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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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konnte. Die Geschichte der letzten preußischen Landtagswahlen hat zu den¬
jenigen, welche überhaupt zu lernen fähig sind, deutlich genug geredet, um alle
Zweifel darüber auszuschließen, wie das preußische Volk von dem Verhältniß
der Existenzfrage zu der "Freiheitsfrage" denkt.

Zunächst ist der Einfluß der Demokratie freilich in Preußen noch immer stark
genug gewesen, um die berliner Nationalliberalen von einer offenen Anerkennung
des Zwiespalts, durch welchen sie thatsächlich von der Demokratie geschieden sind,
abzuhalten. Wie der Wahlaufruf des berliner Fractionsausschusses ausweist,
wollen die Herren Laster, Aßmann, v. Henrich u. s. w. eine Kooperation mit
der Fortschrittspartei versuchen, ob diese gleich ihre Meinung über ein Zusammen¬
gehen milden ehemaligen Parteigenossen ziemlich unverblümt gesagt hat. Die Folge
dieses Versuchs kann leicht die sein, daß wir statt einer nächstens zwei national¬
liberale Parteien besitzen werden. Von Männern wie Braun, Benningsen. Miquel
u. s. w. ist nicht zu erwarten, daß sie die junge, von ihnen selbst geschaffene
Verfassung in die Hand der Konservativen legen werden, um sich an Verstän¬
digungsversuchen mit einer Partei abzumühen, die sie zur Genüge kennen und
die ihr wahres Antlitz zu Wiesbaden und Hannover sehr viel deutlicher zeigt,
als in Berlin oder Königsberg. Politiker, denen die Ereignisse von 1866 nicht
gelehrt haben, auf welchem Wege die Einheit und Freiheit Deutschlands zu
suchen ist, zu einem positiven Parteiprogramm bekehren wollen, ist sicherlich
ein aussichtsloses Unternehmen und wie uns scheint hätte den berliner Natio¬
nalliberalen mehr an der Aufrechterhaltung der Einheit ihrer Partei als an
dem guten Einvernehmen mit der Nachbarschaft gelegen sein müssen. Das bei¬
nahe religiöse Ansehen, welches der radicale Doctrinärismus bei uns genießt,
reicht aber immer noch weit über den Kreis derer hinaus, die ihm selbst huldigen
und ruft uns immer wieder die Erinnerung daran zurück, daß der deutsche Liberalis¬
mus in der Studirstube empfangen und geboren worden ist. Unter denen, die den
Muth gehabt haben, sich an die freie Luft des wirklichen Lebens hinaus zu
begeben, sind noch Viele, die einer Entschuldigung dafür zu bedürfen
glauben, daß es ihnen geglückt ist, die Thür zu finden und ehrwürdiger als die
eigene mühsam erkämpfte Ueberzeugung erscheint ihnen die rücksichtslose und
selbstzufriedene Starrheit derer, welche von den Thatsachen nichts lernen wollen
und dem Cultus der abstracten Theorie treu bleiben. Aus Scheu davor, ihren
Einfluß auf die demokratischen Massen in Altpreußen zu verlieren, laufen die
berliner Nationalliberalen Gefahr, sich innerhalb der eigenen Partei zu iso-
liren und die Führung der außerpreußischen und neupreußischen Elemente der
Fraction vollständig außer Händen zu geben. Wollten die Nationalliberalen
in Nassau. Hannover und Sachsen dem ihnen in Berlin gegebenen Beispiel
folgen, so müßten sie mit Leuten zusammengehen, deren gefährliche Gemeinschaft
sie eben erst los geworden sind und die in der Verfassung des norddeutschen


konnte. Die Geschichte der letzten preußischen Landtagswahlen hat zu den¬
jenigen, welche überhaupt zu lernen fähig sind, deutlich genug geredet, um alle
Zweifel darüber auszuschließen, wie das preußische Volk von dem Verhältniß
der Existenzfrage zu der „Freiheitsfrage" denkt.

Zunächst ist der Einfluß der Demokratie freilich in Preußen noch immer stark
genug gewesen, um die berliner Nationalliberalen von einer offenen Anerkennung
des Zwiespalts, durch welchen sie thatsächlich von der Demokratie geschieden sind,
abzuhalten. Wie der Wahlaufruf des berliner Fractionsausschusses ausweist,
wollen die Herren Laster, Aßmann, v. Henrich u. s. w. eine Kooperation mit
der Fortschrittspartei versuchen, ob diese gleich ihre Meinung über ein Zusammen¬
gehen milden ehemaligen Parteigenossen ziemlich unverblümt gesagt hat. Die Folge
dieses Versuchs kann leicht die sein, daß wir statt einer nächstens zwei national¬
liberale Parteien besitzen werden. Von Männern wie Braun, Benningsen. Miquel
u. s. w. ist nicht zu erwarten, daß sie die junge, von ihnen selbst geschaffene
Verfassung in die Hand der Konservativen legen werden, um sich an Verstän¬
digungsversuchen mit einer Partei abzumühen, die sie zur Genüge kennen und
die ihr wahres Antlitz zu Wiesbaden und Hannover sehr viel deutlicher zeigt,
als in Berlin oder Königsberg. Politiker, denen die Ereignisse von 1866 nicht
gelehrt haben, auf welchem Wege die Einheit und Freiheit Deutschlands zu
suchen ist, zu einem positiven Parteiprogramm bekehren wollen, ist sicherlich
ein aussichtsloses Unternehmen und wie uns scheint hätte den berliner Natio¬
nalliberalen mehr an der Aufrechterhaltung der Einheit ihrer Partei als an
dem guten Einvernehmen mit der Nachbarschaft gelegen sein müssen. Das bei¬
nahe religiöse Ansehen, welches der radicale Doctrinärismus bei uns genießt,
reicht aber immer noch weit über den Kreis derer hinaus, die ihm selbst huldigen
und ruft uns immer wieder die Erinnerung daran zurück, daß der deutsche Liberalis¬
mus in der Studirstube empfangen und geboren worden ist. Unter denen, die den
Muth gehabt haben, sich an die freie Luft des wirklichen Lebens hinaus zu
begeben, sind noch Viele, die einer Entschuldigung dafür zu bedürfen
glauben, daß es ihnen geglückt ist, die Thür zu finden und ehrwürdiger als die
eigene mühsam erkämpfte Ueberzeugung erscheint ihnen die rücksichtslose und
selbstzufriedene Starrheit derer, welche von den Thatsachen nichts lernen wollen
und dem Cultus der abstracten Theorie treu bleiben. Aus Scheu davor, ihren
Einfluß auf die demokratischen Massen in Altpreußen zu verlieren, laufen die
berliner Nationalliberalen Gefahr, sich innerhalb der eigenen Partei zu iso-
liren und die Führung der außerpreußischen und neupreußischen Elemente der
Fraction vollständig außer Händen zu geben. Wollten die Nationalliberalen
in Nassau. Hannover und Sachsen dem ihnen in Berlin gegebenen Beispiel
folgen, so müßten sie mit Leuten zusammengehen, deren gefährliche Gemeinschaft
sie eben erst los geworden sind und die in der Verfassung des norddeutschen


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[0124] konnte. Die Geschichte der letzten preußischen Landtagswahlen hat zu den¬ jenigen, welche überhaupt zu lernen fähig sind, deutlich genug geredet, um alle Zweifel darüber auszuschließen, wie das preußische Volk von dem Verhältniß der Existenzfrage zu der „Freiheitsfrage" denkt. Zunächst ist der Einfluß der Demokratie freilich in Preußen noch immer stark genug gewesen, um die berliner Nationalliberalen von einer offenen Anerkennung des Zwiespalts, durch welchen sie thatsächlich von der Demokratie geschieden sind, abzuhalten. Wie der Wahlaufruf des berliner Fractionsausschusses ausweist, wollen die Herren Laster, Aßmann, v. Henrich u. s. w. eine Kooperation mit der Fortschrittspartei versuchen, ob diese gleich ihre Meinung über ein Zusammen¬ gehen milden ehemaligen Parteigenossen ziemlich unverblümt gesagt hat. Die Folge dieses Versuchs kann leicht die sein, daß wir statt einer nächstens zwei national¬ liberale Parteien besitzen werden. Von Männern wie Braun, Benningsen. Miquel u. s. w. ist nicht zu erwarten, daß sie die junge, von ihnen selbst geschaffene Verfassung in die Hand der Konservativen legen werden, um sich an Verstän¬ digungsversuchen mit einer Partei abzumühen, die sie zur Genüge kennen und die ihr wahres Antlitz zu Wiesbaden und Hannover sehr viel deutlicher zeigt, als in Berlin oder Königsberg. Politiker, denen die Ereignisse von 1866 nicht gelehrt haben, auf welchem Wege die Einheit und Freiheit Deutschlands zu suchen ist, zu einem positiven Parteiprogramm bekehren wollen, ist sicherlich ein aussichtsloses Unternehmen und wie uns scheint hätte den berliner Natio¬ nalliberalen mehr an der Aufrechterhaltung der Einheit ihrer Partei als an dem guten Einvernehmen mit der Nachbarschaft gelegen sein müssen. Das bei¬ nahe religiöse Ansehen, welches der radicale Doctrinärismus bei uns genießt, reicht aber immer noch weit über den Kreis derer hinaus, die ihm selbst huldigen und ruft uns immer wieder die Erinnerung daran zurück, daß der deutsche Liberalis¬ mus in der Studirstube empfangen und geboren worden ist. Unter denen, die den Muth gehabt haben, sich an die freie Luft des wirklichen Lebens hinaus zu begeben, sind noch Viele, die einer Entschuldigung dafür zu bedürfen glauben, daß es ihnen geglückt ist, die Thür zu finden und ehrwürdiger als die eigene mühsam erkämpfte Ueberzeugung erscheint ihnen die rücksichtslose und selbstzufriedene Starrheit derer, welche von den Thatsachen nichts lernen wollen und dem Cultus der abstracten Theorie treu bleiben. Aus Scheu davor, ihren Einfluß auf die demokratischen Massen in Altpreußen zu verlieren, laufen die berliner Nationalliberalen Gefahr, sich innerhalb der eigenen Partei zu iso- liren und die Führung der außerpreußischen und neupreußischen Elemente der Fraction vollständig außer Händen zu geben. Wollten die Nationalliberalen in Nassau. Hannover und Sachsen dem ihnen in Berlin gegebenen Beispiel folgen, so müßten sie mit Leuten zusammengehen, deren gefährliche Gemeinschaft sie eben erst los geworden sind und die in der Verfassung des norddeutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/124>, abgerufen am 15.01.2025.