Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.Geist, der sich während des ersten Jahrzehnts der Julimonarchie in wiederholten Auch in Frankreich war der Glaube an das Erlöschen des revolutionären Aber grade die scheinbare Stärke der Situation, die das Urtheil der Grenzboten III. 18K7. 38
Geist, der sich während des ersten Jahrzehnts der Julimonarchie in wiederholten Auch in Frankreich war der Glaube an das Erlöschen des revolutionären Aber grade die scheinbare Stärke der Situation, die das Urtheil der Grenzboten III. 18K7. 38
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Geist, der sich während des ersten Jahrzehnts der Julimonarchie in wiederholten
Aufständen Luft gemacht holte, dessen gewaltsame Zuckungen Frankreich als einen
rastlos arbeitenden Vulkan erscheinen ließen, dieser stürmisch erregte Geist schien
sich selbst verzehrt zu haben. Ludwig Philipp galt bei den europäischen Cabi-
neten für den Bändiger der Revolution. Man verzieh ihm eine Usurpation,
die er zur Wiederherstellung geordneter Zustände benutzt hatte.
Auch in Frankreich war der Glaube an das Erlöschen des revolutionären
Geistes, wenn nicht allgemein, doch weit verbreitet. Der Herzog von Broglie
räth Guizot im Jahre 1844, einige Schwankungen der Majorität durch seinen
Rücktritt zu bestrafen, sowohl um selbst seine Kräfte wieder zu sammeln, und
der Gefahr der Abnutzung zu entgehen, als auch um seinerseits der konservativen
Partei eine Lection zu ertheilen. Die augenblickliche Situation hinderte Guizot,
diesen Rath, dessen Motive er wohl zu würdigen weiß, zu befolgen, und das
Resultat der Neuwahlen überhob ihn der Nothwendigkeit, ein so drastisches
Disciplinarmittel gegen die Phalanx seiner Getreuen zur Anwendung zu bringen.
Das Charakteristische an diesem kleinen Meinungsaustausch der beiden nahe ve-
freundeten Staatsmänner ist, daß beide wohl eine Gefahr ahnen, aber doch
weit entfernt sind, die Quelle derselben zu erkennen. Den parlamentarischen
Anforderungen war Guijots Autorität vollkommen gewachsen: die kleinen
Schwankungen, die in der Majorität sich zuweilen zeigten, waren durchaus be¬
deutungslos gewesen; die Partei blieb ihm treu bis zu dem Augenblicke seines
Sturzes. Den stürmischen Angriffen der leidenschaftlich erregten Opposition ge¬
genüber hielt sie unerschütterlich Stand; aber die ausschließliche Aufmerksamkeit
auf die parlamentarischen Kämpfe hinderte sie, wie Guizot selbst, zu bemerken,
daß die Gegner, die ihm von der Tribüne ihre Kriegserklärungen entgegenschleu¬
derten, nur die theils bewußten, theils unfreiwilligen Wortführer einer noch im
Stillen sich organisirenden Macht waren, die sich nicht die Reform der Ver¬
fassung, sondern den Umsturz der Monarchie zum Ziele gesetzt hatte. Die revo¬
lutionären Erfahrungen, welche die Staatsmänner der Julimonarchie gemacht,
hatten ihre Voraussicht nicht geschärft; ja sie trugen vielleicht dazu bei, sie in
falsche Sicherheit über die Gefahren der Zukunft einzuwiegen. Die ältere Linie
war des Thrones beraubt worden, weil sie in dem Kampfe gegen die gesetz¬
mäßige Vertretung des Landes bis zu einem Attentat gegen den Bestand der
Verfassung vorgegangen war: das Julikönigthum hatte seine Kraft in der Ver-
theidigung der Verfassung gegen zahllose Emeuten erprobt, und Ludwig Philipps
ganze Denk- und Sinnesweise gab die sicherste Bürgschaft dafür, daß er unter
keinen Umständen sich mit den constiluirien Gewalten in Widerspruch setzen
Würde. Eine Siiuation wie die, aus welcher die Julirevolutuon hervorgegangen
war, konnte nicht eintreten. Was hatte man also zu befürchten?
Aber grade die scheinbare Stärke der Situation, die das Urtheil der
Grenzboten III. 18K7. 38
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