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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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bedürfte dann vollends der Täuschungen des Jahres 1814, um in den ernster
Denkenden allmälig ein anderes politisches Ideal zu reifen.

Auch Azeglio hatte in seiner Jugend, trotz der Traditionen seines väterlichen
Hauses, die Krankheit seiner Zeit getheilt, und mit einem gewissen Vergnügen
erinnerte er sich an die Periode, wo er gleichfalls Bürger von Athen und
Sparta gewesen, wo es seine höchste Lust war, im Gedanken des Tyrannen-
mords zu schwelgen, wo er die alfierischm Tragödien auswendig lernte und mit
den Freunden aufführte, oder in das Zimmer eingeschlossen, schäumenden Mundes
declamirend auf und ablief und sich an all den Wuthscenen berauschte, von
denen er freilich später nicht verstehen konnte, was sie in der heutigen Gesell¬
schaft noch bedeuten sollen.

Das Verdienst bleibt Alfieri immer, daß er die italienische Nation gleichsam
entdeckt hat, daß von ihm der erste Hauch des nationalen Lebens ausgegangen
ist. Allein nicht minder gewiß ist, daß das gesteigerte monotone Pathos seiner
Stücke, daß seine Verherrlichung des Tyrannenmords vom ungünstigsten Einfluß
auf den italienischen Nationalcharakter war. Was ist denn bei dieser Weltan¬
schauung, ruft Azeglio beim Rückblick auf jene Zeit aus, der Superlativ der
Tugend und des Ruhms? Was das Heilmittel gegen alle durch schlechte Fürsten
und schlechte Regierungen verursachte Uebel, der kürzeste Weg. um ein Volk zur
vollkommenen Freiheit und Glückseligkeit zu führen? Sich hinter eine Thür
verstecken und dem Tyrannen auflauern; wann er vorübergeht, bums, ein
wohlgezielter Schlag auf den Kopf, und alles ist fertig und zu Ende, alle
sind zufrieden, alle sind frei, unabhängig, glücklich, tugendhaft, gleich, liebende
Brüder, kurz, das Himmelreich ist auf Erden angebrochen. Das ist aber, fährt
unser Autor fort, heute noch die Politik auf unsern Universitäten, auf den
Galerien der Theater, in den Bigliards, in den Cas6s, in der Presse zum großen
Theil, und in den Barbierstubcn (und diese Liste umfaßt reichlich drei Viertel
der Italiener!), und für all diese Ueberrcizungen des Gehirns ungebildeter Leute/
für diese ungezügelten Phantasien und Leidenschaften, hervorgebracht durch schlecht
verdaute Beispiele des Alterthums und durch die Glorisicirungen der Tragödien,
trägt ein wenig der Graf Alfieri die Schuld,

Was aber Azeglio aus jener Periode blieb und mit den Jahren wuchs,
war das lebendige Gefühl der Nation alität. die Scham über die Erniedrigung
seines Volks. Schon bei seinem ersten Aufenthalt in Rom. wenn er die Hal¬
tung der Fremden beobachtete, ihr Benehmen mit den Römern jeden Standes,
in der Gesellschaft, bei den öffentlichen Festen, z. B. bei den Feierlichkeiten der
heiligen Woche, war es ihm unerträglich, diese stolze Sicherheit zu sehen, diese
Gewohnheit zu herrschen, diese Ungezogenheiten gegen Offiziere und Soldaten.
Die Engländer waren die unverschämtesten von allen, und er konnte seine Freude
nicht verhehlen, wenn einmal doch ein Sohn Albions, der zu weit gegangen


bedürfte dann vollends der Täuschungen des Jahres 1814, um in den ernster
Denkenden allmälig ein anderes politisches Ideal zu reifen.

Auch Azeglio hatte in seiner Jugend, trotz der Traditionen seines väterlichen
Hauses, die Krankheit seiner Zeit getheilt, und mit einem gewissen Vergnügen
erinnerte er sich an die Periode, wo er gleichfalls Bürger von Athen und
Sparta gewesen, wo es seine höchste Lust war, im Gedanken des Tyrannen-
mords zu schwelgen, wo er die alfierischm Tragödien auswendig lernte und mit
den Freunden aufführte, oder in das Zimmer eingeschlossen, schäumenden Mundes
declamirend auf und ablief und sich an all den Wuthscenen berauschte, von
denen er freilich später nicht verstehen konnte, was sie in der heutigen Gesell¬
schaft noch bedeuten sollen.

Das Verdienst bleibt Alfieri immer, daß er die italienische Nation gleichsam
entdeckt hat, daß von ihm der erste Hauch des nationalen Lebens ausgegangen
ist. Allein nicht minder gewiß ist, daß das gesteigerte monotone Pathos seiner
Stücke, daß seine Verherrlichung des Tyrannenmords vom ungünstigsten Einfluß
auf den italienischen Nationalcharakter war. Was ist denn bei dieser Weltan¬
schauung, ruft Azeglio beim Rückblick auf jene Zeit aus, der Superlativ der
Tugend und des Ruhms? Was das Heilmittel gegen alle durch schlechte Fürsten
und schlechte Regierungen verursachte Uebel, der kürzeste Weg. um ein Volk zur
vollkommenen Freiheit und Glückseligkeit zu führen? Sich hinter eine Thür
verstecken und dem Tyrannen auflauern; wann er vorübergeht, bums, ein
wohlgezielter Schlag auf den Kopf, und alles ist fertig und zu Ende, alle
sind zufrieden, alle sind frei, unabhängig, glücklich, tugendhaft, gleich, liebende
Brüder, kurz, das Himmelreich ist auf Erden angebrochen. Das ist aber, fährt
unser Autor fort, heute noch die Politik auf unsern Universitäten, auf den
Galerien der Theater, in den Bigliards, in den Cas6s, in der Presse zum großen
Theil, und in den Barbierstubcn (und diese Liste umfaßt reichlich drei Viertel
der Italiener!), und für all diese Ueberrcizungen des Gehirns ungebildeter Leute/
für diese ungezügelten Phantasien und Leidenschaften, hervorgebracht durch schlecht
verdaute Beispiele des Alterthums und durch die Glorisicirungen der Tragödien,
trägt ein wenig der Graf Alfieri die Schuld,

Was aber Azeglio aus jener Periode blieb und mit den Jahren wuchs,
war das lebendige Gefühl der Nation alität. die Scham über die Erniedrigung
seines Volks. Schon bei seinem ersten Aufenthalt in Rom. wenn er die Hal¬
tung der Fremden beobachtete, ihr Benehmen mit den Römern jeden Standes,
in der Gesellschaft, bei den öffentlichen Festen, z. B. bei den Feierlichkeiten der
heiligen Woche, war es ihm unerträglich, diese stolze Sicherheit zu sehen, diese
Gewohnheit zu herrschen, diese Ungezogenheiten gegen Offiziere und Soldaten.
Die Engländer waren die unverschämtesten von allen, und er konnte seine Freude
nicht verhehlen, wenn einmal doch ein Sohn Albions, der zu weit gegangen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/388>, abgerufen am 15.01.2025.