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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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hierbei ganz historisch zu verfahren. Aber er übersah, daß zwischen jener so¬
genannten Blüthezeit des Reichs und des Cusanus eigenen Tagen ebenfalls
eine Zeit, ebenfalls mit historisch Gewordenen lag, das sich nicht ohne Weiteres
beseitigen oder hinwegläugnc" und ignoriren ließ: die Zeit der Entwickelung
der Landeshoheit der deutschen Reichsstände. Er geht nun zwar nicht soweit,
diese ganz wieder aufheben zu wollen, er will sie nur wieder beschränkt wissen
zum Vortheile des Ganzen; aber dies immerhin in einem Grade, welchem die
damaligen Zeitverhältmsse entschieden ungünstig waren. Nur einem glücklichen
Eroberer mit Feuer und Schwert wäre es möglich gewesen, diese bereits groß
gewachsene und in der Richtung der Unabhängigkeit von der Kaisergewalt offen¬
bar noch fortwährend weiter strebende Landeshoheit wieder in das von Cusanus
vorgeschlagene Unlerordnungsverhältniß zurückzudrängen. Nachdem sie einmal
aus letzterem sich im Lause zweier Jahrhunderte fortgesetzt emporgehoben, mußten
die Schwierigkeiten einleuchten, dieser immer breiter angeschwollenen Strömung
der Zeit mit so tief eingreifenden Aenderungen, wie Cusanus sie vorgeschlagen,
ohne Feuer und Schwert erfolgreich entgegenzutreten. Ließ sich wohl erwarten,
daß die geistlichen Fürsten ohne Nöthigung ihre weltliche Regierung aufgeben
würden? Ließ sich wohl von sämmtlichen Reichsfürsten annehmen, daß sie dem
Kaiser die Mittel zur Unterhaltung eines stehenden Heeres, das auch gegen sie
selbst gerichtet sein konnte und sollte, ohne Kampf und Niederlage bewilligen,
ihm die alleinige Besetzung der zwölf obersten Gerichtshöfe des Reichs, die auch
über sie selbst Recht sprechen sollten, ohne Weiteres zugestehen und ruhig zulassen
würden, daß zwischen rhnen und dem Kaiser ein zweiter Reichstag aus ganz
anderen Elementen zusammengesetzt und mit wichtigen Kompetenzen betraut,
eingeschoben werde, bei dessen Erwählung ihnen keinerlei Mitwirkung gegönnt
war und aus welchen doch Geschäfte übergehen sollten, die bis dahin dem Reichs¬
tage der Fürsten zugefallen sein würden? Hatte nicht Kaiser Sigismund selbst
erst vor wenigen Jahren mit viel weniger weit gehenden Vorschlägen in der
Reichsversammlung sehr traurige Ersahrungen gemacht?

Und so geschah es denn auch. Die Vorschläge des Cusanus gelangten
weder zu seinen Lebzeiten, noch selbst im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte
zur Ausführung. Zwar war zu verschiedenen Zeiten ein neuer Anlauf zu dieser
und jener Reform der Reichsverfassung genommen, die zum Theil wenigstens
den Vorschlägen des Cusanus nicht unähnlich waren: es ward unter Maximilian
dem Ersten ein ewiger und unbedingter Landfriede verkündet, ein Reichskammer-
gericht und auch unter dem Namen des "Neichsregiments" ein -- von dem
zweiten oder volksmäßigen Reichstage des Cusanus freilich wesentlich verschie¬
dener -- ständiger Reichsrath neben dem Kaiser errichtet. Zu wirklichem Leben
indessen gediehen alle diese Schöpfungen nicht. Denn wenn in den Neligions-
spaltungen, welche die nun folgenden zwei Jahrhunderte erfüllen sollten, zeit-


Grenzbotcn I. 1M7, 60

hierbei ganz historisch zu verfahren. Aber er übersah, daß zwischen jener so¬
genannten Blüthezeit des Reichs und des Cusanus eigenen Tagen ebenfalls
eine Zeit, ebenfalls mit historisch Gewordenen lag, das sich nicht ohne Weiteres
beseitigen oder hinwegläugnc» und ignoriren ließ: die Zeit der Entwickelung
der Landeshoheit der deutschen Reichsstände. Er geht nun zwar nicht soweit,
diese ganz wieder aufheben zu wollen, er will sie nur wieder beschränkt wissen
zum Vortheile des Ganzen; aber dies immerhin in einem Grade, welchem die
damaligen Zeitverhältmsse entschieden ungünstig waren. Nur einem glücklichen
Eroberer mit Feuer und Schwert wäre es möglich gewesen, diese bereits groß
gewachsene und in der Richtung der Unabhängigkeit von der Kaisergewalt offen¬
bar noch fortwährend weiter strebende Landeshoheit wieder in das von Cusanus
vorgeschlagene Unlerordnungsverhältniß zurückzudrängen. Nachdem sie einmal
aus letzterem sich im Lause zweier Jahrhunderte fortgesetzt emporgehoben, mußten
die Schwierigkeiten einleuchten, dieser immer breiter angeschwollenen Strömung
der Zeit mit so tief eingreifenden Aenderungen, wie Cusanus sie vorgeschlagen,
ohne Feuer und Schwert erfolgreich entgegenzutreten. Ließ sich wohl erwarten,
daß die geistlichen Fürsten ohne Nöthigung ihre weltliche Regierung aufgeben
würden? Ließ sich wohl von sämmtlichen Reichsfürsten annehmen, daß sie dem
Kaiser die Mittel zur Unterhaltung eines stehenden Heeres, das auch gegen sie
selbst gerichtet sein konnte und sollte, ohne Kampf und Niederlage bewilligen,
ihm die alleinige Besetzung der zwölf obersten Gerichtshöfe des Reichs, die auch
über sie selbst Recht sprechen sollten, ohne Weiteres zugestehen und ruhig zulassen
würden, daß zwischen rhnen und dem Kaiser ein zweiter Reichstag aus ganz
anderen Elementen zusammengesetzt und mit wichtigen Kompetenzen betraut,
eingeschoben werde, bei dessen Erwählung ihnen keinerlei Mitwirkung gegönnt
war und aus welchen doch Geschäfte übergehen sollten, die bis dahin dem Reichs¬
tage der Fürsten zugefallen sein würden? Hatte nicht Kaiser Sigismund selbst
erst vor wenigen Jahren mit viel weniger weit gehenden Vorschlägen in der
Reichsversammlung sehr traurige Ersahrungen gemacht?

Und so geschah es denn auch. Die Vorschläge des Cusanus gelangten
weder zu seinen Lebzeiten, noch selbst im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte
zur Ausführung. Zwar war zu verschiedenen Zeiten ein neuer Anlauf zu dieser
und jener Reform der Reichsverfassung genommen, die zum Theil wenigstens
den Vorschlägen des Cusanus nicht unähnlich waren: es ward unter Maximilian
dem Ersten ein ewiger und unbedingter Landfriede verkündet, ein Reichskammer-
gericht und auch unter dem Namen des „Neichsregiments" ein — von dem
zweiten oder volksmäßigen Reichstage des Cusanus freilich wesentlich verschie¬
dener — ständiger Reichsrath neben dem Kaiser errichtet. Zu wirklichem Leben
indessen gediehen alle diese Schöpfungen nicht. Denn wenn in den Neligions-
spaltungen, welche die nun folgenden zwei Jahrhunderte erfüllen sollten, zeit-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/479>, abgerufen am 01.10.2024.