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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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bereits nach Rußland zurückgekehrt, um mit der Negierung Frieden zu machen
und in der herrschenden Strömung aufzugehen. Im Grunde sind sie nie mehr
gewesen als die russischen Vertreter der aus Angehörigen aller Länder zusam¬
mengesetzten londoner Nevolutivnspropaganda.

So bekannt das Geschick dieses heute vollständig bedeutungslos gewordenen
Zweiges der russischen politischen Flüchtlingschaft geworden ist. so wenig weiß
man von einem andern Theil der russischen Emigration, der numerisch sehr
viel zahlreicher und im Grunde sehr viel interessanter ist, als die Genossenschaft
der Herzen, Bakunin und Ogarew. Längs der Ostgrenze Oestreichs, vornehmlich
in der Bukowina und in Siebenbürgen, sowie in den nördlichen Provinzen der
Türkei leben seit Jahrzehnten Tausende russischer und kosakischer Flüchtlinge, die,
ausnahmslos den untersten Classen angehörig, aus religiösen Gründen ihre
Heimath aufgegeben haben -- Glieder der zahllosen s. g. altgläubigen Secten,
die in Nußland weitverbreitet sind. Das russische Schisma, die Gesammtheit
der im 17. und 18. Jahrhundert von der griechisch-orthodoxen Kirche abgefallenen
Gruppen, war bis in die neueste Zeit Verfolgungen und Bedrückungen der
härtesten Art ausgesetzt; seit den Tagen der von dem Patriarchen nitor voll¬
zogenen russischen Kirchenreformation führt die herrschende Kirche einen erbitterten
und bisher vergeblichen Kampf gegen nahezu ein Fünftheil aller Russen, die
in zahlreiche Secten gespalten, die Bekenner des alten orientalischen Christen¬
thums zu sein behaupten und sich als solche "Altgläubige" nennen.

Drei verschiedene Richtungen werden innerhalb dieses Schismas unter¬
schieden, die sich unter einander befehden und nur in der Feindschaft und Ab¬
neigung gegen die Staatskirche einig sind: die hierarchischen, die popenlosen
und die reformatorischen Secten. Die popenlosen Secten, die im nördlichen
Rußland besonders verbreitet sind, repräsentiren die äußerste Linke des gesammten
Schismas; ihrer Ansicht nach ist zufolge der Abwendung des Klerus von der
reinen Lehre das apostolische Priesterthum aufgelöst und verloren gegangen und
ein abnormer Zustand eingetreten, der u. a. die kirchliche Einsegnung der Ehen,
ja den Abschluß derselben, sowie den Gebrauch der Sacramente unmöglich macht.
Die extremsten unter den außerordentlich zahlreichen Secten dieser Gruppe halten
die gesammte sittliche Weltordnung für suspendirt, erkennen keine kirchliche und
keine weltliche Obrigkeit an und sehen in der Flucht vor der Welt das einzige
Heil; es giebt unter ihnen sogar Gesellschaften, welche die Selbstverbrennung
für das einzige Mittel der Rettung der Seele halten, die Entmannung fordern
u. s. w. Sehr viel weniger verbreitet als diese "Popenlosen" (die besonders
am weißen Meer und in Sibirien ihr Wesen treiben) sind die spiritualistisch-
reformatorischen Secten, die wesentlich occidentalen Ursprungs, wahrscheinlich
durch deutsche Mystiker gestiftet und von den eigentlichen Altgläubigen durch die
spiritualistische Richtung ihrer Lehre, die den Boden des alten Byzantinismus


bereits nach Rußland zurückgekehrt, um mit der Negierung Frieden zu machen
und in der herrschenden Strömung aufzugehen. Im Grunde sind sie nie mehr
gewesen als die russischen Vertreter der aus Angehörigen aller Länder zusam¬
mengesetzten londoner Nevolutivnspropaganda.

So bekannt das Geschick dieses heute vollständig bedeutungslos gewordenen
Zweiges der russischen politischen Flüchtlingschaft geworden ist. so wenig weiß
man von einem andern Theil der russischen Emigration, der numerisch sehr
viel zahlreicher und im Grunde sehr viel interessanter ist, als die Genossenschaft
der Herzen, Bakunin und Ogarew. Längs der Ostgrenze Oestreichs, vornehmlich
in der Bukowina und in Siebenbürgen, sowie in den nördlichen Provinzen der
Türkei leben seit Jahrzehnten Tausende russischer und kosakischer Flüchtlinge, die,
ausnahmslos den untersten Classen angehörig, aus religiösen Gründen ihre
Heimath aufgegeben haben — Glieder der zahllosen s. g. altgläubigen Secten,
die in Nußland weitverbreitet sind. Das russische Schisma, die Gesammtheit
der im 17. und 18. Jahrhundert von der griechisch-orthodoxen Kirche abgefallenen
Gruppen, war bis in die neueste Zeit Verfolgungen und Bedrückungen der
härtesten Art ausgesetzt; seit den Tagen der von dem Patriarchen nitor voll¬
zogenen russischen Kirchenreformation führt die herrschende Kirche einen erbitterten
und bisher vergeblichen Kampf gegen nahezu ein Fünftheil aller Russen, die
in zahlreiche Secten gespalten, die Bekenner des alten orientalischen Christen¬
thums zu sein behaupten und sich als solche „Altgläubige" nennen.

Drei verschiedene Richtungen werden innerhalb dieses Schismas unter¬
schieden, die sich unter einander befehden und nur in der Feindschaft und Ab¬
neigung gegen die Staatskirche einig sind: die hierarchischen, die popenlosen
und die reformatorischen Secten. Die popenlosen Secten, die im nördlichen
Rußland besonders verbreitet sind, repräsentiren die äußerste Linke des gesammten
Schismas; ihrer Ansicht nach ist zufolge der Abwendung des Klerus von der
reinen Lehre das apostolische Priesterthum aufgelöst und verloren gegangen und
ein abnormer Zustand eingetreten, der u. a. die kirchliche Einsegnung der Ehen,
ja den Abschluß derselben, sowie den Gebrauch der Sacramente unmöglich macht.
Die extremsten unter den außerordentlich zahlreichen Secten dieser Gruppe halten
die gesammte sittliche Weltordnung für suspendirt, erkennen keine kirchliche und
keine weltliche Obrigkeit an und sehen in der Flucht vor der Welt das einzige
Heil; es giebt unter ihnen sogar Gesellschaften, welche die Selbstverbrennung
für das einzige Mittel der Rettung der Seele halten, die Entmannung fordern
u. s. w. Sehr viel weniger verbreitet als diese „Popenlosen" (die besonders
am weißen Meer und in Sibirien ihr Wesen treiben) sind die spiritualistisch-
reformatorischen Secten, die wesentlich occidentalen Ursprungs, wahrscheinlich
durch deutsche Mystiker gestiftet und von den eigentlichen Altgläubigen durch die
spiritualistische Richtung ihrer Lehre, die den Boden des alten Byzantinismus


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[0281] bereits nach Rußland zurückgekehrt, um mit der Negierung Frieden zu machen und in der herrschenden Strömung aufzugehen. Im Grunde sind sie nie mehr gewesen als die russischen Vertreter der aus Angehörigen aller Länder zusam¬ mengesetzten londoner Nevolutivnspropaganda. So bekannt das Geschick dieses heute vollständig bedeutungslos gewordenen Zweiges der russischen politischen Flüchtlingschaft geworden ist. so wenig weiß man von einem andern Theil der russischen Emigration, der numerisch sehr viel zahlreicher und im Grunde sehr viel interessanter ist, als die Genossenschaft der Herzen, Bakunin und Ogarew. Längs der Ostgrenze Oestreichs, vornehmlich in der Bukowina und in Siebenbürgen, sowie in den nördlichen Provinzen der Türkei leben seit Jahrzehnten Tausende russischer und kosakischer Flüchtlinge, die, ausnahmslos den untersten Classen angehörig, aus religiösen Gründen ihre Heimath aufgegeben haben — Glieder der zahllosen s. g. altgläubigen Secten, die in Nußland weitverbreitet sind. Das russische Schisma, die Gesammtheit der im 17. und 18. Jahrhundert von der griechisch-orthodoxen Kirche abgefallenen Gruppen, war bis in die neueste Zeit Verfolgungen und Bedrückungen der härtesten Art ausgesetzt; seit den Tagen der von dem Patriarchen nitor voll¬ zogenen russischen Kirchenreformation führt die herrschende Kirche einen erbitterten und bisher vergeblichen Kampf gegen nahezu ein Fünftheil aller Russen, die in zahlreiche Secten gespalten, die Bekenner des alten orientalischen Christen¬ thums zu sein behaupten und sich als solche „Altgläubige" nennen. Drei verschiedene Richtungen werden innerhalb dieses Schismas unter¬ schieden, die sich unter einander befehden und nur in der Feindschaft und Ab¬ neigung gegen die Staatskirche einig sind: die hierarchischen, die popenlosen und die reformatorischen Secten. Die popenlosen Secten, die im nördlichen Rußland besonders verbreitet sind, repräsentiren die äußerste Linke des gesammten Schismas; ihrer Ansicht nach ist zufolge der Abwendung des Klerus von der reinen Lehre das apostolische Priesterthum aufgelöst und verloren gegangen und ein abnormer Zustand eingetreten, der u. a. die kirchliche Einsegnung der Ehen, ja den Abschluß derselben, sowie den Gebrauch der Sacramente unmöglich macht. Die extremsten unter den außerordentlich zahlreichen Secten dieser Gruppe halten die gesammte sittliche Weltordnung für suspendirt, erkennen keine kirchliche und keine weltliche Obrigkeit an und sehen in der Flucht vor der Welt das einzige Heil; es giebt unter ihnen sogar Gesellschaften, welche die Selbstverbrennung für das einzige Mittel der Rettung der Seele halten, die Entmannung fordern u. s. w. Sehr viel weniger verbreitet als diese „Popenlosen" (die besonders am weißen Meer und in Sibirien ihr Wesen treiben) sind die spiritualistisch- reformatorischen Secten, die wesentlich occidentalen Ursprungs, wahrscheinlich durch deutsche Mystiker gestiftet und von den eigentlichen Altgläubigen durch die spiritualistische Richtung ihrer Lehre, die den Boden des alten Byzantinismus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/281>, abgerufen am 15.01.2025.