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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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großer Majorität die Wahl des Herrn v. Oheimb genehmigte, richtig ist oder
nicht. Dagegen halten wir den von dem Referenten abgegebenen und leider
von niemandem bestrittenen Wahrspruch, daß bei geheimer Abstimmung Wahl¬
beeinflussung nicht möglich sei, weil man ihre Wirkung nicht beweisen könne,
für sehr gefährlich. Er ist geeignet, in Deutschland ein dem französischen Suf-
frage-universel-System analoges Verfahren herbeizuführen, was auf das äu¬
ßerste zu beklagen wäre. Denn es demoralisirt das Volk und schwächt die
Kraft der Centralgewalt, der die kleinen Regierungen, welche in ihren Ländchen,
wenn man ihnen die Wahlbecinflussung ganz frei giebt, gradezu können wählen
lasse", wen sie wollen, lauter eingefleischte Particularistcn schicken werden. Der
Sah. daß die geheime Abstimmung die Wahlbecinflussung ausschließe, beruht
auf der Voraussetzung, daß das Votum uncontrolirbar sei. Diese Voraussetzung
ist grundfalsch. Der Wahlvorstand, der die Zettel empfängt, kann sehr wohl
controliren, je nachdem der Zettel der einen oder der andern Partei länger oder
kürzer, das Papier mehr oder weniger weiß, oder je nachdem es weicher oder
glätter anzufühlen ist. Aber auch ohne dieses Mittel stellen sich die negativen
Resultate von selbst fest. Wenn z. B. in dem Dorfe N., wie dies in dem
oheimbschen Falle behauptet wird, der Weganfscher sämmtlichen dortigen
Chausscearbeitern gesagt hat: "Wenn Ihr Oheimb wählt, bekommt Ihr Tage¬
lohn für den Wahltag; -- wenn nicht -- nicht", und wenn in diesem Dorf
von allen abgegebenen Stimmen keine einzige aus Oheimb gefallen ist, so er¬
scheint es als festgestellt, daß keiner der Chausseearbeiter für Oheimb gestimmt
hat; er bekäme in diesem Falle keinen Tagelohn, und wenn er das weiß, so
ist es nicht schwer zu errathen, was ein armer Mann thun wird, der den Tag¬
lohn nicht entbehren kann und sich bei der hohen Obrigkeit nicht mißliebig
machen will. Grade weil die Bestechung und die Vergewaltigung, der Miß-
brauch der Amtsgewalt und deren Erfolge beim Ballot schwerer nachzuweisen
sind, grade deshalb muß man es um so strenger damit nehmen, wenn man
nicht riskiren will, daß die Stimme des Volks auf das freventlichste gefälscht
wird -- jenes Volks, von welchem der conservative Abgeordnete Wagner-Neu-
stettin in der Neichstagssitzung vom 9. März 1866 nach Citirung der franzö¬
sischen Phrase: "Alle brennenden Parteiunterschiede erlöschen in dem großen
Meere des allgemeinen Stimmrechts", zu behaupten die Kühnheit hatte, es
interessire sich nicht mehr für Politik, sondern nur noch für religiöse und für
sociale Fragen -- oder, wie er es sehr drastisch ausdrückte, "für Fragen des
Herzens und des Magens".

Wenn der Reichstag den bereits jetzt gegen ihn erhobenen Vorwurf, er
sei bei der Wahlprüfung nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit und Strenge
vorgegangen, nicht nur durch Berufung auf die in der Sachlage zu findenden
Gründe, welche aus möglichste Beschleunigung der Constituirung losdrängten,


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großer Majorität die Wahl des Herrn v. Oheimb genehmigte, richtig ist oder
nicht. Dagegen halten wir den von dem Referenten abgegebenen und leider
von niemandem bestrittenen Wahrspruch, daß bei geheimer Abstimmung Wahl¬
beeinflussung nicht möglich sei, weil man ihre Wirkung nicht beweisen könne,
für sehr gefährlich. Er ist geeignet, in Deutschland ein dem französischen Suf-
frage-universel-System analoges Verfahren herbeizuführen, was auf das äu¬
ßerste zu beklagen wäre. Denn es demoralisirt das Volk und schwächt die
Kraft der Centralgewalt, der die kleinen Regierungen, welche in ihren Ländchen,
wenn man ihnen die Wahlbecinflussung ganz frei giebt, gradezu können wählen
lasse», wen sie wollen, lauter eingefleischte Particularistcn schicken werden. Der
Sah. daß die geheime Abstimmung die Wahlbecinflussung ausschließe, beruht
auf der Voraussetzung, daß das Votum uncontrolirbar sei. Diese Voraussetzung
ist grundfalsch. Der Wahlvorstand, der die Zettel empfängt, kann sehr wohl
controliren, je nachdem der Zettel der einen oder der andern Partei länger oder
kürzer, das Papier mehr oder weniger weiß, oder je nachdem es weicher oder
glätter anzufühlen ist. Aber auch ohne dieses Mittel stellen sich die negativen
Resultate von selbst fest. Wenn z. B. in dem Dorfe N., wie dies in dem
oheimbschen Falle behauptet wird, der Weganfscher sämmtlichen dortigen
Chausscearbeitern gesagt hat: „Wenn Ihr Oheimb wählt, bekommt Ihr Tage¬
lohn für den Wahltag; — wenn nicht — nicht", und wenn in diesem Dorf
von allen abgegebenen Stimmen keine einzige aus Oheimb gefallen ist, so er¬
scheint es als festgestellt, daß keiner der Chausseearbeiter für Oheimb gestimmt
hat; er bekäme in diesem Falle keinen Tagelohn, und wenn er das weiß, so
ist es nicht schwer zu errathen, was ein armer Mann thun wird, der den Tag¬
lohn nicht entbehren kann und sich bei der hohen Obrigkeit nicht mißliebig
machen will. Grade weil die Bestechung und die Vergewaltigung, der Miß-
brauch der Amtsgewalt und deren Erfolge beim Ballot schwerer nachzuweisen
sind, grade deshalb muß man es um so strenger damit nehmen, wenn man
nicht riskiren will, daß die Stimme des Volks auf das freventlichste gefälscht
wird — jenes Volks, von welchem der conservative Abgeordnete Wagner-Neu-
stettin in der Neichstagssitzung vom 9. März 1866 nach Citirung der franzö¬
sischen Phrase: „Alle brennenden Parteiunterschiede erlöschen in dem großen
Meere des allgemeinen Stimmrechts", zu behaupten die Kühnheit hatte, es
interessire sich nicht mehr für Politik, sondern nur noch für religiöse und für
sociale Fragen — oder, wie er es sehr drastisch ausdrückte, „für Fragen des
Herzens und des Magens".

Wenn der Reichstag den bereits jetzt gegen ihn erhobenen Vorwurf, er
sei bei der Wahlprüfung nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit und Strenge
vorgegangen, nicht nur durch Berufung auf die in der Sachlage zu findenden
Gründe, welche aus möglichste Beschleunigung der Constituirung losdrängten,


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[0465] großer Majorität die Wahl des Herrn v. Oheimb genehmigte, richtig ist oder nicht. Dagegen halten wir den von dem Referenten abgegebenen und leider von niemandem bestrittenen Wahrspruch, daß bei geheimer Abstimmung Wahl¬ beeinflussung nicht möglich sei, weil man ihre Wirkung nicht beweisen könne, für sehr gefährlich. Er ist geeignet, in Deutschland ein dem französischen Suf- frage-universel-System analoges Verfahren herbeizuführen, was auf das äu¬ ßerste zu beklagen wäre. Denn es demoralisirt das Volk und schwächt die Kraft der Centralgewalt, der die kleinen Regierungen, welche in ihren Ländchen, wenn man ihnen die Wahlbecinflussung ganz frei giebt, gradezu können wählen lasse», wen sie wollen, lauter eingefleischte Particularistcn schicken werden. Der Sah. daß die geheime Abstimmung die Wahlbecinflussung ausschließe, beruht auf der Voraussetzung, daß das Votum uncontrolirbar sei. Diese Voraussetzung ist grundfalsch. Der Wahlvorstand, der die Zettel empfängt, kann sehr wohl controliren, je nachdem der Zettel der einen oder der andern Partei länger oder kürzer, das Papier mehr oder weniger weiß, oder je nachdem es weicher oder glätter anzufühlen ist. Aber auch ohne dieses Mittel stellen sich die negativen Resultate von selbst fest. Wenn z. B. in dem Dorfe N., wie dies in dem oheimbschen Falle behauptet wird, der Weganfscher sämmtlichen dortigen Chausscearbeitern gesagt hat: „Wenn Ihr Oheimb wählt, bekommt Ihr Tage¬ lohn für den Wahltag; — wenn nicht — nicht", und wenn in diesem Dorf von allen abgegebenen Stimmen keine einzige aus Oheimb gefallen ist, so er¬ scheint es als festgestellt, daß keiner der Chausseearbeiter für Oheimb gestimmt hat; er bekäme in diesem Falle keinen Tagelohn, und wenn er das weiß, so ist es nicht schwer zu errathen, was ein armer Mann thun wird, der den Tag¬ lohn nicht entbehren kann und sich bei der hohen Obrigkeit nicht mißliebig machen will. Grade weil die Bestechung und die Vergewaltigung, der Miß- brauch der Amtsgewalt und deren Erfolge beim Ballot schwerer nachzuweisen sind, grade deshalb muß man es um so strenger damit nehmen, wenn man nicht riskiren will, daß die Stimme des Volks auf das freventlichste gefälscht wird — jenes Volks, von welchem der conservative Abgeordnete Wagner-Neu- stettin in der Neichstagssitzung vom 9. März 1866 nach Citirung der franzö¬ sischen Phrase: „Alle brennenden Parteiunterschiede erlöschen in dem großen Meere des allgemeinen Stimmrechts", zu behaupten die Kühnheit hatte, es interessire sich nicht mehr für Politik, sondern nur noch für religiöse und für sociale Fragen — oder, wie er es sehr drastisch ausdrückte, „für Fragen des Herzens und des Magens". Wenn der Reichstag den bereits jetzt gegen ihn erhobenen Vorwurf, er sei bei der Wahlprüfung nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit und Strenge vorgegangen, nicht nur durch Berufung auf die in der Sachlage zu findenden Gründe, welche aus möglichste Beschleunigung der Constituirung losdrängten, 58*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/465>, abgerufen am 30.09.2024.