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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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hatten die Gerichte den alten Ruhm standhafter Unerschütterlichkeit glänzend be¬
wahrt, und die raffinirtesten Regierungskünste hatten sie nicht zu corrumpiren
vermocht.

Endlich -- und das ist die Hauptsache -- bestand in Kurhessen hinsichtlich
der Competenz der Gerichte eine Ausdehnung, wie sie in ganz Europa ähnlich
nur England auszuweisen hat, und welche wirksamer ist als alle Minister-
Verantwortlichkeits-Paragraphen in der Verfassungsurkunde. Jedermann konnte
wegen einer jeden Handlung eines Beamten, in welcher er eine Ueberschreitung
oder einen Mißbrauch der Amtsgewalt oder eine Verletzung klarer positiver
Gesetzesvorschriften fand, nicht nur Beschwerde bei den vorgesetzten Verwaltungs¬
stellen, sondern auch Klage bei den Gerichten erheben, welche competent waren,
den angefochtenen Act zu cassiren und die Staatsgewalt zur Entschädigung zu
verurtheilen. Daß man grade in Kurhessen aus diese Ausdehnung der Com¬
petenz den höchsten Werth legte, wird man begreiflich finden nach dem, was
wir oben erzählt haben.

Gleichwohl war man bereit, auch auf diesem Gebiete Opfer zu bringen,
wenn sie im Namen der Einheit verlangt wurden. Man war darauf gefaßt,
daß dem Reichstag'ein Gesetzentwurf wegen gleichheitlicher Regelung des Civil¬
processes in dem ganzen norddeutschen Bunde, etwa auf den Grundlagen der in der
Praxis so rühmlich bewährten hannoverschen Gesetzgebung, vorgelegt würde, und
die kurhessischen Abgeordneten wären gewiß die letzten gewesen, welche sich
einem solchen Einheitswerke widersetzt hätten. Daß aber dem Lande seine guten
Institutionen entzogen würden durch die neulich ergangene Proccßordnung,
welche für Hannover das alte Verfahren beläßt, für Schleswig-Holstein dagegen,
für Nassau und Kurhessen ein neues einführt, das wohl in Nassau und Schles¬
wig-Holstein vor dem alten den Vorzug verdienen mag. in Kurhessen aber ganz
entschieden nicht, daß man außer dem mannigfach abweichenden Proceßgang in
Altpreußen noch einen besonderen in Kurhessen, Schleswig-Holstein und Nassau,
wieder einen andern in Meisenheim und Frankfurt a. M. einführen und die
alte Buntscheckigkeit in den 21 sonstigen Bundesländern belassen würde, daraus
war man in Kurhessen nicht gefaßt. Man hatte gehofft, seine geliebte locale
Institution, die doch fürwahr mit den Staatszwecken der preußischen Monarchie
nicht in Widerspruch stand, wenigstens so lange behalten zu dürfen, bis sie der
gemeinsamen Gesetzgebung der Bundesgewalt und des Reichstags weichen mußte.
Daß auch diese Hoffnung getäuscht wurde, hat der Regierung manches treu
ergebene Herz -- wenigstens vorübergehend -- entfremdet; und da die Annccti-
rung, wenn sie dauern soll, nicht nur durch die Gewalt der Waffen und die
der Gesetzgebung, sondern außerdem auch noch auf dem Wege der "moralischen
Eroberung" vollzogen werden muß, wodurch sie erst ihre höhere Sanction
erhält, so ist es dringend gerathen auf Mittel zu sinnen, wie man die entfrem-


hatten die Gerichte den alten Ruhm standhafter Unerschütterlichkeit glänzend be¬
wahrt, und die raffinirtesten Regierungskünste hatten sie nicht zu corrumpiren
vermocht.

Endlich — und das ist die Hauptsache — bestand in Kurhessen hinsichtlich
der Competenz der Gerichte eine Ausdehnung, wie sie in ganz Europa ähnlich
nur England auszuweisen hat, und welche wirksamer ist als alle Minister-
Verantwortlichkeits-Paragraphen in der Verfassungsurkunde. Jedermann konnte
wegen einer jeden Handlung eines Beamten, in welcher er eine Ueberschreitung
oder einen Mißbrauch der Amtsgewalt oder eine Verletzung klarer positiver
Gesetzesvorschriften fand, nicht nur Beschwerde bei den vorgesetzten Verwaltungs¬
stellen, sondern auch Klage bei den Gerichten erheben, welche competent waren,
den angefochtenen Act zu cassiren und die Staatsgewalt zur Entschädigung zu
verurtheilen. Daß man grade in Kurhessen aus diese Ausdehnung der Com¬
petenz den höchsten Werth legte, wird man begreiflich finden nach dem, was
wir oben erzählt haben.

Gleichwohl war man bereit, auch auf diesem Gebiete Opfer zu bringen,
wenn sie im Namen der Einheit verlangt wurden. Man war darauf gefaßt,
daß dem Reichstag'ein Gesetzentwurf wegen gleichheitlicher Regelung des Civil¬
processes in dem ganzen norddeutschen Bunde, etwa auf den Grundlagen der in der
Praxis so rühmlich bewährten hannoverschen Gesetzgebung, vorgelegt würde, und
die kurhessischen Abgeordneten wären gewiß die letzten gewesen, welche sich
einem solchen Einheitswerke widersetzt hätten. Daß aber dem Lande seine guten
Institutionen entzogen würden durch die neulich ergangene Proccßordnung,
welche für Hannover das alte Verfahren beläßt, für Schleswig-Holstein dagegen,
für Nassau und Kurhessen ein neues einführt, das wohl in Nassau und Schles¬
wig-Holstein vor dem alten den Vorzug verdienen mag. in Kurhessen aber ganz
entschieden nicht, daß man außer dem mannigfach abweichenden Proceßgang in
Altpreußen noch einen besonderen in Kurhessen, Schleswig-Holstein und Nassau,
wieder einen andern in Meisenheim und Frankfurt a. M. einführen und die
alte Buntscheckigkeit in den 21 sonstigen Bundesländern belassen würde, daraus
war man in Kurhessen nicht gefaßt. Man hatte gehofft, seine geliebte locale
Institution, die doch fürwahr mit den Staatszwecken der preußischen Monarchie
nicht in Widerspruch stand, wenigstens so lange behalten zu dürfen, bis sie der
gemeinsamen Gesetzgebung der Bundesgewalt und des Reichstags weichen mußte.
Daß auch diese Hoffnung getäuscht wurde, hat der Regierung manches treu
ergebene Herz — wenigstens vorübergehend — entfremdet; und da die Annccti-
rung, wenn sie dauern soll, nicht nur durch die Gewalt der Waffen und die
der Gesetzgebung, sondern außerdem auch noch auf dem Wege der „moralischen
Eroberung" vollzogen werden muß, wodurch sie erst ihre höhere Sanction
erhält, so ist es dringend gerathen auf Mittel zu sinnen, wie man die entfrem-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/178>, abgerufen am 15.01.2025.