Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Industrie keine Stätte zu bieten im Stande sei. Unsere reichen Wälder
würden bei geeigneter Bewirtschaftung das schönste Nutzholz liefern; Eisenstein¬
gruben, Marmor-, Gyps-, Schiefer- und Sandsteinbrüche versprechen die reichste
Ausbeute, auch die aufgegebenen Kuvserbergwctte würden sich unter günstigen
Umständen vielleicht wieder aufnehmen lassen; zahlreiche Gewässer mit vortreff¬
lichem Gefälle wären für Fabrik'etablissements werthvolle Unterstützung. Aber,
um die Schätze der Natur zu heben, mangelt uns das nothwendigste Mittel,
die Eisenbahn, und eine solche, wie schon gesagt, steht bis jetzt nicht zu erWorten.
Trostlos also sind die Aussichten unsrer Gewerbtreibenden, trostloser noch die
Lage unseres ganzen Staats. Auf jene Steuer verzichten, wäre für ihn
Selbstentleibung, sie aber zu rechtfertigen, ihr einen wirklichen, nicht blos ein¬
gebildeten Gegenstand zu geben, ist er absolut außer Stande. Rathlos sitzt er
eingekeilt in die fürchterliche Alternative; entweder du schaffst Industrie, oder
du gehst zu Grunde!

Werfen wir nun, um das Gemälde der waldeckschcn Gesellschaft zu ver¬
vollständigen, noch einen Blick auf die Classe, welche man in andern Ländern
wohl als "die mit liberalen Professionen Beschäftigten" bezeichnet, will sagen
bei uns die Civilstaatsdiener mit Einschluß der Geistlichen, Lehrer, Aerzte.
Wollten wir ihre Lage günstiger schildern als die der vorerwähnten Volks¬
schichten, sie würden uns selbst Lügen streifen. Hören wir nur das Zeugniß
Speyers, der, in der Residenz geboren und erzogen, nunmehr aber seit langen
Jahren daselbst thätig und in den höchsten Kreisen sehr angesehen, gewiß am
allerwenigsten dem Verdachte böswilliger Verleumdung ausgesetzt ist. "Wenn
keine Abhilfe kommt," sagt er a. a. O,, "dürfte für Waldeck ein Staats¬
dienerproletariat und mit ihm eine Zeit drohen, wo die Staatsämter nicht
mehr an den Meistbietenden, sondern an den Mindestfordernden vergeben wer¬
den müßten." Das halbe Decennium, welches seit diesem Ausspruche verflossen,
hat die Dinge sicherlich nicht zum Bessern gewendet. Wie wäre es auch mög¬
lich? Ueber 5,3 Procent der Bevölkerung zählen zu dieser Classe, ein Heer
von Beamten also, dreimal so groß als verhältnißmäßig in Preußen, nährt sich
von dem Schweiße dieses elenden Ländchens. Kein Wunder, daß die Gehalte
die nothdürftigste Grenze nicht überschreiten, ja zuweilen auch diese nicht einmal
erreichen. Negierung und Landtag thun ihr Möglichstes, aber das Uebel will
nicht verschwinden. So hat man innerhalb des letzten Jahrzehnts verschieden¬
fach die größten Anstrengungen gemacht, die Lehrerbesoldungen zu verbessern,
und doch wurde in der Session von 1865 constatirt, daß neun Lehrerstellen
(bei einer Bevölkerung von 89,000 Seelen!) unbesetzt seien und an mehrern
andern Orten die nothwendige Pensionirung habe unterbleiben müssen -- wa¬
rum? weil es unsern Lehramtsaspiranten zu sehr an patriotischer Begeisterung
mangelte, um mit leerem Magen und matter Lunge die heimische Jugend im


der Industrie keine Stätte zu bieten im Stande sei. Unsere reichen Wälder
würden bei geeigneter Bewirtschaftung das schönste Nutzholz liefern; Eisenstein¬
gruben, Marmor-, Gyps-, Schiefer- und Sandsteinbrüche versprechen die reichste
Ausbeute, auch die aufgegebenen Kuvserbergwctte würden sich unter günstigen
Umständen vielleicht wieder aufnehmen lassen; zahlreiche Gewässer mit vortreff¬
lichem Gefälle wären für Fabrik'etablissements werthvolle Unterstützung. Aber,
um die Schätze der Natur zu heben, mangelt uns das nothwendigste Mittel,
die Eisenbahn, und eine solche, wie schon gesagt, steht bis jetzt nicht zu erWorten.
Trostlos also sind die Aussichten unsrer Gewerbtreibenden, trostloser noch die
Lage unseres ganzen Staats. Auf jene Steuer verzichten, wäre für ihn
Selbstentleibung, sie aber zu rechtfertigen, ihr einen wirklichen, nicht blos ein¬
gebildeten Gegenstand zu geben, ist er absolut außer Stande. Rathlos sitzt er
eingekeilt in die fürchterliche Alternative; entweder du schaffst Industrie, oder
du gehst zu Grunde!

Werfen wir nun, um das Gemälde der waldeckschcn Gesellschaft zu ver¬
vollständigen, noch einen Blick auf die Classe, welche man in andern Ländern
wohl als „die mit liberalen Professionen Beschäftigten" bezeichnet, will sagen
bei uns die Civilstaatsdiener mit Einschluß der Geistlichen, Lehrer, Aerzte.
Wollten wir ihre Lage günstiger schildern als die der vorerwähnten Volks¬
schichten, sie würden uns selbst Lügen streifen. Hören wir nur das Zeugniß
Speyers, der, in der Residenz geboren und erzogen, nunmehr aber seit langen
Jahren daselbst thätig und in den höchsten Kreisen sehr angesehen, gewiß am
allerwenigsten dem Verdachte böswilliger Verleumdung ausgesetzt ist. „Wenn
keine Abhilfe kommt," sagt er a. a. O,, „dürfte für Waldeck ein Staats¬
dienerproletariat und mit ihm eine Zeit drohen, wo die Staatsämter nicht
mehr an den Meistbietenden, sondern an den Mindestfordernden vergeben wer¬
den müßten." Das halbe Decennium, welches seit diesem Ausspruche verflossen,
hat die Dinge sicherlich nicht zum Bessern gewendet. Wie wäre es auch mög¬
lich? Ueber 5,3 Procent der Bevölkerung zählen zu dieser Classe, ein Heer
von Beamten also, dreimal so groß als verhältnißmäßig in Preußen, nährt sich
von dem Schweiße dieses elenden Ländchens. Kein Wunder, daß die Gehalte
die nothdürftigste Grenze nicht überschreiten, ja zuweilen auch diese nicht einmal
erreichen. Negierung und Landtag thun ihr Möglichstes, aber das Uebel will
nicht verschwinden. So hat man innerhalb des letzten Jahrzehnts verschieden¬
fach die größten Anstrengungen gemacht, die Lehrerbesoldungen zu verbessern,
und doch wurde in der Session von 1865 constatirt, daß neun Lehrerstellen
(bei einer Bevölkerung von 89,000 Seelen!) unbesetzt seien und an mehrern
andern Orten die nothwendige Pensionirung habe unterbleiben müssen — wa¬
rum? weil es unsern Lehramtsaspiranten zu sehr an patriotischer Begeisterung
mangelte, um mit leerem Magen und matter Lunge die heimische Jugend im


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0066" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190760"/>
          <p xml:id="ID_199" prev="#ID_198"> der Industrie keine Stätte zu bieten im Stande sei. Unsere reichen Wälder<lb/>
würden bei geeigneter Bewirtschaftung das schönste Nutzholz liefern; Eisenstein¬<lb/>
gruben, Marmor-, Gyps-, Schiefer- und Sandsteinbrüche versprechen die reichste<lb/>
Ausbeute, auch die aufgegebenen Kuvserbergwctte würden sich unter günstigen<lb/>
Umständen vielleicht wieder aufnehmen lassen; zahlreiche Gewässer mit vortreff¬<lb/>
lichem Gefälle wären für Fabrik'etablissements werthvolle Unterstützung. Aber,<lb/>
um die Schätze der Natur zu heben, mangelt uns das nothwendigste Mittel,<lb/>
die Eisenbahn, und eine solche, wie schon gesagt, steht bis jetzt nicht zu erWorten.<lb/>
Trostlos also sind die Aussichten unsrer Gewerbtreibenden, trostloser noch die<lb/>
Lage unseres ganzen Staats. Auf jene Steuer verzichten, wäre für ihn<lb/>
Selbstentleibung, sie aber zu rechtfertigen, ihr einen wirklichen, nicht blos ein¬<lb/>
gebildeten Gegenstand zu geben, ist er absolut außer Stande. Rathlos sitzt er<lb/>
eingekeilt in die fürchterliche Alternative; entweder du schaffst Industrie, oder<lb/>
du gehst zu Grunde!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_200" next="#ID_201"> Werfen wir nun, um das Gemälde der waldeckschcn Gesellschaft zu ver¬<lb/>
vollständigen, noch einen Blick auf die Classe, welche man in andern Ländern<lb/>
wohl als &#x201E;die mit liberalen Professionen Beschäftigten" bezeichnet, will sagen<lb/>
bei uns die Civilstaatsdiener mit Einschluß der Geistlichen, Lehrer, Aerzte.<lb/>
Wollten wir ihre Lage günstiger schildern als die der vorerwähnten Volks¬<lb/>
schichten, sie würden uns selbst Lügen streifen. Hören wir nur das Zeugniß<lb/>
Speyers, der, in der Residenz geboren und erzogen, nunmehr aber seit langen<lb/>
Jahren daselbst thätig und in den höchsten Kreisen sehr angesehen, gewiß am<lb/>
allerwenigsten dem Verdachte böswilliger Verleumdung ausgesetzt ist. &#x201E;Wenn<lb/>
keine Abhilfe kommt," sagt er a. a. O,, &#x201E;dürfte für Waldeck ein Staats¬<lb/>
dienerproletariat und mit ihm eine Zeit drohen, wo die Staatsämter nicht<lb/>
mehr an den Meistbietenden, sondern an den Mindestfordernden vergeben wer¬<lb/>
den müßten." Das halbe Decennium, welches seit diesem Ausspruche verflossen,<lb/>
hat die Dinge sicherlich nicht zum Bessern gewendet. Wie wäre es auch mög¬<lb/>
lich? Ueber 5,3 Procent der Bevölkerung zählen zu dieser Classe, ein Heer<lb/>
von Beamten also, dreimal so groß als verhältnißmäßig in Preußen, nährt sich<lb/>
von dem Schweiße dieses elenden Ländchens. Kein Wunder, daß die Gehalte<lb/>
die nothdürftigste Grenze nicht überschreiten, ja zuweilen auch diese nicht einmal<lb/>
erreichen. Negierung und Landtag thun ihr Möglichstes, aber das Uebel will<lb/>
nicht verschwinden. So hat man innerhalb des letzten Jahrzehnts verschieden¬<lb/>
fach die größten Anstrengungen gemacht, die Lehrerbesoldungen zu verbessern,<lb/>
und doch wurde in der Session von 1865 constatirt, daß neun Lehrerstellen<lb/>
(bei einer Bevölkerung von 89,000 Seelen!) unbesetzt seien und an mehrern<lb/>
andern Orten die nothwendige Pensionirung habe unterbleiben müssen &#x2014; wa¬<lb/>
rum? weil es unsern Lehramtsaspiranten zu sehr an patriotischer Begeisterung<lb/>
mangelte, um mit leerem Magen und matter Lunge die heimische Jugend im</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0066] der Industrie keine Stätte zu bieten im Stande sei. Unsere reichen Wälder würden bei geeigneter Bewirtschaftung das schönste Nutzholz liefern; Eisenstein¬ gruben, Marmor-, Gyps-, Schiefer- und Sandsteinbrüche versprechen die reichste Ausbeute, auch die aufgegebenen Kuvserbergwctte würden sich unter günstigen Umständen vielleicht wieder aufnehmen lassen; zahlreiche Gewässer mit vortreff¬ lichem Gefälle wären für Fabrik'etablissements werthvolle Unterstützung. Aber, um die Schätze der Natur zu heben, mangelt uns das nothwendigste Mittel, die Eisenbahn, und eine solche, wie schon gesagt, steht bis jetzt nicht zu erWorten. Trostlos also sind die Aussichten unsrer Gewerbtreibenden, trostloser noch die Lage unseres ganzen Staats. Auf jene Steuer verzichten, wäre für ihn Selbstentleibung, sie aber zu rechtfertigen, ihr einen wirklichen, nicht blos ein¬ gebildeten Gegenstand zu geben, ist er absolut außer Stande. Rathlos sitzt er eingekeilt in die fürchterliche Alternative; entweder du schaffst Industrie, oder du gehst zu Grunde! Werfen wir nun, um das Gemälde der waldeckschcn Gesellschaft zu ver¬ vollständigen, noch einen Blick auf die Classe, welche man in andern Ländern wohl als „die mit liberalen Professionen Beschäftigten" bezeichnet, will sagen bei uns die Civilstaatsdiener mit Einschluß der Geistlichen, Lehrer, Aerzte. Wollten wir ihre Lage günstiger schildern als die der vorerwähnten Volks¬ schichten, sie würden uns selbst Lügen streifen. Hören wir nur das Zeugniß Speyers, der, in der Residenz geboren und erzogen, nunmehr aber seit langen Jahren daselbst thätig und in den höchsten Kreisen sehr angesehen, gewiß am allerwenigsten dem Verdachte böswilliger Verleumdung ausgesetzt ist. „Wenn keine Abhilfe kommt," sagt er a. a. O,, „dürfte für Waldeck ein Staats¬ dienerproletariat und mit ihm eine Zeit drohen, wo die Staatsämter nicht mehr an den Meistbietenden, sondern an den Mindestfordernden vergeben wer¬ den müßten." Das halbe Decennium, welches seit diesem Ausspruche verflossen, hat die Dinge sicherlich nicht zum Bessern gewendet. Wie wäre es auch mög¬ lich? Ueber 5,3 Procent der Bevölkerung zählen zu dieser Classe, ein Heer von Beamten also, dreimal so groß als verhältnißmäßig in Preußen, nährt sich von dem Schweiße dieses elenden Ländchens. Kein Wunder, daß die Gehalte die nothdürftigste Grenze nicht überschreiten, ja zuweilen auch diese nicht einmal erreichen. Negierung und Landtag thun ihr Möglichstes, aber das Uebel will nicht verschwinden. So hat man innerhalb des letzten Jahrzehnts verschieden¬ fach die größten Anstrengungen gemacht, die Lehrerbesoldungen zu verbessern, und doch wurde in der Session von 1865 constatirt, daß neun Lehrerstellen (bei einer Bevölkerung von 89,000 Seelen!) unbesetzt seien und an mehrern andern Orten die nothwendige Pensionirung habe unterbleiben müssen — wa¬ rum? weil es unsern Lehramtsaspiranten zu sehr an patriotischer Begeisterung mangelte, um mit leerem Magen und matter Lunge die heimische Jugend im

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/66
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/66>, abgerufen am 22.07.2024.