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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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des ersten und des zweiten Kaisertums zusammenzustellen. Guizot charakterisirte
in einer Kammerrede das Verhalten des Publikums in derartigen Fällen sehr
richtig.: "Wir glauben zu leicht an die Korruption und wir vergessen sie zu
schnell .... Ich wünschte, daß wir etwas weniger beflissen wären, an das Uebel
zu glauben, bevor wir es kennen, und etwas beharrlicher in der Verurteilung
desselben, wenn wir es kennen. Lassen sie uns weniger argwöhnisch und dafür
um so strenger sein." Gewiß ein treffendes Wort. Die Nachsicht der öffent¬
lichen Meinung hatte das Uebel großgezogen; die edleren Gefühle, die es mi߬
billigten, bedurften der politischen Aufregung, um aus ihrem Schlummer geweckt
zu werden. Die Reaction gegen die Schlaffheit des öffentlichen Urtheils trat
nur da ein, wo sie ihrer Aufgabe mit Pathos und rhetorischen Schwunge sich
entledigen konnte.

Während die dynastische Opposition sich an diesen Angriffen, um Guizots
Stellung zu untergraben, aufs lebhafteste betheiligte. merkte sie nicht, daß die
Leitung der öffentlichen Meinung, je erbitterter die Kämpfe in den Kammern
wurden, um so mehr in die Hände der Republikaner überging, und daß sie selbst
von den Streichen, die diese gegen die Verderbniß des Systems führten, eben¬
so getroffen wurden, als das Ministerium. Sie waren -- wie auch nach der
Auffassung Gu'zots. dessen Objectivität und Unparteilichkeit in der Beurtheilung
seiner Gegner sich auch in der Schilderung der Schlußkatastrophe nickt einen
Augenblick verläugnet -- aufrichtig überzeugt von der Nothwendigkeit eines
Mimsterwechsels und einer Modification des herrschenden Negierungssystems.
Sie hatten in dem langen Kampfe gegen Guizot sich daran gewöhnt, die Ra-
dicalen als Verbündete anzusehen, denen man wohl einige Concessionen machen
müßte, die aber doch zu schwach wären, um daran denken zu können, die Früchte
des Sieges mit ihnen zu theile"; man hatte auch, im Gefühle der eigenen
Ueberlegenheit. keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um den Gegensatz der
Principien, der die orleanistische von der republikanischen Opposition trennte,
offen darzulegen. Von dem Augenblicke an, wo sie sich in Gemeinschaft mit
den Radikalen entschlossen, durch die Bankette die Massen in Bewegung zu
setzen, wurde die Scheidelinie zwischen den beiden Fraktionen verwischt, oder
vielmehr die Republikaner traten in die erste Linie, die Orleanisten mußten sich mit
der Rolle der untergeordneten Verbündeten begnügen. Ganz richtig bemerkt
Guizot. daß es sich jetzt nur um die Frage gehandelt habe, welche der beiden
Oppositionen das Werkzeug der andern sein würde, daß aber, sobald die Frage
so gestellt war, auch die Entscheidung nicht mehr zweifelhaft sein konnte. Als
die Fractionen über das letzte verhängnisvolle Banket von Chateau-Rouge
einig geworden waren, fühlten sich die Republikaner ihres Sieges sicher. Gar-
nier-Pagvs. dessen treffende Schilderung der Situation Guizot anführt, spricht
es offen aus. Nach der entscheidenden Zusammenkunft bei Odilon Barrot. so


des ersten und des zweiten Kaisertums zusammenzustellen. Guizot charakterisirte
in einer Kammerrede das Verhalten des Publikums in derartigen Fällen sehr
richtig.: „Wir glauben zu leicht an die Korruption und wir vergessen sie zu
schnell .... Ich wünschte, daß wir etwas weniger beflissen wären, an das Uebel
zu glauben, bevor wir es kennen, und etwas beharrlicher in der Verurteilung
desselben, wenn wir es kennen. Lassen sie uns weniger argwöhnisch und dafür
um so strenger sein." Gewiß ein treffendes Wort. Die Nachsicht der öffent¬
lichen Meinung hatte das Uebel großgezogen; die edleren Gefühle, die es mi߬
billigten, bedurften der politischen Aufregung, um aus ihrem Schlummer geweckt
zu werden. Die Reaction gegen die Schlaffheit des öffentlichen Urtheils trat
nur da ein, wo sie ihrer Aufgabe mit Pathos und rhetorischen Schwunge sich
entledigen konnte.

Während die dynastische Opposition sich an diesen Angriffen, um Guizots
Stellung zu untergraben, aufs lebhafteste betheiligte. merkte sie nicht, daß die
Leitung der öffentlichen Meinung, je erbitterter die Kämpfe in den Kammern
wurden, um so mehr in die Hände der Republikaner überging, und daß sie selbst
von den Streichen, die diese gegen die Verderbniß des Systems führten, eben¬
so getroffen wurden, als das Ministerium. Sie waren — wie auch nach der
Auffassung Gu'zots. dessen Objectivität und Unparteilichkeit in der Beurtheilung
seiner Gegner sich auch in der Schilderung der Schlußkatastrophe nickt einen
Augenblick verläugnet — aufrichtig überzeugt von der Nothwendigkeit eines
Mimsterwechsels und einer Modification des herrschenden Negierungssystems.
Sie hatten in dem langen Kampfe gegen Guizot sich daran gewöhnt, die Ra-
dicalen als Verbündete anzusehen, denen man wohl einige Concessionen machen
müßte, die aber doch zu schwach wären, um daran denken zu können, die Früchte
des Sieges mit ihnen zu theile»; man hatte auch, im Gefühle der eigenen
Ueberlegenheit. keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um den Gegensatz der
Principien, der die orleanistische von der republikanischen Opposition trennte,
offen darzulegen. Von dem Augenblicke an, wo sie sich in Gemeinschaft mit
den Radikalen entschlossen, durch die Bankette die Massen in Bewegung zu
setzen, wurde die Scheidelinie zwischen den beiden Fraktionen verwischt, oder
vielmehr die Republikaner traten in die erste Linie, die Orleanisten mußten sich mit
der Rolle der untergeordneten Verbündeten begnügen. Ganz richtig bemerkt
Guizot. daß es sich jetzt nur um die Frage gehandelt habe, welche der beiden
Oppositionen das Werkzeug der andern sein würde, daß aber, sobald die Frage
so gestellt war, auch die Entscheidung nicht mehr zweifelhaft sein konnte. Als
die Fractionen über das letzte verhängnisvolle Banket von Chateau-Rouge
einig geworden waren, fühlten sich die Republikaner ihres Sieges sicher. Gar-
nier-Pagvs. dessen treffende Schilderung der Situation Guizot anführt, spricht
es offen aus. Nach der entscheidenden Zusammenkunft bei Odilon Barrot. so


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[0310] des ersten und des zweiten Kaisertums zusammenzustellen. Guizot charakterisirte in einer Kammerrede das Verhalten des Publikums in derartigen Fällen sehr richtig.: „Wir glauben zu leicht an die Korruption und wir vergessen sie zu schnell .... Ich wünschte, daß wir etwas weniger beflissen wären, an das Uebel zu glauben, bevor wir es kennen, und etwas beharrlicher in der Verurteilung desselben, wenn wir es kennen. Lassen sie uns weniger argwöhnisch und dafür um so strenger sein." Gewiß ein treffendes Wort. Die Nachsicht der öffent¬ lichen Meinung hatte das Uebel großgezogen; die edleren Gefühle, die es mi߬ billigten, bedurften der politischen Aufregung, um aus ihrem Schlummer geweckt zu werden. Die Reaction gegen die Schlaffheit des öffentlichen Urtheils trat nur da ein, wo sie ihrer Aufgabe mit Pathos und rhetorischen Schwunge sich entledigen konnte. Während die dynastische Opposition sich an diesen Angriffen, um Guizots Stellung zu untergraben, aufs lebhafteste betheiligte. merkte sie nicht, daß die Leitung der öffentlichen Meinung, je erbitterter die Kämpfe in den Kammern wurden, um so mehr in die Hände der Republikaner überging, und daß sie selbst von den Streichen, die diese gegen die Verderbniß des Systems führten, eben¬ so getroffen wurden, als das Ministerium. Sie waren — wie auch nach der Auffassung Gu'zots. dessen Objectivität und Unparteilichkeit in der Beurtheilung seiner Gegner sich auch in der Schilderung der Schlußkatastrophe nickt einen Augenblick verläugnet — aufrichtig überzeugt von der Nothwendigkeit eines Mimsterwechsels und einer Modification des herrschenden Negierungssystems. Sie hatten in dem langen Kampfe gegen Guizot sich daran gewöhnt, die Ra- dicalen als Verbündete anzusehen, denen man wohl einige Concessionen machen müßte, die aber doch zu schwach wären, um daran denken zu können, die Früchte des Sieges mit ihnen zu theile»; man hatte auch, im Gefühle der eigenen Ueberlegenheit. keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um den Gegensatz der Principien, der die orleanistische von der republikanischen Opposition trennte, offen darzulegen. Von dem Augenblicke an, wo sie sich in Gemeinschaft mit den Radikalen entschlossen, durch die Bankette die Massen in Bewegung zu setzen, wurde die Scheidelinie zwischen den beiden Fraktionen verwischt, oder vielmehr die Republikaner traten in die erste Linie, die Orleanisten mußten sich mit der Rolle der untergeordneten Verbündeten begnügen. Ganz richtig bemerkt Guizot. daß es sich jetzt nur um die Frage gehandelt habe, welche der beiden Oppositionen das Werkzeug der andern sein würde, daß aber, sobald die Frage so gestellt war, auch die Entscheidung nicht mehr zweifelhaft sein konnte. Als die Fractionen über das letzte verhängnisvolle Banket von Chateau-Rouge einig geworden waren, fühlten sich die Republikaner ihres Sieges sicher. Gar- nier-Pagvs. dessen treffende Schilderung der Situation Guizot anführt, spricht es offen aus. Nach der entscheidenden Zusammenkunft bei Odilon Barrot. so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/310>, abgerufen am 15.01.2025.