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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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zösischen Volksehre. Das alte Frankreich der fleißigen und ehrbaren Bürger
ist noch nicht ganz untergegangen und was von diesem übriggeblieben, strömt
in immer wachsender Fluth in das Lager der Opposition. Die Unzufrieden¬
heit, welche heute die französischen Staatsmänner aus ihrer Ruhe aufstört und
in ihren weiteren Wirkungen den Frieden des Welttheils gefährdet, ist wesent¬
lich verschieden von jener krampfhaften einer fliegenden Fieberhitze vergleichbaren
Unruhe, welche dem Verbote der Neformbankette folgte; sie ist ihrem Wesen
nach ein tiefgewurzelter sittlicher Unwille über eine Negierung, die von der De¬
moralisation des Volkes lebt. Der angebliche Verlust der europäischen Macht¬
stellung Frankreichs zufolge der preußischen Siege vom Sommer 1866 ist aller¬
dings die Veranlassung zu dem Erwachen des französischen Selbstgefühls gewe¬
sen; fällt aber nicht mit dem Aerger um den Verlust dieses Selbstgefühls
und mit der bloßen Nationaleitelkeit zusammen. -- Hat man Gelegen¬
heit mit wirklich gebildeten, sittlich ernsten Franzosen in Berührung zu
kommen, so wird man sich leicht davon überzeugen, daß die glorreiche Erhe¬
bung des deutschen und preußischen Nationalgefühls, das Bild der Con-
centration Deutschlands um eine große, würdige Aufgabe nicht sowohl die fran¬
zösische Eigenliebe und Eitelkeit, als das französische Gewissen ge¬
troffen und die Erinnerung an die besseren Tage wachgerufen hat, deren
dieses Volk sich wohl rühmen darf. Jede Parallele zwischen den Zuständen
diesseit und denen jenseit des Rheins färbt die Stirn des französischen Pa¬
trioten, der sein besseres Theil aus dem Sumpf der neuesten Aera gerettet hat,
mit einer Schamröthe, die auf bloße Eitelkeit zurückzuführen wir nicht den
Muth haben, und an dem Schmerz, mit dem ein namhafter übrigens arti-bis-
marckischer Publicisi der französischen Hauptstadt dem Schreiber dieser Zeilen
dazu Glück wünschte, heute kein Pariser, sondern ein Bewohner norddeutschen
Bundeslandes zu sein, hat sicher ein größerer Theil der Nation Antheil, als
man hüben annimmt und drüben eingesteht. Die Fesselung des Volkswillens
durch eine Staatsform, die nur dem Namen nach vom Absolutismus verschieden
ist, die Vergeudung des Staatsvermögens in nutzlosen Prachtbauten und kost¬
spieligen Expeditionen, die Erstickung aller edleren Regungen des nationalen
Geistes in dem Taumel entwürdigender Orgien, vor allem der Verfall der öf¬
fentlichen Sittlichkeit und die Zerrüttung des Familienlebens sind Schäden,
die in den mittleren Schichten der Gesellschaft seit lange schmerzlich empfunden
wurden: seit der Mantel der französischen Machtstellung von ihnen abgerissen
ist, werden sie öffentlich eingestanden und die oberflächlichste Berührung mit
Pariser Bürgern von altem Schlage oder mit Leuten aus der Provinz reicht
dazu hin, den Fremden, der durch die Straßen von Paris gegangen, mit der
Ueberzeugung zu erfüllen, daß es so nicht mehr lange fortgehen kann, daß ein
Umschwung der Verhältnisse unausbleiblich bevorsteht. Was irgend Empfindung


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zösischen Volksehre. Das alte Frankreich der fleißigen und ehrbaren Bürger
ist noch nicht ganz untergegangen und was von diesem übriggeblieben, strömt
in immer wachsender Fluth in das Lager der Opposition. Die Unzufrieden¬
heit, welche heute die französischen Staatsmänner aus ihrer Ruhe aufstört und
in ihren weiteren Wirkungen den Frieden des Welttheils gefährdet, ist wesent¬
lich verschieden von jener krampfhaften einer fliegenden Fieberhitze vergleichbaren
Unruhe, welche dem Verbote der Neformbankette folgte; sie ist ihrem Wesen
nach ein tiefgewurzelter sittlicher Unwille über eine Negierung, die von der De¬
moralisation des Volkes lebt. Der angebliche Verlust der europäischen Macht¬
stellung Frankreichs zufolge der preußischen Siege vom Sommer 1866 ist aller¬
dings die Veranlassung zu dem Erwachen des französischen Selbstgefühls gewe¬
sen; fällt aber nicht mit dem Aerger um den Verlust dieses Selbstgefühls
und mit der bloßen Nationaleitelkeit zusammen. — Hat man Gelegen¬
heit mit wirklich gebildeten, sittlich ernsten Franzosen in Berührung zu
kommen, so wird man sich leicht davon überzeugen, daß die glorreiche Erhe¬
bung des deutschen und preußischen Nationalgefühls, das Bild der Con-
centration Deutschlands um eine große, würdige Aufgabe nicht sowohl die fran¬
zösische Eigenliebe und Eitelkeit, als das französische Gewissen ge¬
troffen und die Erinnerung an die besseren Tage wachgerufen hat, deren
dieses Volk sich wohl rühmen darf. Jede Parallele zwischen den Zuständen
diesseit und denen jenseit des Rheins färbt die Stirn des französischen Pa¬
trioten, der sein besseres Theil aus dem Sumpf der neuesten Aera gerettet hat,
mit einer Schamröthe, die auf bloße Eitelkeit zurückzuführen wir nicht den
Muth haben, und an dem Schmerz, mit dem ein namhafter übrigens arti-bis-
marckischer Publicisi der französischen Hauptstadt dem Schreiber dieser Zeilen
dazu Glück wünschte, heute kein Pariser, sondern ein Bewohner norddeutschen
Bundeslandes zu sein, hat sicher ein größerer Theil der Nation Antheil, als
man hüben annimmt und drüben eingesteht. Die Fesselung des Volkswillens
durch eine Staatsform, die nur dem Namen nach vom Absolutismus verschieden
ist, die Vergeudung des Staatsvermögens in nutzlosen Prachtbauten und kost¬
spieligen Expeditionen, die Erstickung aller edleren Regungen des nationalen
Geistes in dem Taumel entwürdigender Orgien, vor allem der Verfall der öf¬
fentlichen Sittlichkeit und die Zerrüttung des Familienlebens sind Schäden,
die in den mittleren Schichten der Gesellschaft seit lange schmerzlich empfunden
wurden: seit der Mantel der französischen Machtstellung von ihnen abgerissen
ist, werden sie öffentlich eingestanden und die oberflächlichste Berührung mit
Pariser Bürgern von altem Schlage oder mit Leuten aus der Provinz reicht
dazu hin, den Fremden, der durch die Straßen von Paris gegangen, mit der
Ueberzeugung zu erfüllen, daß es so nicht mehr lange fortgehen kann, daß ein
Umschwung der Verhältnisse unausbleiblich bevorsteht. Was irgend Empfindung


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[0159] zösischen Volksehre. Das alte Frankreich der fleißigen und ehrbaren Bürger ist noch nicht ganz untergegangen und was von diesem übriggeblieben, strömt in immer wachsender Fluth in das Lager der Opposition. Die Unzufrieden¬ heit, welche heute die französischen Staatsmänner aus ihrer Ruhe aufstört und in ihren weiteren Wirkungen den Frieden des Welttheils gefährdet, ist wesent¬ lich verschieden von jener krampfhaften einer fliegenden Fieberhitze vergleichbaren Unruhe, welche dem Verbote der Neformbankette folgte; sie ist ihrem Wesen nach ein tiefgewurzelter sittlicher Unwille über eine Negierung, die von der De¬ moralisation des Volkes lebt. Der angebliche Verlust der europäischen Macht¬ stellung Frankreichs zufolge der preußischen Siege vom Sommer 1866 ist aller¬ dings die Veranlassung zu dem Erwachen des französischen Selbstgefühls gewe¬ sen; fällt aber nicht mit dem Aerger um den Verlust dieses Selbstgefühls und mit der bloßen Nationaleitelkeit zusammen. — Hat man Gelegen¬ heit mit wirklich gebildeten, sittlich ernsten Franzosen in Berührung zu kommen, so wird man sich leicht davon überzeugen, daß die glorreiche Erhe¬ bung des deutschen und preußischen Nationalgefühls, das Bild der Con- centration Deutschlands um eine große, würdige Aufgabe nicht sowohl die fran¬ zösische Eigenliebe und Eitelkeit, als das französische Gewissen ge¬ troffen und die Erinnerung an die besseren Tage wachgerufen hat, deren dieses Volk sich wohl rühmen darf. Jede Parallele zwischen den Zuständen diesseit und denen jenseit des Rheins färbt die Stirn des französischen Pa¬ trioten, der sein besseres Theil aus dem Sumpf der neuesten Aera gerettet hat, mit einer Schamröthe, die auf bloße Eitelkeit zurückzuführen wir nicht den Muth haben, und an dem Schmerz, mit dem ein namhafter übrigens arti-bis- marckischer Publicisi der französischen Hauptstadt dem Schreiber dieser Zeilen dazu Glück wünschte, heute kein Pariser, sondern ein Bewohner norddeutschen Bundeslandes zu sein, hat sicher ein größerer Theil der Nation Antheil, als man hüben annimmt und drüben eingesteht. Die Fesselung des Volkswillens durch eine Staatsform, die nur dem Namen nach vom Absolutismus verschieden ist, die Vergeudung des Staatsvermögens in nutzlosen Prachtbauten und kost¬ spieligen Expeditionen, die Erstickung aller edleren Regungen des nationalen Geistes in dem Taumel entwürdigender Orgien, vor allem der Verfall der öf¬ fentlichen Sittlichkeit und die Zerrüttung des Familienlebens sind Schäden, die in den mittleren Schichten der Gesellschaft seit lange schmerzlich empfunden wurden: seit der Mantel der französischen Machtstellung von ihnen abgerissen ist, werden sie öffentlich eingestanden und die oberflächlichste Berührung mit Pariser Bürgern von altem Schlage oder mit Leuten aus der Provinz reicht dazu hin, den Fremden, der durch die Straßen von Paris gegangen, mit der Ueberzeugung zu erfüllen, daß es so nicht mehr lange fortgehen kann, daß ein Umschwung der Verhältnisse unausbleiblich bevorsteht. Was irgend Empfindung 20 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/159>, abgerufen am 27.09.2024.