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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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einem höheren Standpunkt zu übersehen gezwungen sind, erscheinen, daß jene
Verurtheilung der Wirklichkeit sich nicht widerspruchslos vollziehen konnte, daß
diejenigen, welche für den Fortschritt der reale" Welt wirksam sein wollten, an
die Bildungsfähigkeit des Bestehenden glauben, die behauptete Inhaltlosigkeit
der Wirklichkeit läugnen mußten, schon weil die Erkenntniß derselben bei der
Masse zu nichts führen konnte als zu noch tieferen Fall. In dieser Erwägung
werden wir gegen die Zustände und Bestrebungen im Hauptquartier der Wort¬
führer des Bulgus nickt gleichgiltig sein, sie nicht bedingungslos verurtheilen
können: in denselben Werkstätten, die die ohnmächtigen Blitze gegen die
Olympier schmiedeten, wurde die Parole des Tages ausgegeben und empfangen,
die eigentliche Sprach^ der damaligen Zeit, des Philistertums vom alten Zu¬
schnitt geredet, an einer Heilung der Schäden der Zeit gearbeitet, die nur der
Adlerblick der Genies als unheilbar zu erkennen die Fähigkeit und vielleicht
das Recht hatte.

Es wird die Verpflichtung zu möglichst genauer Erforschung des Bildungs¬
grades und der Geistesrichtung der Massen aber nicht die einzige Rücksicht sein,
aus der eine Bekanntschaft mit den Wortführern im "andern" Lager rathsam
erscheint; eine andere, höhere Rücksicht wird derselben noch entschiedener das
Wort reden.

So hoch die Goethe, Schiller, Herder u. s. w. über ihrer gesammten
Zeit, zumal über ihren Gegnern standen, sie waren doch Kinder des Zeitalters
der bloßen Privatexistenz, sie waren in die Formen eines Lebens gebannt, das
keine anderen als persönliche Beziehungen zur Wirklichkeit aufkommen ließ, auch
sie standen unter dem Druck jener "rein privatrechtlichen Natur" der deutschen
Zustände des vorigen Jahrhunderts, das keine anderen als ästhetische National¬
interessen kannte. Um sich einen Einblick in die tiefe Entsittlichung zu ver¬
schaffen, welche die nothwendige Folge der damals auf alle Gebildeten ver¬
breiteten ausschließlichen Beschäftigung mit literarischen und ästhetischen Gegen¬
ständen war, muß man in die Sphäre derer herabsteigen, die ohne den wahren
Beruf zur Kunst, dem Treiben der Berufenen nachahmten und den Literatur-
klatsch berufsmäßig trieben, weil er die einzig mögliche Beschäftigung der Un¬
glücklichen ausmachte, denen es in der zünftigen Bureaukratie, der zünftigen
Gelehrsamkeit und dem zünftigen Kirchenthum zu eng geworden war, die dem
Bedürfniß nach einer Bethätigung an allgemeinen Zwecken nicht hatten wider¬
stehen tonnen. Es handelt sich hier nicht um das zufällige Treiben Einzelner,
sondern um die Gefangenschaft in angeblich künstlerischen Interessen, die ein
ganzes Geschlecht sich um dieselbe Zeit gefallen lassen mußte, in der sie von den
Regierungen um ihr Vaterland gebracht wurde. Die Kleinlichkeit des literari¬
schen Treibens der vornapoleonischen Jahre, das unsere Dichterfürsten einengte
und an der freien Bewegung zu hindern versuchte, war nicht sowohl das Pro-


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einem höheren Standpunkt zu übersehen gezwungen sind, erscheinen, daß jene
Verurtheilung der Wirklichkeit sich nicht widerspruchslos vollziehen konnte, daß
diejenigen, welche für den Fortschritt der reale» Welt wirksam sein wollten, an
die Bildungsfähigkeit des Bestehenden glauben, die behauptete Inhaltlosigkeit
der Wirklichkeit läugnen mußten, schon weil die Erkenntniß derselben bei der
Masse zu nichts führen konnte als zu noch tieferen Fall. In dieser Erwägung
werden wir gegen die Zustände und Bestrebungen im Hauptquartier der Wort¬
führer des Bulgus nickt gleichgiltig sein, sie nicht bedingungslos verurtheilen
können: in denselben Werkstätten, die die ohnmächtigen Blitze gegen die
Olympier schmiedeten, wurde die Parole des Tages ausgegeben und empfangen,
die eigentliche Sprach^ der damaligen Zeit, des Philistertums vom alten Zu¬
schnitt geredet, an einer Heilung der Schäden der Zeit gearbeitet, die nur der
Adlerblick der Genies als unheilbar zu erkennen die Fähigkeit und vielleicht
das Recht hatte.

Es wird die Verpflichtung zu möglichst genauer Erforschung des Bildungs¬
grades und der Geistesrichtung der Massen aber nicht die einzige Rücksicht sein,
aus der eine Bekanntschaft mit den Wortführern im „andern" Lager rathsam
erscheint; eine andere, höhere Rücksicht wird derselben noch entschiedener das
Wort reden.

So hoch die Goethe, Schiller, Herder u. s. w. über ihrer gesammten
Zeit, zumal über ihren Gegnern standen, sie waren doch Kinder des Zeitalters
der bloßen Privatexistenz, sie waren in die Formen eines Lebens gebannt, das
keine anderen als persönliche Beziehungen zur Wirklichkeit aufkommen ließ, auch
sie standen unter dem Druck jener „rein privatrechtlichen Natur" der deutschen
Zustände des vorigen Jahrhunderts, das keine anderen als ästhetische National¬
interessen kannte. Um sich einen Einblick in die tiefe Entsittlichung zu ver¬
schaffen, welche die nothwendige Folge der damals auf alle Gebildeten ver¬
breiteten ausschließlichen Beschäftigung mit literarischen und ästhetischen Gegen¬
ständen war, muß man in die Sphäre derer herabsteigen, die ohne den wahren
Beruf zur Kunst, dem Treiben der Berufenen nachahmten und den Literatur-
klatsch berufsmäßig trieben, weil er die einzig mögliche Beschäftigung der Un¬
glücklichen ausmachte, denen es in der zünftigen Bureaukratie, der zünftigen
Gelehrsamkeit und dem zünftigen Kirchenthum zu eng geworden war, die dem
Bedürfniß nach einer Bethätigung an allgemeinen Zwecken nicht hatten wider¬
stehen tonnen. Es handelt sich hier nicht um das zufällige Treiben Einzelner,
sondern um die Gefangenschaft in angeblich künstlerischen Interessen, die ein
ganzes Geschlecht sich um dieselbe Zeit gefallen lassen mußte, in der sie von den
Regierungen um ihr Vaterland gebracht wurde. Die Kleinlichkeit des literari¬
schen Treibens der vornapoleonischen Jahre, das unsere Dichterfürsten einengte
und an der freien Bewegung zu hindern versuchte, war nicht sowohl das Pro-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/271>, abgerufen am 22.07.2024.