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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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wie Immanuel Better. Gottfried Hermann und August Meineke, wie Karl Lach¬
mann, Nikolaus Madvig, Moritz Haupt und Friedrich Ritschl haben uns gelehrt, die
alten und neuen Schätze methodisch zu benutzen und die Mängel der Ueberlieferung
nach Kräften zu beseitigen, während August Böckh und Theodor Mommsen für
die inschristlichen Quellen die gleiche Aufgabe gelöst haben. So erhalten wir
erst jetzt eine wirklich sichere Grundlage für alle weitere philologische Arbeit.
Außerdem gewinnt die Grammatik nicht allein durch die erst so ermöglichte ge¬
nauere Durchforschung der classischen Sprachen selber, sondern ebenso sehr durch
die Einsicht in den Zusammenhang dieser Sprachen mit den anderen des indo¬
germanischen Stammes, durch die Sprachvergleichung, einen ganz neuen Auf¬
schwung. Je größer nun aber in den bezeichneten Gebieten die Thätigkeit ist,
je eifriger Kritik und Grammatik gepflegt werden, desto nöthiger ist es, auch
das letzte gemeinsame Ziel, wie Wolf es vorgezeichnet hatte, nicht aus den
Augen zu verlieren. Hierfür gebührt nächst Wolf und fast mehr noch als ihm
das Hauptverdienst August Böckh, der es taufenden von begeisterten Schülern
fest in die Seele geprägt hat, die Philologie habe die möglichst vollständige
Wiedererkenntniß alles dessen zum Ziele, was in dem geistigen Leben der
classischen Völker einmal erkannt oder empfunden ward. Denken und Empfinden
war aber bei jenen Völkern so wenig wie bei irgendeinem andern stets das
gleiche, sondern hatte im Laufe der Zeiten und Ereignisse eine höchst mannig¬
fache Entwickelung durchzumachen. Demzufolge wird die Philologie, so auf¬
gefaßt, unausbleiblich eine historische Wissenschaft, wie sie auch ihr Name als
die "Liebe zu den Ueberlieferungen" bezeichnet, sie wird am letzten Ende zur
Geschichte der alten Cultur. Die Grammatik gestaltet sich nunmehr um zur
Geschichte der Sprache als der Form für die Denkweise des Volkes, wandelbar
wie die Denkweise selbst. Die Mythologie hört auf, die Mythen und Sagen
der verschiedenartigsten Zeiten zu einem buntscheckigen und daher albern er¬
scheinenden Bilde zusammenzuwerfen, sie sucht vielmehr nachzuweisen, wie die
religiösen Anschauungen des Volkes allmälig sich entwickeln und umgestalten,
im Verein und in Wechselwirkung mit allen übrigen Seiten des Volksgeistes:
sie wird zur Religionsgeschichte. Es erhellt nun auch, von welcher Wichtigkeit
für die Philologie eine gesunde Entwickelung der übrigen Geschichtsforschung ist.
Schwerlich ist es zufällig, jedenfalls aber als ein besonderes Glück auch für die
Altertumswissenschaft anzuerkennen, daß zu gleicher Zeit mit dem geschilderten
Aufschwünge der Philologie ein Mann wie Niebuhr die Geschichtsforschung neu
begründete. Nicht allein daß er zuerst umsichtige methodische Kritik der Quellen
anwandte, er rückte uns ja auch zuerst die alte Geschichte dadurch näher, daß
er zeigte, wie die Volksentwickelung sich im Alterthum nach den gleichen Ge¬
setzen Vollzieht, wie noch heutzutage, so weit nämlich die äußeren Bedingungen
gleiche oder ähnliche sind. Wenn Niebuhr so die römische Geschichte aus der


wie Immanuel Better. Gottfried Hermann und August Meineke, wie Karl Lach¬
mann, Nikolaus Madvig, Moritz Haupt und Friedrich Ritschl haben uns gelehrt, die
alten und neuen Schätze methodisch zu benutzen und die Mängel der Ueberlieferung
nach Kräften zu beseitigen, während August Böckh und Theodor Mommsen für
die inschristlichen Quellen die gleiche Aufgabe gelöst haben. So erhalten wir
erst jetzt eine wirklich sichere Grundlage für alle weitere philologische Arbeit.
Außerdem gewinnt die Grammatik nicht allein durch die erst so ermöglichte ge¬
nauere Durchforschung der classischen Sprachen selber, sondern ebenso sehr durch
die Einsicht in den Zusammenhang dieser Sprachen mit den anderen des indo¬
germanischen Stammes, durch die Sprachvergleichung, einen ganz neuen Auf¬
schwung. Je größer nun aber in den bezeichneten Gebieten die Thätigkeit ist,
je eifriger Kritik und Grammatik gepflegt werden, desto nöthiger ist es, auch
das letzte gemeinsame Ziel, wie Wolf es vorgezeichnet hatte, nicht aus den
Augen zu verlieren. Hierfür gebührt nächst Wolf und fast mehr noch als ihm
das Hauptverdienst August Böckh, der es taufenden von begeisterten Schülern
fest in die Seele geprägt hat, die Philologie habe die möglichst vollständige
Wiedererkenntniß alles dessen zum Ziele, was in dem geistigen Leben der
classischen Völker einmal erkannt oder empfunden ward. Denken und Empfinden
war aber bei jenen Völkern so wenig wie bei irgendeinem andern stets das
gleiche, sondern hatte im Laufe der Zeiten und Ereignisse eine höchst mannig¬
fache Entwickelung durchzumachen. Demzufolge wird die Philologie, so auf¬
gefaßt, unausbleiblich eine historische Wissenschaft, wie sie auch ihr Name als
die „Liebe zu den Ueberlieferungen" bezeichnet, sie wird am letzten Ende zur
Geschichte der alten Cultur. Die Grammatik gestaltet sich nunmehr um zur
Geschichte der Sprache als der Form für die Denkweise des Volkes, wandelbar
wie die Denkweise selbst. Die Mythologie hört auf, die Mythen und Sagen
der verschiedenartigsten Zeiten zu einem buntscheckigen und daher albern er¬
scheinenden Bilde zusammenzuwerfen, sie sucht vielmehr nachzuweisen, wie die
religiösen Anschauungen des Volkes allmälig sich entwickeln und umgestalten,
im Verein und in Wechselwirkung mit allen übrigen Seiten des Volksgeistes:
sie wird zur Religionsgeschichte. Es erhellt nun auch, von welcher Wichtigkeit
für die Philologie eine gesunde Entwickelung der übrigen Geschichtsforschung ist.
Schwerlich ist es zufällig, jedenfalls aber als ein besonderes Glück auch für die
Altertumswissenschaft anzuerkennen, daß zu gleicher Zeit mit dem geschilderten
Aufschwünge der Philologie ein Mann wie Niebuhr die Geschichtsforschung neu
begründete. Nicht allein daß er zuerst umsichtige methodische Kritik der Quellen
anwandte, er rückte uns ja auch zuerst die alte Geschichte dadurch näher, daß
er zeigte, wie die Volksentwickelung sich im Alterthum nach den gleichen Ge¬
setzen Vollzieht, wie noch heutzutage, so weit nämlich die äußeren Bedingungen
gleiche oder ähnliche sind. Wenn Niebuhr so die römische Geschichte aus der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/64>, abgerufen am 26.07.2024.