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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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strohenden Einbinde irgendein Bilderwerk vermuthete, wird erschrecken bei dem
Anblick mathematischer Formeln, classischer Citate und philosophischer Eroitc¬
rungen. Auch die Freunde der Belletristik werden in der Völker fluthendem
Gedränge an ihren Salonpoeten kalt und gleichgiltig vorüberwandern.

Denn wer Heuer nach Paris reist, will sehen. Selbst der Gelehrte läßt
die Wissenschaft zu Hause und entnimmt bei seinem literanschcn Gewissensrath,
dem Buchhändler, nur den "Bädeker" oder ein andres der vielen Reisehand¬
bücher, welche alljährlich so sicher wie der Storch die Ankunft des Frühjahrs
verkünden. Und sollte er versäumt haben, für die langweiligen Stunden der
Eisenbahnfahrt sich Lesestoff anzuschaffen, so kauft er das Vergessene bei dem
fliegenden Buchhändler der Bahnhöfe: Bücher mit piquanten Titel und lang¬
weiligem Inhalt, Zehngroschenromane, deren Verwicklungen unter dem Schwanken
des Wagens nicht leiden, Bücher, welche das moderne Babylon bei Tag und
Nacht, unter und über der Erde, in allen Schichten der Gesellschaft betrachten,
billige Bücher, die der Buchbinder schon beschnitten, die man ohne Gewissens¬
bisse verliert oder sogar als unnützen Ballast für die Bibliothek des nächsten
Bahnwärters durch den Wagenschlag hinauswirft.

So zeigt auch das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel ein durch die
Zeit verändertes Gesicht und während die Verleger der Reisebücher schon ihr
rothgebnndenes schweres Geschütz hinaussandten, sind manche erst bei den Vor¬
bereitungen für den -- friedlichen? -- Svmmerseldzug in Frankreich. I. Rodenberg
verspricht im Verein mit Andern "Paris bei Sonnenschein und Lampenlicht" zu
betrachten und Wachenhusen stellt "Weltausstellungsbilder" in Auesicht. Viele
werden nachfolgen.

Wie es aber trotz der bisherigen Aussicht in eine friedliche Zukunft, in der
jüngsten Vergangenheit im Innern unseres Volkes stürmisch herging, würde
uns, wenn wir es nicht aus eigner Erfahrung wüßten, die Brochurcnliteratur
zeigen. Der innere Ausbau dessen, was die Kanonen von Königsgrätz ermög¬
licht, ist deshalb nicht mühelos, weil er ohne Geschützfeuer vor sich geht. Und
zwar ebenso nördlich wie südlich vom Main. Im Norden stellenweise wider¬
williges Sichfügen in die straffen Grenzen des Bundesstaates, im Süden un¬
stetes Umhertasten der öffentlichen Meinung und das Gefühl der Schwachheit,
bis die neueste Zeit die Bündnisse Bayerns, Ladens und Würtembergs mit
Norddeutschland enthüllte. Aber noch ist die Zeit der Schwabenstreiche nicht
ganz vorüber. Mit stillem Unmuth scheint es der Anwohner des Nesenbaches
zu tragen, daß er nicht mehr für sich selber da steht ganz allein, und nun
erst wird er Brochüren brauchen, sich mit seinem Standpunkt auszusöhnen.

Mit Preußen und dem norddeutschen Bunde, mit dem Parlament und der
Zukunft Gesammtdeulschlands beschäftigen sich die Flugschriften wieder eifriger,
darunter einzelne mit zartparticularistischcm Schmerzensschrei. Ich nenne: "Die


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strohenden Einbinde irgendein Bilderwerk vermuthete, wird erschrecken bei dem
Anblick mathematischer Formeln, classischer Citate und philosophischer Eroitc¬
rungen. Auch die Freunde der Belletristik werden in der Völker fluthendem
Gedränge an ihren Salonpoeten kalt und gleichgiltig vorüberwandern.

Denn wer Heuer nach Paris reist, will sehen. Selbst der Gelehrte läßt
die Wissenschaft zu Hause und entnimmt bei seinem literanschcn Gewissensrath,
dem Buchhändler, nur den „Bädeker" oder ein andres der vielen Reisehand¬
bücher, welche alljährlich so sicher wie der Storch die Ankunft des Frühjahrs
verkünden. Und sollte er versäumt haben, für die langweiligen Stunden der
Eisenbahnfahrt sich Lesestoff anzuschaffen, so kauft er das Vergessene bei dem
fliegenden Buchhändler der Bahnhöfe: Bücher mit piquanten Titel und lang¬
weiligem Inhalt, Zehngroschenromane, deren Verwicklungen unter dem Schwanken
des Wagens nicht leiden, Bücher, welche das moderne Babylon bei Tag und
Nacht, unter und über der Erde, in allen Schichten der Gesellschaft betrachten,
billige Bücher, die der Buchbinder schon beschnitten, die man ohne Gewissens¬
bisse verliert oder sogar als unnützen Ballast für die Bibliothek des nächsten
Bahnwärters durch den Wagenschlag hinauswirft.

So zeigt auch das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel ein durch die
Zeit verändertes Gesicht und während die Verleger der Reisebücher schon ihr
rothgebnndenes schweres Geschütz hinaussandten, sind manche erst bei den Vor¬
bereitungen für den — friedlichen? — Svmmerseldzug in Frankreich. I. Rodenberg
verspricht im Verein mit Andern „Paris bei Sonnenschein und Lampenlicht" zu
betrachten und Wachenhusen stellt „Weltausstellungsbilder" in Auesicht. Viele
werden nachfolgen.

Wie es aber trotz der bisherigen Aussicht in eine friedliche Zukunft, in der
jüngsten Vergangenheit im Innern unseres Volkes stürmisch herging, würde
uns, wenn wir es nicht aus eigner Erfahrung wüßten, die Brochurcnliteratur
zeigen. Der innere Ausbau dessen, was die Kanonen von Königsgrätz ermög¬
licht, ist deshalb nicht mühelos, weil er ohne Geschützfeuer vor sich geht. Und
zwar ebenso nördlich wie südlich vom Main. Im Norden stellenweise wider¬
williges Sichfügen in die straffen Grenzen des Bundesstaates, im Süden un¬
stetes Umhertasten der öffentlichen Meinung und das Gefühl der Schwachheit,
bis die neueste Zeit die Bündnisse Bayerns, Ladens und Würtembergs mit
Norddeutschland enthüllte. Aber noch ist die Zeit der Schwabenstreiche nicht
ganz vorüber. Mit stillem Unmuth scheint es der Anwohner des Nesenbaches
zu tragen, daß er nicht mehr für sich selber da steht ganz allein, und nun
erst wird er Brochüren brauchen, sich mit seinem Standpunkt auszusöhnen.

Mit Preußen und dem norddeutschen Bunde, mit dem Parlament und der
Zukunft Gesammtdeulschlands beschäftigen sich die Flugschriften wieder eifriger,
darunter einzelne mit zartparticularistischcm Schmerzensschrei. Ich nenne: »Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/71>, abgerufen am 22.07.2024.