Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.genährten und nicht zur Reife gekommenen Freiheitssinnes seines Verfassers. genährten und nicht zur Reife gekommenen Freiheitssinnes seines Verfassers. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0276" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190970"/> <p xml:id="ID_878" prev="#ID_877" next="#ID_879"> genährten und nicht zur Reife gekommenen Freiheitssinnes seines Verfassers.<lb/> Das Aufsehen, welches diese, jetzt längst Vergessene Schrift in'Livland wie in<lb/> Deutschland machte, war ungeheuer; Paulus besprach sie in der damals noch<lb/> allmächtigen „Jenaer Literaturzeitung" höchst günstig und machte den Namen<lb/> des jungen Autors dadurch ziemlich rasch bekannt. Merkel, der das inzwischen<lb/> in Leipzig und Jena begonnene Studium der Medicin bald wieder aufgab,<lb/> wandte sich nunmehr ausschließlich der Schriftstellern zu. Aus Riga her dem<lb/> berderschcn Hause empfohlen, wurde er rasch mit dem damals bereits alternden,<lb/> von dem aufsteigenden Ruhm Goethes gedrückten Verfasser der »Ideen zur<lb/> Geschichte der Menschheit" und mit Wieland, dem Abgott, seiner Jugend, näher<lb/> bekannt. Beide Männer bestärkten den talentvollen, aber eitlen jungen Mann<lb/> in der Absicht, Schriftsteller und Journalist zu werden, sie wußten, daß er ein<lb/> enthusiastischer Verehrer der von ihnen begründeten Richtung der Literatur sei -<lb/> und nicht wenig dazu beitragen würde, ihre bereits wankend gewordene Stel¬<lb/> lung auf dem deutschen Parnaß zu stützen. Merkel war unstreitig ein bedeu¬<lb/> tendes, wenn auch rohes publicistisches Talent: hätte es am Ausgang des<lb/> achtzehnten Jahrhunderts eine politische Literatur gegeben, er hätte es zu<lb/> einer ehrenvollen Stellung in derselben gebracht. Von jeder Möglichkeit einer<lb/> politischen Wirksamkeit durch die Zustände des irireieir rvgimö ausgeschlossen,<lb/> wandte er sich der literarisch-kritischen Thätigkeit zu, welche den alleinigen<lb/> Tummelplatz der Schriftsteller und Journalisten seiner Zeit ausmachte, für die<lb/> ihm aber nichts weniger als alles fehlte. Merkel war ein klarer, nüchterner<lb/> Kopf, der in Fragen des wirklichen Lebens gesund und praktisch urtheilte,<lb/> dem aber jedes ästhetische Gefühl, jeder Beruf für die Kunst fehlte. Als echter<lb/> Sohn der Auftlärungsschulc stand er auf dem Boden des-,,ant proclössö<lb/> volunt true äeleetars poet-rs", das Lehrgedicht und die „poetische Erzählung"<lb/> 'waren ihm die wichtigsten und liebsten Formen der künstlerischen Darstellung,<lb/> weil sie sich am bequemsten zu philanthropischen und „ aufklärenden" Zwecken<lb/> gebrauchen oder vielmehr mißbrauche» ließen. Daß die Darstellung des Schönen<lb/> Selbstzweck sei, davon hatte er keine Ahnung, er rühmte sich zeitlebens dessen,<lb/> „daß ihm der Bau des Hauses, in welchem die Menschheit wohnen sollte, mehr<lb/> gegolten habe als der Anstrich und die Verzierung desselben". Durch den großen<lb/> Erfolg seines Buchs,'das jn der That den Anstoß zu einer Verbesserung der<lb/> Lage des lettischen Volkes gegeben hatte, und durch die Lobsprüche der Herder,<lb/> Wieland, Bötticher, Engel u. s. w. verblendet, hielt er sich für berufen, der erste<lb/> Kritiker Deutschlands zu werden, die angefochtene Machtstellung der „alten<lb/> Schule" zu retten und den Männern der „neuen Schule" den ihnen gebührenden<lb/> zweiten Platz nachdrücklich anzuweisen. Ermuthigt durch den ^Erfolg einiger<lb/> kleinerer Schriften kritischen Inhalts, begründete er de» später so übel berüch¬<lb/> tigten „Freimüthigen", den er Anfangs in Gemeinschaft mit Kotzebue, später</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0276]
genährten und nicht zur Reife gekommenen Freiheitssinnes seines Verfassers.
Das Aufsehen, welches diese, jetzt längst Vergessene Schrift in'Livland wie in
Deutschland machte, war ungeheuer; Paulus besprach sie in der damals noch
allmächtigen „Jenaer Literaturzeitung" höchst günstig und machte den Namen
des jungen Autors dadurch ziemlich rasch bekannt. Merkel, der das inzwischen
in Leipzig und Jena begonnene Studium der Medicin bald wieder aufgab,
wandte sich nunmehr ausschließlich der Schriftstellern zu. Aus Riga her dem
berderschcn Hause empfohlen, wurde er rasch mit dem damals bereits alternden,
von dem aufsteigenden Ruhm Goethes gedrückten Verfasser der »Ideen zur
Geschichte der Menschheit" und mit Wieland, dem Abgott, seiner Jugend, näher
bekannt. Beide Männer bestärkten den talentvollen, aber eitlen jungen Mann
in der Absicht, Schriftsteller und Journalist zu werden, sie wußten, daß er ein
enthusiastischer Verehrer der von ihnen begründeten Richtung der Literatur sei -
und nicht wenig dazu beitragen würde, ihre bereits wankend gewordene Stel¬
lung auf dem deutschen Parnaß zu stützen. Merkel war unstreitig ein bedeu¬
tendes, wenn auch rohes publicistisches Talent: hätte es am Ausgang des
achtzehnten Jahrhunderts eine politische Literatur gegeben, er hätte es zu
einer ehrenvollen Stellung in derselben gebracht. Von jeder Möglichkeit einer
politischen Wirksamkeit durch die Zustände des irireieir rvgimö ausgeschlossen,
wandte er sich der literarisch-kritischen Thätigkeit zu, welche den alleinigen
Tummelplatz der Schriftsteller und Journalisten seiner Zeit ausmachte, für die
ihm aber nichts weniger als alles fehlte. Merkel war ein klarer, nüchterner
Kopf, der in Fragen des wirklichen Lebens gesund und praktisch urtheilte,
dem aber jedes ästhetische Gefühl, jeder Beruf für die Kunst fehlte. Als echter
Sohn der Auftlärungsschulc stand er auf dem Boden des-,,ant proclössö
volunt true äeleetars poet-rs", das Lehrgedicht und die „poetische Erzählung"
'waren ihm die wichtigsten und liebsten Formen der künstlerischen Darstellung,
weil sie sich am bequemsten zu philanthropischen und „ aufklärenden" Zwecken
gebrauchen oder vielmehr mißbrauche» ließen. Daß die Darstellung des Schönen
Selbstzweck sei, davon hatte er keine Ahnung, er rühmte sich zeitlebens dessen,
„daß ihm der Bau des Hauses, in welchem die Menschheit wohnen sollte, mehr
gegolten habe als der Anstrich und die Verzierung desselben". Durch den großen
Erfolg seines Buchs,'das jn der That den Anstoß zu einer Verbesserung der
Lage des lettischen Volkes gegeben hatte, und durch die Lobsprüche der Herder,
Wieland, Bötticher, Engel u. s. w. verblendet, hielt er sich für berufen, der erste
Kritiker Deutschlands zu werden, die angefochtene Machtstellung der „alten
Schule" zu retten und den Männern der „neuen Schule" den ihnen gebührenden
zweiten Platz nachdrücklich anzuweisen. Ermuthigt durch den ^Erfolg einiger
kleinerer Schriften kritischen Inhalts, begründete er de» später so übel berüch¬
tigten „Freimüthigen", den er Anfangs in Gemeinschaft mit Kotzebue, später
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