Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

in welchem die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ebenso künstlich ge¬
spannt als ausgefüllt wird, giebt der Herausgeber selbst zu. Unser Tadel
richtet sich hauptsächlich gegen den praktischen Theil. Der Erlöser ist dem Ver¬
fasser wesentlich nur der hervorragendste Vertreter des Subjectivismus, und
bei dieser zersplitternden Auffassung zerfließt ihm natürlich die Gestaltung eines
kirchlichen Christenthums, wie er denn offen ausspricht, daß ihm Protestantismus
und Kirche als zwei unvereinbare Dinge erscheinen und ihm daher der Stand
der Geistlichen eigentlich nur als ein nothwendiges Uebel gilt, der ja auch
einem treffenden Worte Vusken Huets zufolge "der Paria der Gesellschaft" sei.
Die Verbesserungsvorschläge, die er dem armen Paria im Fache der Homiletik
und Pastoraltheologie ertheilt, sind fast durchgängig von einer wahrhaft erkäl¬
tenden Aeußerlichkeit; die Verbindung, in welche er die Religion mit dem
Cultus des Schönen und der Wissenschaft zu setzen sucht, ist ganz mechanisch;
und wenn er meint, der Heiland, wandelte er noch auf Erden, werde bisweilen
zu den Kirchlichen sagen: "viele Atheisten und Materialisten werden vor euch
in das Himmelreich eingehen", so entspringt dies beiderseits ehrende Zeugniß,
das übrigens die alten Sadducäer nie vor den Pharisäern von ihm erhalten
haben, bei ihm nur aus dem Unvermögen, zu universalgiltigcn religiösen Normen
zu gelangen. Das Grundübel ist die Weichlichkeit der sittlichen Anschauung,
der Liebenswürdigkeit und Weitherzigkeit für höhere Tugenden gelten als Festig¬
keit und Entschiedenheit des Charakters; das heißt auch auf dieser Seite, Minze,
Till und Kümmel verzehrten und das Schwerste im Gesetz dahintcnlassen. Hier
liegt überhaupt die Krankheit dieser Art moderner Richtung; sie fühlt mit dem
liebenden, duldenden und.klagenden Heiland, aber der erhabene Choleriker, der
die Krämer aus dem Tempel geißelte und über Bethsaida und Chorazin sein
Wehe rief, ist ihr zu groß.

Viel würdiger und ernster sucht F. P6caut die Grundlagen eines geläu¬
terten, religiösen Gemeinwesens zu gewinnen in seiner Schrift:


Die reine Gottesidee des Christenthums, das Wesen der
Religion der Zukunft. Deutsche Ausgabe. Wiesbaden, Kreidel.

Freilich fehlt es ihm zum Theil an praktischen Erfahrungen, und er wird
daher nothwendig an vielen Punkten zum Doctrinär, wie sich denn seine Ideen
besonders dem Missionswesen gegenüber als unausgebildet und schwer durch¬
führbar erweisen dürften. Jedoch werden die Betrachtungen eines so reinen,
und von echter Frömmigkeit gestützten Liberalismus in den weitesten Kreisen
interesfuen, nirgends verletzend, sondern überall achtungsvoll versöhnend wirken.

Am klarsten und bündigsten zusammengefaßt finden wir die gesunden,
refvrmaiorischen Forderungen der modernen Theologie in den bereits vor Jahres¬
frist von Professor Hanne in Greifswald veröffentlichten Thesen, deren Ver¬
theidigung er kürzlich unternommen hat, in seinem


in welchem die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ebenso künstlich ge¬
spannt als ausgefüllt wird, giebt der Herausgeber selbst zu. Unser Tadel
richtet sich hauptsächlich gegen den praktischen Theil. Der Erlöser ist dem Ver¬
fasser wesentlich nur der hervorragendste Vertreter des Subjectivismus, und
bei dieser zersplitternden Auffassung zerfließt ihm natürlich die Gestaltung eines
kirchlichen Christenthums, wie er denn offen ausspricht, daß ihm Protestantismus
und Kirche als zwei unvereinbare Dinge erscheinen und ihm daher der Stand
der Geistlichen eigentlich nur als ein nothwendiges Uebel gilt, der ja auch
einem treffenden Worte Vusken Huets zufolge „der Paria der Gesellschaft" sei.
Die Verbesserungsvorschläge, die er dem armen Paria im Fache der Homiletik
und Pastoraltheologie ertheilt, sind fast durchgängig von einer wahrhaft erkäl¬
tenden Aeußerlichkeit; die Verbindung, in welche er die Religion mit dem
Cultus des Schönen und der Wissenschaft zu setzen sucht, ist ganz mechanisch;
und wenn er meint, der Heiland, wandelte er noch auf Erden, werde bisweilen
zu den Kirchlichen sagen: „viele Atheisten und Materialisten werden vor euch
in das Himmelreich eingehen", so entspringt dies beiderseits ehrende Zeugniß,
das übrigens die alten Sadducäer nie vor den Pharisäern von ihm erhalten
haben, bei ihm nur aus dem Unvermögen, zu universalgiltigcn religiösen Normen
zu gelangen. Das Grundübel ist die Weichlichkeit der sittlichen Anschauung,
der Liebenswürdigkeit und Weitherzigkeit für höhere Tugenden gelten als Festig¬
keit und Entschiedenheit des Charakters; das heißt auch auf dieser Seite, Minze,
Till und Kümmel verzehrten und das Schwerste im Gesetz dahintcnlassen. Hier
liegt überhaupt die Krankheit dieser Art moderner Richtung; sie fühlt mit dem
liebenden, duldenden und.klagenden Heiland, aber der erhabene Choleriker, der
die Krämer aus dem Tempel geißelte und über Bethsaida und Chorazin sein
Wehe rief, ist ihr zu groß.

Viel würdiger und ernster sucht F. P6caut die Grundlagen eines geläu¬
terten, religiösen Gemeinwesens zu gewinnen in seiner Schrift:


Die reine Gottesidee des Christenthums, das Wesen der
Religion der Zukunft. Deutsche Ausgabe. Wiesbaden, Kreidel.

Freilich fehlt es ihm zum Theil an praktischen Erfahrungen, und er wird
daher nothwendig an vielen Punkten zum Doctrinär, wie sich denn seine Ideen
besonders dem Missionswesen gegenüber als unausgebildet und schwer durch¬
führbar erweisen dürften. Jedoch werden die Betrachtungen eines so reinen,
und von echter Frömmigkeit gestützten Liberalismus in den weitesten Kreisen
interesfuen, nirgends verletzend, sondern überall achtungsvoll versöhnend wirken.

Am klarsten und bündigsten zusammengefaßt finden wir die gesunden,
refvrmaiorischen Forderungen der modernen Theologie in den bereits vor Jahres¬
frist von Professor Hanne in Greifswald veröffentlichten Thesen, deren Ver¬
theidigung er kürzlich unternommen hat, in seinem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191050"/>
            <p xml:id="ID_1227" prev="#ID_1226"> in welchem die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ebenso künstlich ge¬<lb/>
spannt als ausgefüllt wird, giebt der Herausgeber selbst zu. Unser Tadel<lb/>
richtet sich hauptsächlich gegen den praktischen Theil. Der Erlöser ist dem Ver¬<lb/>
fasser wesentlich nur der hervorragendste Vertreter des Subjectivismus, und<lb/>
bei dieser zersplitternden Auffassung zerfließt ihm natürlich die Gestaltung eines<lb/>
kirchlichen Christenthums, wie er denn offen ausspricht, daß ihm Protestantismus<lb/>
und Kirche als zwei unvereinbare Dinge erscheinen und ihm daher der Stand<lb/>
der Geistlichen eigentlich nur als ein nothwendiges Uebel gilt, der ja auch<lb/>
einem treffenden Worte Vusken Huets zufolge &#x201E;der Paria der Gesellschaft" sei.<lb/>
Die Verbesserungsvorschläge, die er dem armen Paria im Fache der Homiletik<lb/>
und Pastoraltheologie ertheilt, sind fast durchgängig von einer wahrhaft erkäl¬<lb/>
tenden Aeußerlichkeit; die Verbindung, in welche er die Religion mit dem<lb/>
Cultus des Schönen und der Wissenschaft zu setzen sucht, ist ganz mechanisch;<lb/>
und wenn er meint, der Heiland, wandelte er noch auf Erden, werde bisweilen<lb/>
zu den Kirchlichen sagen: &#x201E;viele Atheisten und Materialisten werden vor euch<lb/>
in das Himmelreich eingehen", so entspringt dies beiderseits ehrende Zeugniß,<lb/>
das übrigens die alten Sadducäer nie vor den Pharisäern von ihm erhalten<lb/>
haben, bei ihm nur aus dem Unvermögen, zu universalgiltigcn religiösen Normen<lb/>
zu gelangen. Das Grundübel ist die Weichlichkeit der sittlichen Anschauung,<lb/>
der Liebenswürdigkeit und Weitherzigkeit für höhere Tugenden gelten als Festig¬<lb/>
keit und Entschiedenheit des Charakters; das heißt auch auf dieser Seite, Minze,<lb/>
Till und Kümmel verzehrten und das Schwerste im Gesetz dahintcnlassen. Hier<lb/>
liegt überhaupt die Krankheit dieser Art moderner Richtung; sie fühlt mit dem<lb/>
liebenden, duldenden und.klagenden Heiland, aber der erhabene Choleriker, der<lb/>
die Krämer aus dem Tempel geißelte und über Bethsaida und Chorazin sein<lb/>
Wehe rief, ist ihr zu groß.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1228"> Viel würdiger und ernster sucht F. P6caut die Grundlagen eines geläu¬<lb/>
terten, religiösen Gemeinwesens zu gewinnen in seiner Schrift:</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Die reine Gottesidee des Christenthums, das Wesen der<lb/>
Religion der Zukunft. Deutsche Ausgabe. Wiesbaden, Kreidel.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1229"> Freilich fehlt es ihm zum Theil an praktischen Erfahrungen, und er wird<lb/>
daher nothwendig an vielen Punkten zum Doctrinär, wie sich denn seine Ideen<lb/>
besonders dem Missionswesen gegenüber als unausgebildet und schwer durch¬<lb/>
führbar erweisen dürften. Jedoch werden die Betrachtungen eines so reinen,<lb/>
und von echter Frömmigkeit gestützten Liberalismus in den weitesten Kreisen<lb/>
interesfuen, nirgends verletzend, sondern überall achtungsvoll versöhnend wirken.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1230"> Am klarsten und bündigsten zusammengefaßt finden wir die gesunden,<lb/>
refvrmaiorischen Forderungen der modernen Theologie in den bereits vor Jahres¬<lb/>
frist von Professor Hanne in Greifswald veröffentlichten Thesen, deren Ver¬<lb/>
theidigung er kürzlich unternommen hat, in seinem</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] in welchem die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ebenso künstlich ge¬ spannt als ausgefüllt wird, giebt der Herausgeber selbst zu. Unser Tadel richtet sich hauptsächlich gegen den praktischen Theil. Der Erlöser ist dem Ver¬ fasser wesentlich nur der hervorragendste Vertreter des Subjectivismus, und bei dieser zersplitternden Auffassung zerfließt ihm natürlich die Gestaltung eines kirchlichen Christenthums, wie er denn offen ausspricht, daß ihm Protestantismus und Kirche als zwei unvereinbare Dinge erscheinen und ihm daher der Stand der Geistlichen eigentlich nur als ein nothwendiges Uebel gilt, der ja auch einem treffenden Worte Vusken Huets zufolge „der Paria der Gesellschaft" sei. Die Verbesserungsvorschläge, die er dem armen Paria im Fache der Homiletik und Pastoraltheologie ertheilt, sind fast durchgängig von einer wahrhaft erkäl¬ tenden Aeußerlichkeit; die Verbindung, in welche er die Religion mit dem Cultus des Schönen und der Wissenschaft zu setzen sucht, ist ganz mechanisch; und wenn er meint, der Heiland, wandelte er noch auf Erden, werde bisweilen zu den Kirchlichen sagen: „viele Atheisten und Materialisten werden vor euch in das Himmelreich eingehen", so entspringt dies beiderseits ehrende Zeugniß, das übrigens die alten Sadducäer nie vor den Pharisäern von ihm erhalten haben, bei ihm nur aus dem Unvermögen, zu universalgiltigcn religiösen Normen zu gelangen. Das Grundübel ist die Weichlichkeit der sittlichen Anschauung, der Liebenswürdigkeit und Weitherzigkeit für höhere Tugenden gelten als Festig¬ keit und Entschiedenheit des Charakters; das heißt auch auf dieser Seite, Minze, Till und Kümmel verzehrten und das Schwerste im Gesetz dahintcnlassen. Hier liegt überhaupt die Krankheit dieser Art moderner Richtung; sie fühlt mit dem liebenden, duldenden und.klagenden Heiland, aber der erhabene Choleriker, der die Krämer aus dem Tempel geißelte und über Bethsaida und Chorazin sein Wehe rief, ist ihr zu groß. Viel würdiger und ernster sucht F. P6caut die Grundlagen eines geläu¬ terten, religiösen Gemeinwesens zu gewinnen in seiner Schrift: Die reine Gottesidee des Christenthums, das Wesen der Religion der Zukunft. Deutsche Ausgabe. Wiesbaden, Kreidel. Freilich fehlt es ihm zum Theil an praktischen Erfahrungen, und er wird daher nothwendig an vielen Punkten zum Doctrinär, wie sich denn seine Ideen besonders dem Missionswesen gegenüber als unausgebildet und schwer durch¬ führbar erweisen dürften. Jedoch werden die Betrachtungen eines so reinen, und von echter Frömmigkeit gestützten Liberalismus in den weitesten Kreisen interesfuen, nirgends verletzend, sondern überall achtungsvoll versöhnend wirken. Am klarsten und bündigsten zusammengefaßt finden wir die gesunden, refvrmaiorischen Forderungen der modernen Theologie in den bereits vor Jahres¬ frist von Professor Hanne in Greifswald veröffentlichten Thesen, deren Ver¬ theidigung er kürzlich unternommen hat, in seinem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/356>, abgerufen am 03.07.2024.