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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Oestreicher, daß von Parlamentarismus und echt constitutionellen Regiment
erst die Rede sein kann, wenn die Fragen nach der künftigen Form des Kai-
serstaates. der Auseinandersetzung zwischen Ungarn und Nichtungarn, und der
Verständigung zwischen Deutschen und Slawen, beantwortet sind. Bis das
geschehen, hat es noch gute Wege und für die nächste Zukunft der sogenannten
"Freiheitsfrage" in Oestreich ist die trotz des Abkommens mit der National¬
bank geschehene Notenemission des Finanzministeriums sehr viel typischer als
das liberale Ministerverantwortlichkeitsgesetz, oder das "ächt-parlamentarische"
Verhalten des k. k. Cabinets in Sachen der wieder beanstandeten Befestigung
Wiens. Man ist im andern Lager mit Vergleichen zwischen Wien und Berlin
stets bei der Hand gewesen, wo diese sich auf Unkosten Preußens anstellen
ließen -- warum geht man jetzt der Frage aus dem Wege, ob ein Vorgang
wie dieser in Berlin möglich gewesen wäre? Der moralische Credit eines Staates
steht mit dem finanziellen stets im engsten Zusammenhang und so lange die
leichtsinnige und leichtfertige östreichische Notenwirthschaft ihr Spiel weiter treibt,
Preußens FinanzverlMtnisse aber allem militärischen Aufwands zum Trotz
mustergiltig bleiben, wird es den "Jdealpolitikcrn" gelbweißer, grünweißer oder
schwarzgelber Farbe nicht gelingen, den Einfluß des Kaiserstaats zu retabliren.
Sicherheit des Eigenthums wird stets die erste Forderung staatlicher Existenz
und "freiheitlicher" Entwickelung bleiben und kein liberales Ministerverantwort¬
lichkeitsgesetz, kein Parlamentarismus kann ersetzen, was durch eine Finanz-
Wirthschaft, die sich über übernommene Verpflichtungen hinwegsetzt und die
einfachsten Zustände des Privatrechts verletzt, verloren geht.

' Nicht in Oestreich allein, auch in Rußland hat es während des abgelau¬
fenen Monats ein parlamentarisches Ereigniß gegeben; Anfang Juni wurde der
seit dem Januar versammelt gewesene finnische Landtag geschlossen. Dieser
nach altschwedischen Muster aus vier Ständen zusammengesetzte Körper, der
nach beinahe fünfzigjähriger Quiescirung im Jahre 1862 von dem gegenwär¬
tigen Beherrscher Rußlands zum ersten Male wieder einberufen worden war,
hat während seiner letzten Diät eine Reihe für das Großherzogthum Finnland
wichtiger Gesetze discutirt. Die bereits früher beschlossene Einführung der an
Stelle des Schwedischen tretenden finnischen Sprache in Kirche, Schule und Ge¬
richtshof ist im Detail berathen und durchgeführt, die Gleichberechtigung aller
Konfessionen mit der bis dazu ausschließlich herrschenden lutherischen Kirche
bewilligt, der privilegirte Gerichtsstand des Adels aufgehoben, endlich in dem
aus allen vier Curien beschickten ständischen Ausschuß ein Organ geschaffen
worden, das die Vorberathung künftiger Gesetzcsvorschläge außerhalb der ve-
engten ständischen Schranke vornehmen kann. Von weitergehenden und wahr¬
haft allgemeinem Interesse ist namentlich die Einführung der finnischen Sprache
an Stelle der schwedischen, d. h. die Vertauschung einer alten Cultursprache


Oestreicher, daß von Parlamentarismus und echt constitutionellen Regiment
erst die Rede sein kann, wenn die Fragen nach der künftigen Form des Kai-
serstaates. der Auseinandersetzung zwischen Ungarn und Nichtungarn, und der
Verständigung zwischen Deutschen und Slawen, beantwortet sind. Bis das
geschehen, hat es noch gute Wege und für die nächste Zukunft der sogenannten
„Freiheitsfrage" in Oestreich ist die trotz des Abkommens mit der National¬
bank geschehene Notenemission des Finanzministeriums sehr viel typischer als
das liberale Ministerverantwortlichkeitsgesetz, oder das „ächt-parlamentarische"
Verhalten des k. k. Cabinets in Sachen der wieder beanstandeten Befestigung
Wiens. Man ist im andern Lager mit Vergleichen zwischen Wien und Berlin
stets bei der Hand gewesen, wo diese sich auf Unkosten Preußens anstellen
ließen — warum geht man jetzt der Frage aus dem Wege, ob ein Vorgang
wie dieser in Berlin möglich gewesen wäre? Der moralische Credit eines Staates
steht mit dem finanziellen stets im engsten Zusammenhang und so lange die
leichtsinnige und leichtfertige östreichische Notenwirthschaft ihr Spiel weiter treibt,
Preußens FinanzverlMtnisse aber allem militärischen Aufwands zum Trotz
mustergiltig bleiben, wird es den „Jdealpolitikcrn" gelbweißer, grünweißer oder
schwarzgelber Farbe nicht gelingen, den Einfluß des Kaiserstaats zu retabliren.
Sicherheit des Eigenthums wird stets die erste Forderung staatlicher Existenz
und „freiheitlicher" Entwickelung bleiben und kein liberales Ministerverantwort¬
lichkeitsgesetz, kein Parlamentarismus kann ersetzen, was durch eine Finanz-
Wirthschaft, die sich über übernommene Verpflichtungen hinwegsetzt und die
einfachsten Zustände des Privatrechts verletzt, verloren geht.

' Nicht in Oestreich allein, auch in Rußland hat es während des abgelau¬
fenen Monats ein parlamentarisches Ereigniß gegeben; Anfang Juni wurde der
seit dem Januar versammelt gewesene finnische Landtag geschlossen. Dieser
nach altschwedischen Muster aus vier Ständen zusammengesetzte Körper, der
nach beinahe fünfzigjähriger Quiescirung im Jahre 1862 von dem gegenwär¬
tigen Beherrscher Rußlands zum ersten Male wieder einberufen worden war,
hat während seiner letzten Diät eine Reihe für das Großherzogthum Finnland
wichtiger Gesetze discutirt. Die bereits früher beschlossene Einführung der an
Stelle des Schwedischen tretenden finnischen Sprache in Kirche, Schule und Ge¬
richtshof ist im Detail berathen und durchgeführt, die Gleichberechtigung aller
Konfessionen mit der bis dazu ausschließlich herrschenden lutherischen Kirche
bewilligt, der privilegirte Gerichtsstand des Adels aufgehoben, endlich in dem
aus allen vier Curien beschickten ständischen Ausschuß ein Organ geschaffen
worden, das die Vorberathung künftiger Gesetzcsvorschläge außerhalb der ve-
engten ständischen Schranke vornehmen kann. Von weitergehenden und wahr¬
haft allgemeinem Interesse ist namentlich die Einführung der finnischen Sprache
an Stelle der schwedischen, d. h. die Vertauschung einer alten Cultursprache


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[0040] Oestreicher, daß von Parlamentarismus und echt constitutionellen Regiment erst die Rede sein kann, wenn die Fragen nach der künftigen Form des Kai- serstaates. der Auseinandersetzung zwischen Ungarn und Nichtungarn, und der Verständigung zwischen Deutschen und Slawen, beantwortet sind. Bis das geschehen, hat es noch gute Wege und für die nächste Zukunft der sogenannten „Freiheitsfrage" in Oestreich ist die trotz des Abkommens mit der National¬ bank geschehene Notenemission des Finanzministeriums sehr viel typischer als das liberale Ministerverantwortlichkeitsgesetz, oder das „ächt-parlamentarische" Verhalten des k. k. Cabinets in Sachen der wieder beanstandeten Befestigung Wiens. Man ist im andern Lager mit Vergleichen zwischen Wien und Berlin stets bei der Hand gewesen, wo diese sich auf Unkosten Preußens anstellen ließen — warum geht man jetzt der Frage aus dem Wege, ob ein Vorgang wie dieser in Berlin möglich gewesen wäre? Der moralische Credit eines Staates steht mit dem finanziellen stets im engsten Zusammenhang und so lange die leichtsinnige und leichtfertige östreichische Notenwirthschaft ihr Spiel weiter treibt, Preußens FinanzverlMtnisse aber allem militärischen Aufwands zum Trotz mustergiltig bleiben, wird es den „Jdealpolitikcrn" gelbweißer, grünweißer oder schwarzgelber Farbe nicht gelingen, den Einfluß des Kaiserstaats zu retabliren. Sicherheit des Eigenthums wird stets die erste Forderung staatlicher Existenz und „freiheitlicher" Entwickelung bleiben und kein liberales Ministerverantwort¬ lichkeitsgesetz, kein Parlamentarismus kann ersetzen, was durch eine Finanz- Wirthschaft, die sich über übernommene Verpflichtungen hinwegsetzt und die einfachsten Zustände des Privatrechts verletzt, verloren geht. ' Nicht in Oestreich allein, auch in Rußland hat es während des abgelau¬ fenen Monats ein parlamentarisches Ereigniß gegeben; Anfang Juni wurde der seit dem Januar versammelt gewesene finnische Landtag geschlossen. Dieser nach altschwedischen Muster aus vier Ständen zusammengesetzte Körper, der nach beinahe fünfzigjähriger Quiescirung im Jahre 1862 von dem gegenwär¬ tigen Beherrscher Rußlands zum ersten Male wieder einberufen worden war, hat während seiner letzten Diät eine Reihe für das Großherzogthum Finnland wichtiger Gesetze discutirt. Die bereits früher beschlossene Einführung der an Stelle des Schwedischen tretenden finnischen Sprache in Kirche, Schule und Ge¬ richtshof ist im Detail berathen und durchgeführt, die Gleichberechtigung aller Konfessionen mit der bis dazu ausschließlich herrschenden lutherischen Kirche bewilligt, der privilegirte Gerichtsstand des Adels aufgehoben, endlich in dem aus allen vier Curien beschickten ständischen Ausschuß ein Organ geschaffen worden, das die Vorberathung künftiger Gesetzcsvorschläge außerhalb der ve- engten ständischen Schranke vornehmen kann. Von weitergehenden und wahr¬ haft allgemeinem Interesse ist namentlich die Einführung der finnischen Sprache an Stelle der schwedischen, d. h. die Vertauschung einer alten Cultursprache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/40>, abgerufen am 15.01.2025.