Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

endlich, die als Dienstmagd in die Stadt gewandert oder als dienende Spiel¬
gefährtin mit den Töchtern des Barons aufgezogen worden ist -- sie alle
ändern mit dem Beruf zugleich die Nationalität und werden binnen Jahr und
Tag zu Deutschen; selbst der reiche lettische Hofbesitzer, der seinen Pachthof
zum freien Eigenthum erworben hat und sich mit Stolz einen Bauern nennt,
der absichtlich keine andere Sprache als die seines Volks redet, sieht es gern,
wenn seine Kinder deutsch lernen. Er läßt sich's ein Stück Geld kosten,
damit seine Söhne bei dem Schulmeister deutschen Privatunterricht erhalten,
oder er entschließt sich, eine "Gouvernante" ins Haus zu nehmen und dieser
das Werk der Germanisirung seiner Töchter zu übertragen. Die Begriffe "Herr"
und "Deutscher" sind in diesem Lande so vollständig identificirt, daß die Sprache
des Ehlen nur einen Ausdruck für beide (Saxa) hat und daß die Germanisation
für den einzigen Weg gilt, der zu wahrer Bildung und höherer Stellung in
der Gesellschaft führt. "Rustios tu von eilf Kio rox" (Bauer, du wirst hier
niemals König sein) rief im Jahre 1343 ahnungsvoll ein Litthauerfürsi dem letti¬
schen Heerführer zu, der ihn zu einem gemeinsamen Vernichtungskriege gegen
die Deutschen einlud -- und dieses Wort hat sich im eminenten Sinne erfüllt;
Nicht-Deutscher und Bauer sind Bezeichnungen, die'bis heute einander decken und selbst
um Bauer im modernen Sinne des Worts zu werden, muß der Urbewohner
des baltischen Landes zum Deutschen werden. Wohl nennt der auf seinen
"Culturberuf" stolze ländliche Müller deutschen Geschlechts oder der städtische
Handwerksmeister, der seinen Stammbaum aus einem Hinterhause des Berliner
Vogtlandes ableitet, das Geschlecht derer, die im Umwandlungsproceß begriffen
sind und ihre lettischen Namen noch nicht gehörig germanisirt haben, spöttisch
Halb- oder Wachholderdeutsche, wohl geschieht es zuweilen, daß der alte Baron
seinem jungen Verwalter, dessen hochmüthige Halbbildung den Ursprung aus
einem ehrlichen Bauernhause verleugnen will, durch eine lettische Anrede "den
Standpunkt klar macht" -- im großen und ganzen thut der baltische Deutsche
aber das Mögliche, um die Verschmelzung mit den beiden UrVölkern, auf die
er angewiesen ist, zu fördern. Heute feststellen zu wollen, wie viele Deutsche
in den drei Provinzen lettischen oder chemischen Ursprungs sind, und welche
Letten und Ehlen bereits die deutsche Sprache angenommen haben, wäre ein
unmögliches und -- wie uns scheint -- überflüssiges Unternehmen. "Die
Sprache", so heißt es in einer geistreichen Abhandlung über die Nationalitäten¬
frage in den Ostseeprovinzen, welche die baltische Monatsschrift im Mai 1864
veröffentlichte, "die Sprache ist nur eines der die Nationalität constituirenden
Elemente; zwar ein sehr wichtiges, aber nicht das an und für sich entscheidende.
Hier ist es die Religion, dort der Staatszusammenhang, anderwärts noch an¬
deres, was die gegebenen sprachlichen Differenzen überwiegt und als unwesent¬
lich zurücktreten läßt. Wie ein Volk seine Sprache behalten und zugleich in


endlich, die als Dienstmagd in die Stadt gewandert oder als dienende Spiel¬
gefährtin mit den Töchtern des Barons aufgezogen worden ist — sie alle
ändern mit dem Beruf zugleich die Nationalität und werden binnen Jahr und
Tag zu Deutschen; selbst der reiche lettische Hofbesitzer, der seinen Pachthof
zum freien Eigenthum erworben hat und sich mit Stolz einen Bauern nennt,
der absichtlich keine andere Sprache als die seines Volks redet, sieht es gern,
wenn seine Kinder deutsch lernen. Er läßt sich's ein Stück Geld kosten,
damit seine Söhne bei dem Schulmeister deutschen Privatunterricht erhalten,
oder er entschließt sich, eine „Gouvernante" ins Haus zu nehmen und dieser
das Werk der Germanisirung seiner Töchter zu übertragen. Die Begriffe „Herr"
und „Deutscher" sind in diesem Lande so vollständig identificirt, daß die Sprache
des Ehlen nur einen Ausdruck für beide (Saxa) hat und daß die Germanisation
für den einzigen Weg gilt, der zu wahrer Bildung und höherer Stellung in
der Gesellschaft führt. „Rustios tu von eilf Kio rox" (Bauer, du wirst hier
niemals König sein) rief im Jahre 1343 ahnungsvoll ein Litthauerfürsi dem letti¬
schen Heerführer zu, der ihn zu einem gemeinsamen Vernichtungskriege gegen
die Deutschen einlud — und dieses Wort hat sich im eminenten Sinne erfüllt;
Nicht-Deutscher und Bauer sind Bezeichnungen, die'bis heute einander decken und selbst
um Bauer im modernen Sinne des Worts zu werden, muß der Urbewohner
des baltischen Landes zum Deutschen werden. Wohl nennt der auf seinen
„Culturberuf" stolze ländliche Müller deutschen Geschlechts oder der städtische
Handwerksmeister, der seinen Stammbaum aus einem Hinterhause des Berliner
Vogtlandes ableitet, das Geschlecht derer, die im Umwandlungsproceß begriffen
sind und ihre lettischen Namen noch nicht gehörig germanisirt haben, spöttisch
Halb- oder Wachholderdeutsche, wohl geschieht es zuweilen, daß der alte Baron
seinem jungen Verwalter, dessen hochmüthige Halbbildung den Ursprung aus
einem ehrlichen Bauernhause verleugnen will, durch eine lettische Anrede „den
Standpunkt klar macht" — im großen und ganzen thut der baltische Deutsche
aber das Mögliche, um die Verschmelzung mit den beiden UrVölkern, auf die
er angewiesen ist, zu fördern. Heute feststellen zu wollen, wie viele Deutsche
in den drei Provinzen lettischen oder chemischen Ursprungs sind, und welche
Letten und Ehlen bereits die deutsche Sprache angenommen haben, wäre ein
unmögliches und — wie uns scheint — überflüssiges Unternehmen. „Die
Sprache", so heißt es in einer geistreichen Abhandlung über die Nationalitäten¬
frage in den Ostseeprovinzen, welche die baltische Monatsschrift im Mai 1864
veröffentlichte, „die Sprache ist nur eines der die Nationalität constituirenden
Elemente; zwar ein sehr wichtiges, aber nicht das an und für sich entscheidende.
Hier ist es die Religion, dort der Staatszusammenhang, anderwärts noch an¬
deres, was die gegebenen sprachlichen Differenzen überwiegt und als unwesent¬
lich zurücktreten läßt. Wie ein Volk seine Sprache behalten und zugleich in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191971"/>
            <p xml:id="ID_606" prev="#ID_605" next="#ID_607"> endlich, die als Dienstmagd in die Stadt gewandert oder als dienende Spiel¬<lb/>
gefährtin mit den Töchtern des Barons aufgezogen worden ist &#x2014; sie alle<lb/>
ändern mit dem Beruf zugleich die Nationalität und werden binnen Jahr und<lb/>
Tag zu Deutschen; selbst der reiche lettische Hofbesitzer, der seinen Pachthof<lb/>
zum freien Eigenthum erworben hat und sich mit Stolz einen Bauern nennt,<lb/>
der absichtlich keine andere Sprache als die seines Volks redet, sieht es gern,<lb/>
wenn seine Kinder deutsch lernen.  Er läßt sich's ein Stück Geld kosten,<lb/>
damit seine Söhne bei dem Schulmeister deutschen Privatunterricht erhalten,<lb/>
oder er entschließt sich, eine &#x201E;Gouvernante" ins Haus zu nehmen und dieser<lb/>
das Werk der Germanisirung seiner Töchter zu übertragen. Die Begriffe &#x201E;Herr"<lb/>
und &#x201E;Deutscher" sind in diesem Lande so vollständig identificirt, daß die Sprache<lb/>
des Ehlen nur einen Ausdruck für beide (Saxa) hat und daß die Germanisation<lb/>
für den einzigen Weg gilt, der zu wahrer Bildung und höherer Stellung in<lb/>
der Gesellschaft führt. &#x201E;Rustios tu von eilf Kio rox" (Bauer, du wirst hier<lb/>
niemals König sein) rief im Jahre 1343 ahnungsvoll ein Litthauerfürsi dem letti¬<lb/>
schen Heerführer zu, der ihn zu einem gemeinsamen Vernichtungskriege gegen<lb/>
die Deutschen einlud &#x2014; und dieses Wort hat sich im eminenten Sinne erfüllt;<lb/>
Nicht-Deutscher und Bauer sind Bezeichnungen, die'bis heute einander decken und selbst<lb/>
um Bauer im modernen Sinne des Worts zu werden, muß der Urbewohner<lb/>
des baltischen Landes zum Deutschen werden.  Wohl nennt der auf seinen<lb/>
&#x201E;Culturberuf" stolze ländliche Müller deutschen Geschlechts oder der städtische<lb/>
Handwerksmeister, der seinen Stammbaum aus einem Hinterhause des Berliner<lb/>
Vogtlandes ableitet, das Geschlecht derer, die im Umwandlungsproceß begriffen<lb/>
sind und ihre lettischen Namen noch nicht gehörig germanisirt haben, spöttisch<lb/>
Halb- oder Wachholderdeutsche, wohl geschieht es zuweilen, daß der alte Baron<lb/>
seinem jungen Verwalter, dessen hochmüthige Halbbildung den Ursprung aus<lb/>
einem ehrlichen Bauernhause verleugnen will, durch eine lettische Anrede &#x201E;den<lb/>
Standpunkt klar macht" &#x2014; im großen und ganzen thut der baltische Deutsche<lb/>
aber das Mögliche, um die Verschmelzung mit den beiden UrVölkern, auf die<lb/>
er angewiesen ist, zu fördern.  Heute feststellen zu wollen, wie viele Deutsche<lb/>
in den drei Provinzen lettischen oder chemischen Ursprungs sind, und welche<lb/>
Letten und Ehlen bereits die deutsche Sprache angenommen haben, wäre ein<lb/>
unmögliches und &#x2014; wie uns scheint &#x2014; überflüssiges Unternehmen. &#x201E;Die<lb/>
Sprache", so heißt es in einer geistreichen Abhandlung über die Nationalitäten¬<lb/>
frage in den Ostseeprovinzen, welche die baltische Monatsschrift im Mai 1864<lb/>
veröffentlichte, &#x201E;die Sprache ist nur eines der die Nationalität constituirenden<lb/>
Elemente; zwar ein sehr wichtiges, aber nicht das an und für sich entscheidende.<lb/>
Hier ist es die Religion, dort der Staatszusammenhang, anderwärts noch an¬<lb/>
deres, was die gegebenen sprachlichen Differenzen überwiegt und als unwesent¬<lb/>
lich zurücktreten läßt.  Wie ein Volk seine Sprache behalten und zugleich in</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0210] endlich, die als Dienstmagd in die Stadt gewandert oder als dienende Spiel¬ gefährtin mit den Töchtern des Barons aufgezogen worden ist — sie alle ändern mit dem Beruf zugleich die Nationalität und werden binnen Jahr und Tag zu Deutschen; selbst der reiche lettische Hofbesitzer, der seinen Pachthof zum freien Eigenthum erworben hat und sich mit Stolz einen Bauern nennt, der absichtlich keine andere Sprache als die seines Volks redet, sieht es gern, wenn seine Kinder deutsch lernen. Er läßt sich's ein Stück Geld kosten, damit seine Söhne bei dem Schulmeister deutschen Privatunterricht erhalten, oder er entschließt sich, eine „Gouvernante" ins Haus zu nehmen und dieser das Werk der Germanisirung seiner Töchter zu übertragen. Die Begriffe „Herr" und „Deutscher" sind in diesem Lande so vollständig identificirt, daß die Sprache des Ehlen nur einen Ausdruck für beide (Saxa) hat und daß die Germanisation für den einzigen Weg gilt, der zu wahrer Bildung und höherer Stellung in der Gesellschaft führt. „Rustios tu von eilf Kio rox" (Bauer, du wirst hier niemals König sein) rief im Jahre 1343 ahnungsvoll ein Litthauerfürsi dem letti¬ schen Heerführer zu, der ihn zu einem gemeinsamen Vernichtungskriege gegen die Deutschen einlud — und dieses Wort hat sich im eminenten Sinne erfüllt; Nicht-Deutscher und Bauer sind Bezeichnungen, die'bis heute einander decken und selbst um Bauer im modernen Sinne des Worts zu werden, muß der Urbewohner des baltischen Landes zum Deutschen werden. Wohl nennt der auf seinen „Culturberuf" stolze ländliche Müller deutschen Geschlechts oder der städtische Handwerksmeister, der seinen Stammbaum aus einem Hinterhause des Berliner Vogtlandes ableitet, das Geschlecht derer, die im Umwandlungsproceß begriffen sind und ihre lettischen Namen noch nicht gehörig germanisirt haben, spöttisch Halb- oder Wachholderdeutsche, wohl geschieht es zuweilen, daß der alte Baron seinem jungen Verwalter, dessen hochmüthige Halbbildung den Ursprung aus einem ehrlichen Bauernhause verleugnen will, durch eine lettische Anrede „den Standpunkt klar macht" — im großen und ganzen thut der baltische Deutsche aber das Mögliche, um die Verschmelzung mit den beiden UrVölkern, auf die er angewiesen ist, zu fördern. Heute feststellen zu wollen, wie viele Deutsche in den drei Provinzen lettischen oder chemischen Ursprungs sind, und welche Letten und Ehlen bereits die deutsche Sprache angenommen haben, wäre ein unmögliches und — wie uns scheint — überflüssiges Unternehmen. „Die Sprache", so heißt es in einer geistreichen Abhandlung über die Nationalitäten¬ frage in den Ostseeprovinzen, welche die baltische Monatsschrift im Mai 1864 veröffentlichte, „die Sprache ist nur eines der die Nationalität constituirenden Elemente; zwar ein sehr wichtiges, aber nicht das an und für sich entscheidende. Hier ist es die Religion, dort der Staatszusammenhang, anderwärts noch an¬ deres, was die gegebenen sprachlichen Differenzen überwiegt und als unwesent¬ lich zurücktreten läßt. Wie ein Volk seine Sprache behalten und zugleich in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/210
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/210>, abgerufen am 27.09.2024.