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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Denkwürdigkeiten Mchimo d'Azeglios.

I ulei riooräi. öl Nassimo ä'^^eglio. II. Vol. ?irMüö 1867.

Es stünde gut um Italien, wenn die Uebel, an denen es heute krankt,
ebenso leicht beseitigt wären, als sie eingesehen und offen anerkannt sind.
Die Knechtschaft und Zerrissenheit, in der sich das Land bis vor wenigen Jahren
befand, hat tiefere Spuren dem Charakter des Volks aufgedrückt, als daß sie
in der kurzen Zeit der politischen Wiedergeburt hätten verwischt werden können.
Diese selbst hat theils durch das feurige Temperament der Südländer, die durch
ihre Regierungen zu Haß und Leidenschaften erzogen waren, theils durch wunder¬
bar begünstigende äußere Umstände einen so raschen Verlauf genommen, daß
die moralische und politische Bildung unmöglich gleichen Schritt mit ihr halten
konnte. Haß und Leidenschaft sind wohl die geeigneten Triebfedern, um über¬
lebte Regierungen über den Haufen zu werfen, aber sie genügen noch nicht, um
neue dauerhafte Zustände an deren Stelle zu setzen, zumal wenn diese, wie hier
der Fall ist, durch die fast unbeschränkte Souveränetät deS Volks ins Leben
gerufen und erhalten werden sollen. Dies machte sich weniger fühlbar, so
lange die erste Begeisterung währte und die Autorität eines Cavour eine kaum
empfundene Dictatur ausübte. Als aber nach dem Hingang dieses Staats¬
mannes die Nation wirklich zur Ausübung ihrer Souveränetät berufen wurde,
zeigte es sich, daß die Zeiten einer despotischen Vielherrschaft wohl eine treffliche
Schule für die Konspiration, nicht aber für Selbstregierung und Parlamentaris¬
mus gewesen waren. Man preist es gemeinhin als ein erstaunliches Glück,
daß Italien, wie man zu sagen pflegt, mit der Einheit zugleich die Freiheit
sich errang. Sofern aber unter Freiheit die tadellos fertige constitutionelle
Form verstanden wird, darf man nach den Erfahrungen der letzten Jahre dieses
Glück wohl ein zweifelhaftes nennen. Bei jeder Ministerkrisis schien das ganze
Staatsgebäude zu erzittern, der ganze Erwerb wieder in Frage zu stehen. Die


Grenzboten III. 1867. 41
Denkwürdigkeiten Mchimo d'Azeglios.

I ulei riooräi. öl Nassimo ä'^^eglio. II. Vol. ?irMüö 1867.

Es stünde gut um Italien, wenn die Uebel, an denen es heute krankt,
ebenso leicht beseitigt wären, als sie eingesehen und offen anerkannt sind.
Die Knechtschaft und Zerrissenheit, in der sich das Land bis vor wenigen Jahren
befand, hat tiefere Spuren dem Charakter des Volks aufgedrückt, als daß sie
in der kurzen Zeit der politischen Wiedergeburt hätten verwischt werden können.
Diese selbst hat theils durch das feurige Temperament der Südländer, die durch
ihre Regierungen zu Haß und Leidenschaften erzogen waren, theils durch wunder¬
bar begünstigende äußere Umstände einen so raschen Verlauf genommen, daß
die moralische und politische Bildung unmöglich gleichen Schritt mit ihr halten
konnte. Haß und Leidenschaft sind wohl die geeigneten Triebfedern, um über¬
lebte Regierungen über den Haufen zu werfen, aber sie genügen noch nicht, um
neue dauerhafte Zustände an deren Stelle zu setzen, zumal wenn diese, wie hier
der Fall ist, durch die fast unbeschränkte Souveränetät deS Volks ins Leben
gerufen und erhalten werden sollen. Dies machte sich weniger fühlbar, so
lange die erste Begeisterung währte und die Autorität eines Cavour eine kaum
empfundene Dictatur ausübte. Als aber nach dem Hingang dieses Staats¬
mannes die Nation wirklich zur Ausübung ihrer Souveränetät berufen wurde,
zeigte es sich, daß die Zeiten einer despotischen Vielherrschaft wohl eine treffliche
Schule für die Konspiration, nicht aber für Selbstregierung und Parlamentaris¬
mus gewesen waren. Man preist es gemeinhin als ein erstaunliches Glück,
daß Italien, wie man zu sagen pflegt, mit der Einheit zugleich die Freiheit
sich errang. Sofern aber unter Freiheit die tadellos fertige constitutionelle
Form verstanden wird, darf man nach den Erfahrungen der letzten Jahre dieses
Glück wohl ein zweifelhaftes nennen. Bei jeder Ministerkrisis schien das ganze
Staatsgebäude zu erzittern, der ganze Erwerb wieder in Frage zu stehen. Die


Grenzboten III. 1867. 41
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[0331] Denkwürdigkeiten Mchimo d'Azeglios. I ulei riooräi. öl Nassimo ä'^^eglio. II. Vol. ?irMüö 1867. Es stünde gut um Italien, wenn die Uebel, an denen es heute krankt, ebenso leicht beseitigt wären, als sie eingesehen und offen anerkannt sind. Die Knechtschaft und Zerrissenheit, in der sich das Land bis vor wenigen Jahren befand, hat tiefere Spuren dem Charakter des Volks aufgedrückt, als daß sie in der kurzen Zeit der politischen Wiedergeburt hätten verwischt werden können. Diese selbst hat theils durch das feurige Temperament der Südländer, die durch ihre Regierungen zu Haß und Leidenschaften erzogen waren, theils durch wunder¬ bar begünstigende äußere Umstände einen so raschen Verlauf genommen, daß die moralische und politische Bildung unmöglich gleichen Schritt mit ihr halten konnte. Haß und Leidenschaft sind wohl die geeigneten Triebfedern, um über¬ lebte Regierungen über den Haufen zu werfen, aber sie genügen noch nicht, um neue dauerhafte Zustände an deren Stelle zu setzen, zumal wenn diese, wie hier der Fall ist, durch die fast unbeschränkte Souveränetät deS Volks ins Leben gerufen und erhalten werden sollen. Dies machte sich weniger fühlbar, so lange die erste Begeisterung währte und die Autorität eines Cavour eine kaum empfundene Dictatur ausübte. Als aber nach dem Hingang dieses Staats¬ mannes die Nation wirklich zur Ausübung ihrer Souveränetät berufen wurde, zeigte es sich, daß die Zeiten einer despotischen Vielherrschaft wohl eine treffliche Schule für die Konspiration, nicht aber für Selbstregierung und Parlamentaris¬ mus gewesen waren. Man preist es gemeinhin als ein erstaunliches Glück, daß Italien, wie man zu sagen pflegt, mit der Einheit zugleich die Freiheit sich errang. Sofern aber unter Freiheit die tadellos fertige constitutionelle Form verstanden wird, darf man nach den Erfahrungen der letzten Jahre dieses Glück wohl ein zweifelhaftes nennen. Bei jeder Ministerkrisis schien das ganze Staatsgebäude zu erzittern, der ganze Erwerb wieder in Frage zu stehen. Die Grenzboten III. 1867. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/331>, abgerufen am 15.01.2025.