Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lion. die zu Zeiten eine ziemlich bedeutende Rolle gespielt und von London aus
die öffentliche Meinung Rußlands dauernd beherrscht hat. Von der Thron¬
besteigung Alexanders des Zweiten bis zum Ausbruch des polnischen Aufstandes
und dem durch diesen vermittelten Umschlag der öffentlichen Meinung zu Gunsten
einer exclusiv-nationalen Richtung war Alexander Herzen, der londoner Flücht¬
ling, so zu sagen der mächtigste Privatmann in Rußland gewesen. Sein in
Hunderttausenden von Exemplaren über Berlin, Wien, Konstantinopel und
Smyrna in das Zaarcnreich eingeschmuggeltes Journal "Kökökök" (die Glocke)
war eine Macht> mit der keine andere concurriren konnte und die einen schranken¬
losen Einfluß auf alle Gebildeten ausübte; trotz des strengsten Verbots wurde
dieses Blatt von jedermann, den Kaiser und die höchsten Würdenträger nicht
ausgenommen, gelesen und gefürchtet. Durch zahlreiche Mitarbeiter aufs ge¬
nauste über alle Erscheinungen des russischen Lebens unterrichtet, war Herzen
im Stande, die intimsten Staatsgeheimnisse zu veröffentlichen und Vorgänge
ans Licht zu ziehen, die selbst dem scharfen Auge der geheimen Polizei entgangen
waren; ein von ihm ausgesprochenes Interdict genügte, um die angesehensten
Männer um allen Credit zu bringen und manches Verbrechen, das in der Stille
sein Wesen getrieben hatte oder wegen der hohen Stellung seiner Thäter todt-
geschwiegen werden sollte, wurde durch die "Glocke" gerechter Bestrafung zu¬
geführt. Das eminente Talent des Herausgebers hat nicht wenig zu der un¬
geheuren Verbreitung socialistischer Principien in Nußland beigetragen und wurde
durch eine Reihe eifriger Genossen, wie Bakunin (den terroristischen Dictator
Dresdens im Jahre 1849), Ogarew und die Brüder Kelssiew unterstützt; ziemlich
gleichzeitig wirkten der Fürst Dolgoruki (I^g, vvritv sur 1a Iwssie), Iwan Golowin
liussiö Lous lNeolks), Leoniv Blümer u. a. in ähnlichem Sinn in Brüssel,
Paris und Berlin und die Zahl der in England, Frankreich, Belgien und
Deutschland während der letzten Jahre veröffentlichten russischen Publicationen
war beinahe ebenso groß und zum Theil einflußreicher, als die Gesammtheit
der in Petersburg und Moskau erscheinenden Journale und Flugschriften. So
verschieden die russischen Emigrantenparteien unter einander waren und noch
jetzt sind (es giebt unter ihnen socialistische, demokratische und aristokratische
Gruppen) -- in einer Beziehung sind sie eng mit einander verwandt: sie stehen
ausnahmslos unter polnischem Einfluß. Die Parteinahme Herzens für den Auf¬
stand von 1863 hat diesen und seine sämmtlichen Freunde um allen Einfluß,
alle Bedeutung gebracht, die "Glocke" verlor den größten Theil ihrer Leserund
ist endlich vollständig verstummt und die russische Regierung giebt sich kaum
mehr die Mühe, die einst so gefürchteten Männer der russischen Emigration in
London zu überwachen; ihr Bündniß mit den Polen hat sie so unpopulär ge¬
macht, daß ihre Namen nicht mehr genannt, ihre Schriften nicht mehr gelesen
werden. Wie wir in der Folge sehen werden, sind einzelne dieser Revolutionär"


lion. die zu Zeiten eine ziemlich bedeutende Rolle gespielt und von London aus
die öffentliche Meinung Rußlands dauernd beherrscht hat. Von der Thron¬
besteigung Alexanders des Zweiten bis zum Ausbruch des polnischen Aufstandes
und dem durch diesen vermittelten Umschlag der öffentlichen Meinung zu Gunsten
einer exclusiv-nationalen Richtung war Alexander Herzen, der londoner Flücht¬
ling, so zu sagen der mächtigste Privatmann in Rußland gewesen. Sein in
Hunderttausenden von Exemplaren über Berlin, Wien, Konstantinopel und
Smyrna in das Zaarcnreich eingeschmuggeltes Journal „Kökökök" (die Glocke)
war eine Macht> mit der keine andere concurriren konnte und die einen schranken¬
losen Einfluß auf alle Gebildeten ausübte; trotz des strengsten Verbots wurde
dieses Blatt von jedermann, den Kaiser und die höchsten Würdenträger nicht
ausgenommen, gelesen und gefürchtet. Durch zahlreiche Mitarbeiter aufs ge¬
nauste über alle Erscheinungen des russischen Lebens unterrichtet, war Herzen
im Stande, die intimsten Staatsgeheimnisse zu veröffentlichen und Vorgänge
ans Licht zu ziehen, die selbst dem scharfen Auge der geheimen Polizei entgangen
waren; ein von ihm ausgesprochenes Interdict genügte, um die angesehensten
Männer um allen Credit zu bringen und manches Verbrechen, das in der Stille
sein Wesen getrieben hatte oder wegen der hohen Stellung seiner Thäter todt-
geschwiegen werden sollte, wurde durch die „Glocke" gerechter Bestrafung zu¬
geführt. Das eminente Talent des Herausgebers hat nicht wenig zu der un¬
geheuren Verbreitung socialistischer Principien in Nußland beigetragen und wurde
durch eine Reihe eifriger Genossen, wie Bakunin (den terroristischen Dictator
Dresdens im Jahre 1849), Ogarew und die Brüder Kelssiew unterstützt; ziemlich
gleichzeitig wirkten der Fürst Dolgoruki (I^g, vvritv sur 1a Iwssie), Iwan Golowin
liussiö Lous lNeolks), Leoniv Blümer u. a. in ähnlichem Sinn in Brüssel,
Paris und Berlin und die Zahl der in England, Frankreich, Belgien und
Deutschland während der letzten Jahre veröffentlichten russischen Publicationen
war beinahe ebenso groß und zum Theil einflußreicher, als die Gesammtheit
der in Petersburg und Moskau erscheinenden Journale und Flugschriften. So
verschieden die russischen Emigrantenparteien unter einander waren und noch
jetzt sind (es giebt unter ihnen socialistische, demokratische und aristokratische
Gruppen) — in einer Beziehung sind sie eng mit einander verwandt: sie stehen
ausnahmslos unter polnischem Einfluß. Die Parteinahme Herzens für den Auf¬
stand von 1863 hat diesen und seine sämmtlichen Freunde um allen Einfluß,
alle Bedeutung gebracht, die „Glocke" verlor den größten Theil ihrer Leserund
ist endlich vollständig verstummt und die russische Regierung giebt sich kaum
mehr die Mühe, die einst so gefürchteten Männer der russischen Emigration in
London zu überwachen; ihr Bündniß mit den Polen hat sie so unpopulär ge¬
macht, daß ihre Namen nicht mehr genannt, ihre Schriften nicht mehr gelesen
werden. Wie wir in der Folge sehen werden, sind einzelne dieser Revolutionär«


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191510"/>
          <p xml:id="ID_822" prev="#ID_821" next="#ID_823"> lion. die zu Zeiten eine ziemlich bedeutende Rolle gespielt und von London aus<lb/>
die öffentliche Meinung Rußlands dauernd beherrscht hat. Von der Thron¬<lb/>
besteigung Alexanders des Zweiten bis zum Ausbruch des polnischen Aufstandes<lb/>
und dem durch diesen vermittelten Umschlag der öffentlichen Meinung zu Gunsten<lb/>
einer exclusiv-nationalen Richtung war Alexander Herzen, der londoner Flücht¬<lb/>
ling, so zu sagen der mächtigste Privatmann in Rußland gewesen. Sein in<lb/>
Hunderttausenden von Exemplaren über Berlin, Wien, Konstantinopel und<lb/>
Smyrna in das Zaarcnreich eingeschmuggeltes Journal &#x201E;Kökökök" (die Glocke)<lb/>
war eine Macht&gt; mit der keine andere concurriren konnte und die einen schranken¬<lb/>
losen Einfluß auf alle Gebildeten ausübte; trotz des strengsten Verbots wurde<lb/>
dieses Blatt von jedermann, den Kaiser und die höchsten Würdenträger nicht<lb/>
ausgenommen, gelesen und gefürchtet. Durch zahlreiche Mitarbeiter aufs ge¬<lb/>
nauste über alle Erscheinungen des russischen Lebens unterrichtet, war Herzen<lb/>
im Stande, die intimsten Staatsgeheimnisse zu veröffentlichen und Vorgänge<lb/>
ans Licht zu ziehen, die selbst dem scharfen Auge der geheimen Polizei entgangen<lb/>
waren; ein von ihm ausgesprochenes Interdict genügte, um die angesehensten<lb/>
Männer um allen Credit zu bringen und manches Verbrechen, das in der Stille<lb/>
sein Wesen getrieben hatte oder wegen der hohen Stellung seiner Thäter todt-<lb/>
geschwiegen werden sollte, wurde durch die &#x201E;Glocke" gerechter Bestrafung zu¬<lb/>
geführt. Das eminente Talent des Herausgebers hat nicht wenig zu der un¬<lb/>
geheuren Verbreitung socialistischer Principien in Nußland beigetragen und wurde<lb/>
durch eine Reihe eifriger Genossen, wie Bakunin (den terroristischen Dictator<lb/>
Dresdens im Jahre 1849), Ogarew und die Brüder Kelssiew unterstützt; ziemlich<lb/>
gleichzeitig wirkten der Fürst Dolgoruki (I^g, vvritv sur 1a Iwssie), Iwan Golowin<lb/>
liussiö Lous lNeolks), Leoniv Blümer u. a. in ähnlichem Sinn in Brüssel,<lb/>
Paris und Berlin und die Zahl der in England, Frankreich, Belgien und<lb/>
Deutschland während der letzten Jahre veröffentlichten russischen Publicationen<lb/>
war beinahe ebenso groß und zum Theil einflußreicher, als die Gesammtheit<lb/>
der in Petersburg und Moskau erscheinenden Journale und Flugschriften. So<lb/>
verschieden die russischen Emigrantenparteien unter einander waren und noch<lb/>
jetzt sind (es giebt unter ihnen socialistische, demokratische und aristokratische<lb/>
Gruppen) &#x2014; in einer Beziehung sind sie eng mit einander verwandt: sie stehen<lb/>
ausnahmslos unter polnischem Einfluß. Die Parteinahme Herzens für den Auf¬<lb/>
stand von 1863 hat diesen und seine sämmtlichen Freunde um allen Einfluß,<lb/>
alle Bedeutung gebracht, die &#x201E;Glocke" verlor den größten Theil ihrer Leserund<lb/>
ist endlich vollständig verstummt und die russische Regierung giebt sich kaum<lb/>
mehr die Mühe, die einst so gefürchteten Männer der russischen Emigration in<lb/>
London zu überwachen; ihr Bündniß mit den Polen hat sie so unpopulär ge¬<lb/>
macht, daß ihre Namen nicht mehr genannt, ihre Schriften nicht mehr gelesen<lb/>
werden. Wie wir in der Folge sehen werden, sind einzelne dieser Revolutionär«</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0280] lion. die zu Zeiten eine ziemlich bedeutende Rolle gespielt und von London aus die öffentliche Meinung Rußlands dauernd beherrscht hat. Von der Thron¬ besteigung Alexanders des Zweiten bis zum Ausbruch des polnischen Aufstandes und dem durch diesen vermittelten Umschlag der öffentlichen Meinung zu Gunsten einer exclusiv-nationalen Richtung war Alexander Herzen, der londoner Flücht¬ ling, so zu sagen der mächtigste Privatmann in Rußland gewesen. Sein in Hunderttausenden von Exemplaren über Berlin, Wien, Konstantinopel und Smyrna in das Zaarcnreich eingeschmuggeltes Journal „Kökökök" (die Glocke) war eine Macht> mit der keine andere concurriren konnte und die einen schranken¬ losen Einfluß auf alle Gebildeten ausübte; trotz des strengsten Verbots wurde dieses Blatt von jedermann, den Kaiser und die höchsten Würdenträger nicht ausgenommen, gelesen und gefürchtet. Durch zahlreiche Mitarbeiter aufs ge¬ nauste über alle Erscheinungen des russischen Lebens unterrichtet, war Herzen im Stande, die intimsten Staatsgeheimnisse zu veröffentlichen und Vorgänge ans Licht zu ziehen, die selbst dem scharfen Auge der geheimen Polizei entgangen waren; ein von ihm ausgesprochenes Interdict genügte, um die angesehensten Männer um allen Credit zu bringen und manches Verbrechen, das in der Stille sein Wesen getrieben hatte oder wegen der hohen Stellung seiner Thäter todt- geschwiegen werden sollte, wurde durch die „Glocke" gerechter Bestrafung zu¬ geführt. Das eminente Talent des Herausgebers hat nicht wenig zu der un¬ geheuren Verbreitung socialistischer Principien in Nußland beigetragen und wurde durch eine Reihe eifriger Genossen, wie Bakunin (den terroristischen Dictator Dresdens im Jahre 1849), Ogarew und die Brüder Kelssiew unterstützt; ziemlich gleichzeitig wirkten der Fürst Dolgoruki (I^g, vvritv sur 1a Iwssie), Iwan Golowin liussiö Lous lNeolks), Leoniv Blümer u. a. in ähnlichem Sinn in Brüssel, Paris und Berlin und die Zahl der in England, Frankreich, Belgien und Deutschland während der letzten Jahre veröffentlichten russischen Publicationen war beinahe ebenso groß und zum Theil einflußreicher, als die Gesammtheit der in Petersburg und Moskau erscheinenden Journale und Flugschriften. So verschieden die russischen Emigrantenparteien unter einander waren und noch jetzt sind (es giebt unter ihnen socialistische, demokratische und aristokratische Gruppen) — in einer Beziehung sind sie eng mit einander verwandt: sie stehen ausnahmslos unter polnischem Einfluß. Die Parteinahme Herzens für den Auf¬ stand von 1863 hat diesen und seine sämmtlichen Freunde um allen Einfluß, alle Bedeutung gebracht, die „Glocke" verlor den größten Theil ihrer Leserund ist endlich vollständig verstummt und die russische Regierung giebt sich kaum mehr die Mühe, die einst so gefürchteten Männer der russischen Emigration in London zu überwachen; ihr Bündniß mit den Polen hat sie so unpopulär ge¬ macht, daß ihre Namen nicht mehr genannt, ihre Schriften nicht mehr gelesen werden. Wie wir in der Folge sehen werden, sind einzelne dieser Revolutionär«

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/280
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/280>, abgerufen am 15.01.2025.