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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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alle übrigen Rücksichten bei Seite zu setzen, ist von jeher das sicherste Merkmal
mangelhafter politischer Bildung bei Individuen und Parteien gewesen. Wie
Bauern und Kleinbürger alten Stils in der Regel nichts Wichtigeres kennen
als die Beseitigung eines unbequemen Amtmanns oder Bürgermeisters, so sind
manche unserer kleinen und großen Parteien der Einsicht unzugänglich, daß es
für das deutsche Staatsleben höhere Aufgaben geben könne als die, welche sie
sich vorgesetzt haben und an denen sie trotz allen Wechsels der Verhältnisse und
Zeitläufte festhalten. Eifrig genug wird in der deutschen Presse Conjectural-
politik getrieben und den Dingen zu Paris, Wien und Kopenhagen in Leit¬
artikeln und Korrespondenzen nachgegangen, aus denselben etwas für innere
Politik zu lernen, ist eine große Anzahl deutscher Parteiblätter aber vollkom¬
men unfähig. Das gilt nicht nur von den Organen des Pcirticularismus.
die in einem Athem von der Fortsetzung der französischen Rüstungen Kunde
geben und gegen die einzige Macht declamiren, von welcher ein wirksamer
Schutz gegen die Waffen Frankreichs zu erwarten ist. sondern in gleicher Weise
Von den Blättern jener "entschiedenen" Demokratie, welche wir noch gestern
für eine Verbündete halten durften. Im Angesicht einer bevorstehenden östrei¬
chisch-französischen Alliance und einer Verwickelung wegen der nordschleswig-
schen Frage mit Ultramontanen und Großdeutschen liebäugeln, den Jahrestag
der Schia de bei Königgrätz zur Veranlassung eines Hymnus auf die Wieder¬
geburt Oestreichs durch den beustschen Liberalismus machen und in Posen mit
den Polen ein Abkommen wegen der bevorstehenden Herbstwahlcn treffen, das
heißt die Parteibefangenheit auf die Spitze treiben und dem eigenen politischen
Credit vollends den Boden ausschlagen. Muß man Tag für Tag von der
eigensinnigen Verblendung Act nehmen, mit welcher die berliner "Zukunft"
und ihre Genossen auf ihrem längst obsolet gewordenen "non possurrms" ver¬
harren und sich Schritt für Schritt dem Lager nähern, das ihre und der Sache
der Freiheit gefährlichsten Feinde birgt, so wird man unwillkürlich an das he-
gelsche Wort erinnert, "die Geschichte sei die Lehre davon, daß niemand je et¬
was aus der Geschichte gelernt habe". Nun, die Männer der Fortschrittspartei
sind nicht mehr die einzigen, welche in Preußen und in Deutschland ein Wort
zu reden haben und diejenigen unter ihnen, deren Wort noch von Einfluß ist,
werden die Gemeinschaft mit den Freunden des großdeutschen Particularismus
und Naturalismus sicher nicht länger ertragen, als es ohne Gefahr für ihren
durch eine Jahrzehende lange Arbeit erworbenen Einfluß geschehen kann. Die
bloße Drohung einer auswärtigen Gefahr wird aber dazu hinreichen ^ die
Schulze. Waldeck und Löwe-Calbe vor eine Alternative zu stellen, aus welcher
nur der offene Bruch mit der großdeutschen Gevatterschaft helfen kann; andern¬
falls wird die altpreußischc Demokratie zu demselben "Generalstab ohne Armee",
werden, als welchen man vor einigen Jahren die altliberale Fraction verhöhnen


Grenzboten III. 1867. Is

alle übrigen Rücksichten bei Seite zu setzen, ist von jeher das sicherste Merkmal
mangelhafter politischer Bildung bei Individuen und Parteien gewesen. Wie
Bauern und Kleinbürger alten Stils in der Regel nichts Wichtigeres kennen
als die Beseitigung eines unbequemen Amtmanns oder Bürgermeisters, so sind
manche unserer kleinen und großen Parteien der Einsicht unzugänglich, daß es
für das deutsche Staatsleben höhere Aufgaben geben könne als die, welche sie
sich vorgesetzt haben und an denen sie trotz allen Wechsels der Verhältnisse und
Zeitläufte festhalten. Eifrig genug wird in der deutschen Presse Conjectural-
politik getrieben und den Dingen zu Paris, Wien und Kopenhagen in Leit¬
artikeln und Korrespondenzen nachgegangen, aus denselben etwas für innere
Politik zu lernen, ist eine große Anzahl deutscher Parteiblätter aber vollkom¬
men unfähig. Das gilt nicht nur von den Organen des Pcirticularismus.
die in einem Athem von der Fortsetzung der französischen Rüstungen Kunde
geben und gegen die einzige Macht declamiren, von welcher ein wirksamer
Schutz gegen die Waffen Frankreichs zu erwarten ist. sondern in gleicher Weise
Von den Blättern jener „entschiedenen" Demokratie, welche wir noch gestern
für eine Verbündete halten durften. Im Angesicht einer bevorstehenden östrei¬
chisch-französischen Alliance und einer Verwickelung wegen der nordschleswig-
schen Frage mit Ultramontanen und Großdeutschen liebäugeln, den Jahrestag
der Schia de bei Königgrätz zur Veranlassung eines Hymnus auf die Wieder¬
geburt Oestreichs durch den beustschen Liberalismus machen und in Posen mit
den Polen ein Abkommen wegen der bevorstehenden Herbstwahlcn treffen, das
heißt die Parteibefangenheit auf die Spitze treiben und dem eigenen politischen
Credit vollends den Boden ausschlagen. Muß man Tag für Tag von der
eigensinnigen Verblendung Act nehmen, mit welcher die berliner „Zukunft"
und ihre Genossen auf ihrem längst obsolet gewordenen „non possurrms" ver¬
harren und sich Schritt für Schritt dem Lager nähern, das ihre und der Sache
der Freiheit gefährlichsten Feinde birgt, so wird man unwillkürlich an das he-
gelsche Wort erinnert, „die Geschichte sei die Lehre davon, daß niemand je et¬
was aus der Geschichte gelernt habe". Nun, die Männer der Fortschrittspartei
sind nicht mehr die einzigen, welche in Preußen und in Deutschland ein Wort
zu reden haben und diejenigen unter ihnen, deren Wort noch von Einfluß ist,
werden die Gemeinschaft mit den Freunden des großdeutschen Particularismus
und Naturalismus sicher nicht länger ertragen, als es ohne Gefahr für ihren
durch eine Jahrzehende lange Arbeit erworbenen Einfluß geschehen kann. Die
bloße Drohung einer auswärtigen Gefahr wird aber dazu hinreichen ^ die
Schulze. Waldeck und Löwe-Calbe vor eine Alternative zu stellen, aus welcher
nur der offene Bruch mit der großdeutschen Gevatterschaft helfen kann; andern¬
falls wird die altpreußischc Demokratie zu demselben „Generalstab ohne Armee",
werden, als welchen man vor einigen Jahren die altliberale Fraction verhöhnen


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[0123] alle übrigen Rücksichten bei Seite zu setzen, ist von jeher das sicherste Merkmal mangelhafter politischer Bildung bei Individuen und Parteien gewesen. Wie Bauern und Kleinbürger alten Stils in der Regel nichts Wichtigeres kennen als die Beseitigung eines unbequemen Amtmanns oder Bürgermeisters, so sind manche unserer kleinen und großen Parteien der Einsicht unzugänglich, daß es für das deutsche Staatsleben höhere Aufgaben geben könne als die, welche sie sich vorgesetzt haben und an denen sie trotz allen Wechsels der Verhältnisse und Zeitläufte festhalten. Eifrig genug wird in der deutschen Presse Conjectural- politik getrieben und den Dingen zu Paris, Wien und Kopenhagen in Leit¬ artikeln und Korrespondenzen nachgegangen, aus denselben etwas für innere Politik zu lernen, ist eine große Anzahl deutscher Parteiblätter aber vollkom¬ men unfähig. Das gilt nicht nur von den Organen des Pcirticularismus. die in einem Athem von der Fortsetzung der französischen Rüstungen Kunde geben und gegen die einzige Macht declamiren, von welcher ein wirksamer Schutz gegen die Waffen Frankreichs zu erwarten ist. sondern in gleicher Weise Von den Blättern jener „entschiedenen" Demokratie, welche wir noch gestern für eine Verbündete halten durften. Im Angesicht einer bevorstehenden östrei¬ chisch-französischen Alliance und einer Verwickelung wegen der nordschleswig- schen Frage mit Ultramontanen und Großdeutschen liebäugeln, den Jahrestag der Schia de bei Königgrätz zur Veranlassung eines Hymnus auf die Wieder¬ geburt Oestreichs durch den beustschen Liberalismus machen und in Posen mit den Polen ein Abkommen wegen der bevorstehenden Herbstwahlcn treffen, das heißt die Parteibefangenheit auf die Spitze treiben und dem eigenen politischen Credit vollends den Boden ausschlagen. Muß man Tag für Tag von der eigensinnigen Verblendung Act nehmen, mit welcher die berliner „Zukunft" und ihre Genossen auf ihrem längst obsolet gewordenen „non possurrms" ver¬ harren und sich Schritt für Schritt dem Lager nähern, das ihre und der Sache der Freiheit gefährlichsten Feinde birgt, so wird man unwillkürlich an das he- gelsche Wort erinnert, „die Geschichte sei die Lehre davon, daß niemand je et¬ was aus der Geschichte gelernt habe". Nun, die Männer der Fortschrittspartei sind nicht mehr die einzigen, welche in Preußen und in Deutschland ein Wort zu reden haben und diejenigen unter ihnen, deren Wort noch von Einfluß ist, werden die Gemeinschaft mit den Freunden des großdeutschen Particularismus und Naturalismus sicher nicht länger ertragen, als es ohne Gefahr für ihren durch eine Jahrzehende lange Arbeit erworbenen Einfluß geschehen kann. Die bloße Drohung einer auswärtigen Gefahr wird aber dazu hinreichen ^ die Schulze. Waldeck und Löwe-Calbe vor eine Alternative zu stellen, aus welcher nur der offene Bruch mit der großdeutschen Gevatterschaft helfen kann; andern¬ falls wird die altpreußischc Demokratie zu demselben „Generalstab ohne Armee", werden, als welchen man vor einigen Jahren die altliberale Fraction verhöhnen Grenzboten III. 1867. Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/123>, abgerufen am 15.01.2025.