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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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in Arabien brachte er "sein" Evangelium nach Damaskus zurück, das in cou-
sequenter Wetterführung des Gedankens Jesu hinausging über die enge Form
des Judcnchristenthums wie Petrus und die andern alten Apostel es verkündig¬
ten. Ihm stand fest, daß das Christenthum von dem Schooß, in dem es geboren
war, sich losreißen mußte, daß der Vekenncr Jesu nicht mehr ein Befolger des
mosaischen Gesetzes sein konnte; ihm stand fest, daß das neue Heil nicht den
Juden allein, sondern allen Völkern der Welt ohne Unterschied bestimmt war.
Und dieses Evangelium war er entschlossen zu predigen. Mit den ältern Aposteln
war ihm nur gemeinsam die Gewißheit, daß der Gekreuzigte der Messias war,
aber worin jene nur die Erfüllung des Mosaismus, die Orthodoxie des Juden-
thums sahen, das war für Paulus ein völlig Neues, das die Fesseln des Mo¬
saismus nicht länger ertrug. Eine doppelte Kontroverse mußte unvermeidlich
hieraus entspringen: über das Verhältniß des Evangeliums zum Gesetz und
über die apostolische Autorität des Paulus. Hart an den Wurzeln dieser dop¬
pelten Controverse liegt das letzte Motiv der Pctrussagen.

Von Damaskus kam Paulus auf 14 Tage nach Jerusalem, um den Pe¬
trus, wie er sagt, kennen zu lernen; außer ihm und Jakobus sah er keinen
Apostel. Was damals zwischen ihnen verhandelt wurde, wie sie persönlich sich
stellten, darüber fehlt uns jede Kunde. Paulus geht mit Stillschweigen dar¬
über hinweg, nur das versichert er wiederholt mit Nachdruck, daß er sein Evan¬
gelium von keinem Menschen empfangen und gelernt habe. Und nun begann
er seine Missionsthätigkeit. Antiochia machte er zum Mittelpunkte seines Wir¬
kens. Von da durchzog er verschiedene Gegenden Kleinasiens, zunächst an seine
Volksgenossen sich wendend, aber so, daß er überall die Heiden als gleichberech-
igt aufnahm, ohne von ihnen die Beschneidung und des Gesetzes Werke zu
verlangen.

Vierzehn Jahre hatte er so gewirkt, als die Urgemcinde zu Jerusalem an¬
fing über die Erfolge einer Predigt sich zu beunruhigen, welche das auserwählte
Volk um sein Erbe zu verkürzen schien. Nicht offen trat man dem Paulus
gegenüber, aber man sandte Emissäre aus, um hinter seinem Rücken die von
ihm gestifteten Gemeinden unter das Joch des Gesetzes zurückzubeugen. Auch
nach Antiochia kamen solche "falsche Brüder", welche unter der Hand ausstreu¬
ten, es sei ein betrügerisches Vorgeben des Paulus, daß man ohne Beschneidung
und ohne Befolgung des Ritualgesetzes Theil an den Verheißungen des messia-
nischen Reichs haben könne.

Dies veranlaßte nun Paulus, selbst nach Jerusalem zu kommen, um sich
zu rechtfertigen und den Versuch zu machen, sich mit den Aposteln über sein
Evangelium auseinanderzusetzen. Außer Barnabas nahm er den Titus mit,
einen unbeschnittenen Heidenchristen, gleichsam als lebendige Probe seines Heiden¬
evangeliums. Die Verhandlungen waren allen Spuren zufolge lebhaft, sie en"


in Arabien brachte er „sein" Evangelium nach Damaskus zurück, das in cou-
sequenter Wetterführung des Gedankens Jesu hinausging über die enge Form
des Judcnchristenthums wie Petrus und die andern alten Apostel es verkündig¬
ten. Ihm stand fest, daß das Christenthum von dem Schooß, in dem es geboren
war, sich losreißen mußte, daß der Vekenncr Jesu nicht mehr ein Befolger des
mosaischen Gesetzes sein konnte; ihm stand fest, daß das neue Heil nicht den
Juden allein, sondern allen Völkern der Welt ohne Unterschied bestimmt war.
Und dieses Evangelium war er entschlossen zu predigen. Mit den ältern Aposteln
war ihm nur gemeinsam die Gewißheit, daß der Gekreuzigte der Messias war,
aber worin jene nur die Erfüllung des Mosaismus, die Orthodoxie des Juden-
thums sahen, das war für Paulus ein völlig Neues, das die Fesseln des Mo¬
saismus nicht länger ertrug. Eine doppelte Kontroverse mußte unvermeidlich
hieraus entspringen: über das Verhältniß des Evangeliums zum Gesetz und
über die apostolische Autorität des Paulus. Hart an den Wurzeln dieser dop¬
pelten Controverse liegt das letzte Motiv der Pctrussagen.

Von Damaskus kam Paulus auf 14 Tage nach Jerusalem, um den Pe¬
trus, wie er sagt, kennen zu lernen; außer ihm und Jakobus sah er keinen
Apostel. Was damals zwischen ihnen verhandelt wurde, wie sie persönlich sich
stellten, darüber fehlt uns jede Kunde. Paulus geht mit Stillschweigen dar¬
über hinweg, nur das versichert er wiederholt mit Nachdruck, daß er sein Evan¬
gelium von keinem Menschen empfangen und gelernt habe. Und nun begann
er seine Missionsthätigkeit. Antiochia machte er zum Mittelpunkte seines Wir¬
kens. Von da durchzog er verschiedene Gegenden Kleinasiens, zunächst an seine
Volksgenossen sich wendend, aber so, daß er überall die Heiden als gleichberech-
igt aufnahm, ohne von ihnen die Beschneidung und des Gesetzes Werke zu
verlangen.

Vierzehn Jahre hatte er so gewirkt, als die Urgemcinde zu Jerusalem an¬
fing über die Erfolge einer Predigt sich zu beunruhigen, welche das auserwählte
Volk um sein Erbe zu verkürzen schien. Nicht offen trat man dem Paulus
gegenüber, aber man sandte Emissäre aus, um hinter seinem Rücken die von
ihm gestifteten Gemeinden unter das Joch des Gesetzes zurückzubeugen. Auch
nach Antiochia kamen solche „falsche Brüder", welche unter der Hand ausstreu¬
ten, es sei ein betrügerisches Vorgeben des Paulus, daß man ohne Beschneidung
und ohne Befolgung des Ritualgesetzes Theil an den Verheißungen des messia-
nischen Reichs haben könne.

Dies veranlaßte nun Paulus, selbst nach Jerusalem zu kommen, um sich
zu rechtfertigen und den Versuch zu machen, sich mit den Aposteln über sein
Evangelium auseinanderzusetzen. Außer Barnabas nahm er den Titus mit,
einen unbeschnittenen Heidenchristen, gleichsam als lebendige Probe seines Heiden¬
evangeliums. Die Verhandlungen waren allen Spuren zufolge lebhaft, sie en«


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[0226] in Arabien brachte er „sein" Evangelium nach Damaskus zurück, das in cou- sequenter Wetterführung des Gedankens Jesu hinausging über die enge Form des Judcnchristenthums wie Petrus und die andern alten Apostel es verkündig¬ ten. Ihm stand fest, daß das Christenthum von dem Schooß, in dem es geboren war, sich losreißen mußte, daß der Vekenncr Jesu nicht mehr ein Befolger des mosaischen Gesetzes sein konnte; ihm stand fest, daß das neue Heil nicht den Juden allein, sondern allen Völkern der Welt ohne Unterschied bestimmt war. Und dieses Evangelium war er entschlossen zu predigen. Mit den ältern Aposteln war ihm nur gemeinsam die Gewißheit, daß der Gekreuzigte der Messias war, aber worin jene nur die Erfüllung des Mosaismus, die Orthodoxie des Juden- thums sahen, das war für Paulus ein völlig Neues, das die Fesseln des Mo¬ saismus nicht länger ertrug. Eine doppelte Kontroverse mußte unvermeidlich hieraus entspringen: über das Verhältniß des Evangeliums zum Gesetz und über die apostolische Autorität des Paulus. Hart an den Wurzeln dieser dop¬ pelten Controverse liegt das letzte Motiv der Pctrussagen. Von Damaskus kam Paulus auf 14 Tage nach Jerusalem, um den Pe¬ trus, wie er sagt, kennen zu lernen; außer ihm und Jakobus sah er keinen Apostel. Was damals zwischen ihnen verhandelt wurde, wie sie persönlich sich stellten, darüber fehlt uns jede Kunde. Paulus geht mit Stillschweigen dar¬ über hinweg, nur das versichert er wiederholt mit Nachdruck, daß er sein Evan¬ gelium von keinem Menschen empfangen und gelernt habe. Und nun begann er seine Missionsthätigkeit. Antiochia machte er zum Mittelpunkte seines Wir¬ kens. Von da durchzog er verschiedene Gegenden Kleinasiens, zunächst an seine Volksgenossen sich wendend, aber so, daß er überall die Heiden als gleichberech- igt aufnahm, ohne von ihnen die Beschneidung und des Gesetzes Werke zu verlangen. Vierzehn Jahre hatte er so gewirkt, als die Urgemcinde zu Jerusalem an¬ fing über die Erfolge einer Predigt sich zu beunruhigen, welche das auserwählte Volk um sein Erbe zu verkürzen schien. Nicht offen trat man dem Paulus gegenüber, aber man sandte Emissäre aus, um hinter seinem Rücken die von ihm gestifteten Gemeinden unter das Joch des Gesetzes zurückzubeugen. Auch nach Antiochia kamen solche „falsche Brüder", welche unter der Hand ausstreu¬ ten, es sei ein betrügerisches Vorgeben des Paulus, daß man ohne Beschneidung und ohne Befolgung des Ritualgesetzes Theil an den Verheißungen des messia- nischen Reichs haben könne. Dies veranlaßte nun Paulus, selbst nach Jerusalem zu kommen, um sich zu rechtfertigen und den Versuch zu machen, sich mit den Aposteln über sein Evangelium auseinanderzusetzen. Außer Barnabas nahm er den Titus mit, einen unbeschnittenen Heidenchristen, gleichsam als lebendige Probe seines Heiden¬ evangeliums. Die Verhandlungen waren allen Spuren zufolge lebhaft, sie en«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/226>, abgerufen am 15.01.2025.