Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Livland allein sechzig zählte, unter Wellenbergs Friedensscepter zu üppiger
Blüthe, wohl tobte die unbändige Lebenslust und sinnliche Frische der Coloni-
sten in endlosen Festen, deren Wüstheit alles überbot, was die wilde Genu߬
sucht der damaligen Zeit kannte, aber das Herz des Landes war todtirank. Zu
vollster Schroffheit ausgebildet, verhinderte das Feudalsystem jode gesunde staat¬
liche Entwickelung; indessen Russen, Schweden, Polen und Litthauer kampfge¬
rüstet und eroberungslustig vor den Thoren des Landes standen, vcrbrauste die
Kraft der Söhne desselben in wüstem Genuß und endlosem Hader; jedes Mannes
Hand war gegen die des Nachbarn und allein die mächtige Heldengestalt des
Meisters bildete einen Mittelpunkt für die widerstreitenden Interessen. Mit ihm
sank auch der alte, innerlich ausgehöhlte Bundesstaat ins Grab. Als die durch
Tegetmeyer und Knöpken rasch verbreitete Reformation siegreich ins Land ge¬
drungen war und den Fortbestand der alten Lebensformen unmöglich gemacht
hatte, war es allein Plettenberg gewesen, der ihre zerstörende Kraft zu bän¬
digenvermochte, über seinem Grabe aberbrach das morsche Gebäude krachend zu¬
sammen. Ihre wichtigste Aufgabe hatte die hcermeisterliche Zeit (mit diesem
Ausdrucke wird in Livland herkömmlich die Unabhängigkeitsperiode bezeichnet)
ungelöst gelassen; der Stolz der Kolonisten, der sich an dem thörichten Bewußt¬
sein sonnte, daß auf baltischer Erde die Begriffe "Herr" und "Deutscher" iden¬
tisch seien, hatte vor der Germanisation der Ureinwohner des Landes zurückge¬
scheut, diese ihrer alten Barbarei überlassen und auf die tiefste Stufe mensch¬
lichen Daseins herabgedrückt. In dumpfer Verzweiflung trug der träge, apa¬
thische Leite das Joch strenger Leibeigenschaft, das ihm die Eroberer, päpstlichen
Bullen und kaiserlichen Decreten zum Trotz aufgebürdet hatten, während der
störrische Trotz des Ehlen zähneknirschend an den Ketten rüttelte, in welche 'ihn
der Sieger geschlagen. Das stolze Gebäude an der Ostsee war auf schwanken¬
den Grund gebaut, und was die Ahnherren zu thun unterlassen, konnten die
Enkel nicht mehr oder doch nicht rechtzeitig nachholen.

Neben der Reformation war der Einfall eines von Iwan dem Schrecklichen
nach Livland gesandten russisch-tartarischen Heeres die äußere Veranlassung zum
Zusammensturz der alten Verhältnisse. Bald war die gesammte nördliche Hälfte
des Landes in den Händen des furchtbaren Feindes. Es war kein gewöhnlicher
Krieg den die Livländer gegen die Tatarenhorden zu führen hatten, welche der
furchtbare Zcrar zur Unterwerfung des wehrlosen Landes ausgesandt hatte; nicht
dem 30jährigen Kriege, allein jenen Mongolenüberschwemmungen kann er ver¬
glichen werden, welche unter Tschinginschan die uralte Cultur blühender mittel¬
asiatischer Länder bis auf die Spur ausgerottet, und so furchtbar gehaust hatten,
daß ein Menschenalter lang nur Trümmer und Leichenhaufen den Weg bezeich¬
nen, welchen die Barbaren genommen. Bis heute hat die Bevölkerungsziffer
Livland nicht wieder die Höhe erreicht, welche sie vor jenem Einfall besessen.


Livland allein sechzig zählte, unter Wellenbergs Friedensscepter zu üppiger
Blüthe, wohl tobte die unbändige Lebenslust und sinnliche Frische der Coloni-
sten in endlosen Festen, deren Wüstheit alles überbot, was die wilde Genu߬
sucht der damaligen Zeit kannte, aber das Herz des Landes war todtirank. Zu
vollster Schroffheit ausgebildet, verhinderte das Feudalsystem jode gesunde staat¬
liche Entwickelung; indessen Russen, Schweden, Polen und Litthauer kampfge¬
rüstet und eroberungslustig vor den Thoren des Landes standen, vcrbrauste die
Kraft der Söhne desselben in wüstem Genuß und endlosem Hader; jedes Mannes
Hand war gegen die des Nachbarn und allein die mächtige Heldengestalt des
Meisters bildete einen Mittelpunkt für die widerstreitenden Interessen. Mit ihm
sank auch der alte, innerlich ausgehöhlte Bundesstaat ins Grab. Als die durch
Tegetmeyer und Knöpken rasch verbreitete Reformation siegreich ins Land ge¬
drungen war und den Fortbestand der alten Lebensformen unmöglich gemacht
hatte, war es allein Plettenberg gewesen, der ihre zerstörende Kraft zu bän¬
digenvermochte, über seinem Grabe aberbrach das morsche Gebäude krachend zu¬
sammen. Ihre wichtigste Aufgabe hatte die hcermeisterliche Zeit (mit diesem
Ausdrucke wird in Livland herkömmlich die Unabhängigkeitsperiode bezeichnet)
ungelöst gelassen; der Stolz der Kolonisten, der sich an dem thörichten Bewußt¬
sein sonnte, daß auf baltischer Erde die Begriffe „Herr" und „Deutscher" iden¬
tisch seien, hatte vor der Germanisation der Ureinwohner des Landes zurückge¬
scheut, diese ihrer alten Barbarei überlassen und auf die tiefste Stufe mensch¬
lichen Daseins herabgedrückt. In dumpfer Verzweiflung trug der träge, apa¬
thische Leite das Joch strenger Leibeigenschaft, das ihm die Eroberer, päpstlichen
Bullen und kaiserlichen Decreten zum Trotz aufgebürdet hatten, während der
störrische Trotz des Ehlen zähneknirschend an den Ketten rüttelte, in welche 'ihn
der Sieger geschlagen. Das stolze Gebäude an der Ostsee war auf schwanken¬
den Grund gebaut, und was die Ahnherren zu thun unterlassen, konnten die
Enkel nicht mehr oder doch nicht rechtzeitig nachholen.

Neben der Reformation war der Einfall eines von Iwan dem Schrecklichen
nach Livland gesandten russisch-tartarischen Heeres die äußere Veranlassung zum
Zusammensturz der alten Verhältnisse. Bald war die gesammte nördliche Hälfte
des Landes in den Händen des furchtbaren Feindes. Es war kein gewöhnlicher
Krieg den die Livländer gegen die Tatarenhorden zu führen hatten, welche der
furchtbare Zcrar zur Unterwerfung des wehrlosen Landes ausgesandt hatte; nicht
dem 30jährigen Kriege, allein jenen Mongolenüberschwemmungen kann er ver¬
glichen werden, welche unter Tschinginschan die uralte Cultur blühender mittel¬
asiatischer Länder bis auf die Spur ausgerottet, und so furchtbar gehaust hatten,
daß ein Menschenalter lang nur Trümmer und Leichenhaufen den Weg bezeich¬
nen, welchen die Barbaren genommen. Bis heute hat die Bevölkerungsziffer
Livland nicht wieder die Höhe erreicht, welche sie vor jenem Einfall besessen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0175" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191936"/>
            <p xml:id="ID_481" prev="#ID_480"> Livland allein sechzig zählte, unter Wellenbergs Friedensscepter zu üppiger<lb/>
Blüthe, wohl tobte die unbändige Lebenslust und sinnliche Frische der Coloni-<lb/>
sten in endlosen Festen, deren Wüstheit alles überbot, was die wilde Genu߬<lb/>
sucht der damaligen Zeit kannte, aber das Herz des Landes war todtirank. Zu<lb/>
vollster Schroffheit ausgebildet, verhinderte das Feudalsystem jode gesunde staat¬<lb/>
liche Entwickelung; indessen Russen, Schweden, Polen und Litthauer kampfge¬<lb/>
rüstet und eroberungslustig vor den Thoren des Landes standen, vcrbrauste die<lb/>
Kraft der Söhne desselben in wüstem Genuß und endlosem Hader; jedes Mannes<lb/>
Hand war gegen die des Nachbarn und allein die mächtige Heldengestalt des<lb/>
Meisters bildete einen Mittelpunkt für die widerstreitenden Interessen. Mit ihm<lb/>
sank auch der alte, innerlich ausgehöhlte Bundesstaat ins Grab. Als die durch<lb/>
Tegetmeyer und Knöpken rasch verbreitete Reformation siegreich ins Land ge¬<lb/>
drungen war und den Fortbestand der alten Lebensformen unmöglich gemacht<lb/>
hatte, war es allein Plettenberg gewesen, der ihre zerstörende Kraft zu bän¬<lb/>
digenvermochte, über seinem Grabe aberbrach das morsche Gebäude krachend zu¬<lb/>
sammen. Ihre wichtigste Aufgabe hatte die hcermeisterliche Zeit (mit diesem<lb/>
Ausdrucke wird in Livland herkömmlich die Unabhängigkeitsperiode bezeichnet)<lb/>
ungelöst gelassen; der Stolz der Kolonisten, der sich an dem thörichten Bewußt¬<lb/>
sein sonnte, daß auf baltischer Erde die Begriffe &#x201E;Herr" und &#x201E;Deutscher" iden¬<lb/>
tisch seien, hatte vor der Germanisation der Ureinwohner des Landes zurückge¬<lb/>
scheut, diese ihrer alten Barbarei überlassen und auf die tiefste Stufe mensch¬<lb/>
lichen Daseins herabgedrückt. In dumpfer Verzweiflung trug der träge, apa¬<lb/>
thische Leite das Joch strenger Leibeigenschaft, das ihm die Eroberer, päpstlichen<lb/>
Bullen und kaiserlichen Decreten zum Trotz aufgebürdet hatten, während der<lb/>
störrische Trotz des Ehlen zähneknirschend an den Ketten rüttelte, in welche 'ihn<lb/>
der Sieger geschlagen. Das stolze Gebäude an der Ostsee war auf schwanken¬<lb/>
den Grund gebaut, und was die Ahnherren zu thun unterlassen, konnten die<lb/>
Enkel nicht mehr oder doch nicht rechtzeitig nachholen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_482" next="#ID_483"> Neben der Reformation war der Einfall eines von Iwan dem Schrecklichen<lb/>
nach Livland gesandten russisch-tartarischen Heeres die äußere Veranlassung zum<lb/>
Zusammensturz der alten Verhältnisse. Bald war die gesammte nördliche Hälfte<lb/>
des Landes in den Händen des furchtbaren Feindes. Es war kein gewöhnlicher<lb/>
Krieg den die Livländer gegen die Tatarenhorden zu führen hatten, welche der<lb/>
furchtbare Zcrar zur Unterwerfung des wehrlosen Landes ausgesandt hatte; nicht<lb/>
dem 30jährigen Kriege, allein jenen Mongolenüberschwemmungen kann er ver¬<lb/>
glichen werden, welche unter Tschinginschan die uralte Cultur blühender mittel¬<lb/>
asiatischer Länder bis auf die Spur ausgerottet, und so furchtbar gehaust hatten,<lb/>
daß ein Menschenalter lang nur Trümmer und Leichenhaufen den Weg bezeich¬<lb/>
nen, welchen die Barbaren genommen. Bis heute hat die Bevölkerungsziffer<lb/>
Livland nicht wieder die Höhe erreicht, welche sie vor jenem Einfall besessen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0175] Livland allein sechzig zählte, unter Wellenbergs Friedensscepter zu üppiger Blüthe, wohl tobte die unbändige Lebenslust und sinnliche Frische der Coloni- sten in endlosen Festen, deren Wüstheit alles überbot, was die wilde Genu߬ sucht der damaligen Zeit kannte, aber das Herz des Landes war todtirank. Zu vollster Schroffheit ausgebildet, verhinderte das Feudalsystem jode gesunde staat¬ liche Entwickelung; indessen Russen, Schweden, Polen und Litthauer kampfge¬ rüstet und eroberungslustig vor den Thoren des Landes standen, vcrbrauste die Kraft der Söhne desselben in wüstem Genuß und endlosem Hader; jedes Mannes Hand war gegen die des Nachbarn und allein die mächtige Heldengestalt des Meisters bildete einen Mittelpunkt für die widerstreitenden Interessen. Mit ihm sank auch der alte, innerlich ausgehöhlte Bundesstaat ins Grab. Als die durch Tegetmeyer und Knöpken rasch verbreitete Reformation siegreich ins Land ge¬ drungen war und den Fortbestand der alten Lebensformen unmöglich gemacht hatte, war es allein Plettenberg gewesen, der ihre zerstörende Kraft zu bän¬ digenvermochte, über seinem Grabe aberbrach das morsche Gebäude krachend zu¬ sammen. Ihre wichtigste Aufgabe hatte die hcermeisterliche Zeit (mit diesem Ausdrucke wird in Livland herkömmlich die Unabhängigkeitsperiode bezeichnet) ungelöst gelassen; der Stolz der Kolonisten, der sich an dem thörichten Bewußt¬ sein sonnte, daß auf baltischer Erde die Begriffe „Herr" und „Deutscher" iden¬ tisch seien, hatte vor der Germanisation der Ureinwohner des Landes zurückge¬ scheut, diese ihrer alten Barbarei überlassen und auf die tiefste Stufe mensch¬ lichen Daseins herabgedrückt. In dumpfer Verzweiflung trug der träge, apa¬ thische Leite das Joch strenger Leibeigenschaft, das ihm die Eroberer, päpstlichen Bullen und kaiserlichen Decreten zum Trotz aufgebürdet hatten, während der störrische Trotz des Ehlen zähneknirschend an den Ketten rüttelte, in welche 'ihn der Sieger geschlagen. Das stolze Gebäude an der Ostsee war auf schwanken¬ den Grund gebaut, und was die Ahnherren zu thun unterlassen, konnten die Enkel nicht mehr oder doch nicht rechtzeitig nachholen. Neben der Reformation war der Einfall eines von Iwan dem Schrecklichen nach Livland gesandten russisch-tartarischen Heeres die äußere Veranlassung zum Zusammensturz der alten Verhältnisse. Bald war die gesammte nördliche Hälfte des Landes in den Händen des furchtbaren Feindes. Es war kein gewöhnlicher Krieg den die Livländer gegen die Tatarenhorden zu führen hatten, welche der furchtbare Zcrar zur Unterwerfung des wehrlosen Landes ausgesandt hatte; nicht dem 30jährigen Kriege, allein jenen Mongolenüberschwemmungen kann er ver¬ glichen werden, welche unter Tschinginschan die uralte Cultur blühender mittel¬ asiatischer Länder bis auf die Spur ausgerottet, und so furchtbar gehaust hatten, daß ein Menschenalter lang nur Trümmer und Leichenhaufen den Weg bezeich¬ nen, welchen die Barbaren genommen. Bis heute hat die Bevölkerungsziffer Livland nicht wieder die Höhe erreicht, welche sie vor jenem Einfall besessen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/175
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/175>, abgerufen am 27.09.2024.