein deut¬
sches Gepräge trägt, der oberländischc Baron hat in vielen Fällen etwas
von der Wüstheit und Willkürlichkeit des polnischen Pan mit dem er stete Berüh¬
rungen nicht vermeiden kann und die Frische und Derbheit der kurischen
Natur artet hier häusig zu Rohheit und ungezähmter Wildheit aus.

Die Stammeseigenthümlichkcitcn der baltischen Deutschen haben sich nirgend
so scharf ausgebildet, in keiner der anderen Provinzen so charakteristische Formen
""genommen Wie in Kurland und ganz besonders bei dem kurischen Adel. Es
'se ein wunderliches Geschlecht, das die stolzen und doch so einfachen Barone
dieses Landes repräsentiren. Während der Einfluß des reicher und stärker ent¬
wickelten Städtelebens und das frühere Erlöschen der politischen Selbständigkeit
den Livländer mehr und mehr mit des Gedankens Blässe angekränkelt und zum
Durchschnittsdeutschen gemacht haben, circulirt das frische, heiße Blut, das die
ursprünglichen Colonisten dieses Landes mitbrachten, in den Adern des Kur-
länders noch heute mit ungebändigter' Kraft und Wärme. Unversiegbare
Genußsucht und mächtige Arbeitskraft wohnen hier noch dicht neben einander
und hindern die ruhige, normal- philiströse Entwickelung, die sonst die Stärke
des Deutschen ausmaclt -- das Leben verbraust zwischen gewaltsamer,
sprunghaft gesteigerter Anstrengung und frischem, häusig üppigem Genuß. Die
Gewohnheit jahrhundertlanger Herrschaft und unbestrittener Oberherrlichkeit
ivcbt dem kurländischen Edelmann ein Gefühl der eigenen Würde und Bedeutung,
das jede äußere Beschränkung wie ein Unrecht empfindet und doch wieder



) In Lo. und Estland leben nur sehr wenige Juden.

tief unter dem Bildungsniveau des größeren, rein lettischen Landcstheils. Während
im übrigen Kurland feine anderen als lutherische Landkirchen zu finden sind,
zählt das Oberland zahlreiche Katholiken, Arkaden, Bekenner der griech.-orthod.
Konfession und russische Aligläubige, die aus dem benachbarten Witepsk und
aus Polnisch.Livland eingewandert und zu einem verwilderten Mischvolk ver¬
schmolzen sind, das das lettische Element überwuchert hat und dem nachgesagt
Wird, daß es Pferdediebstahl, Straßenrand und Branntwcinschmuggcl allen
übrigen Beschäftigungen vorziehe. Geschäftsleben und Handel sind hier fast
ausschließlich in Händen von Juden.") die zu polnischer Zeit nach Kurland
eingewandert, die Mehrzahl der Städte des Landes übervölkert und — dank
der Armuth, Rohheit und Unbildung, die sie aus Polen mitbrachten — demo-
ralisirt haben. Nirgend aber werden sie zahlreicher vorgefunden als im Ober¬
lands, dessen wilder, sitten- und gesetzloser Charakter ihrer Betriebsamkeit und
Geschmeidigkeit nicht entbehren kann und in welchem sie als Händler, Makler,
Hehler, Factoren, Branntweinbrenner u. s. w. eine wichtige, in alle Lebens-
verhältnisse eingreifende Rolle spielen. Der abweichende Charakter dieses ver¬
kommenen Winkels theilt sich zuweilen selbst dem Adel mit, der sonst ein rein deut¬
sches Gepräge trägt, der oberländischc Baron hat in vielen Fällen etwas
von der Wüstheit und Willkürlichkeit des polnischen Pan mit dem er stete Berüh¬
rungen nicht vermeiden kann und die Frische und Derbheit der kurischen
Natur artet hier häusig zu Rohheit und ungezähmter Wildheit aus.

Die Stammeseigenthümlichkcitcn der baltischen Deutschen haben sich nirgend
so scharf ausgebildet, in keiner der anderen Provinzen so charakteristische Formen
""genommen Wie in Kurland und ganz besonders bei dem kurischen Adel. Es
'se ein wunderliches Geschlecht, das die stolzen und doch so einfachen Barone
dieses Landes repräsentiren. Während der Einfluß des reicher und stärker ent¬
wickelten Städtelebens und das frühere Erlöschen der politischen Selbständigkeit
den Livländer mehr und mehr mit des Gedankens Blässe angekränkelt und zum
Durchschnittsdeutschen gemacht haben, circulirt das frische, heiße Blut, das die
ursprünglichen Colonisten dieses Landes mitbrachten, in den Adern des Kur-
länders noch heute mit ungebändigter' Kraft und Wärme. Unversiegbare
Genußsucht und mächtige Arbeitskraft wohnen hier noch dicht neben einander
und hindern die ruhige, normal- philiströse Entwickelung, die sonst die Stärke
des Deutschen ausmaclt — das Leben verbraust zwischen gewaltsamer,
sprunghaft gesteigerter Anstrengung und frischem, häusig üppigem Genuß. Die
Gewohnheit jahrhundertlanger Herrschaft und unbestrittener Oberherrlichkeit
ivcbt dem kurländischen Edelmann ein Gefühl der eigenen Würde und Bedeutung,
das jede äußere Beschränkung wie ein Unrecht empfindet und doch wieder



) In Lo. und Estland leben nur sehr wenige Juden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/215>, abgerufen am 20.10.2024.