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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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bestatteten Leiden, der ermordeten Oheime hervor: nichts Anderes also sind sie
als deren Seelen, die an dem Mörder die Blutrache vollstrecken wollen und
zwar in seiner Sünden Fülle, da er eben beim Gelage schwelgt. Nur den
Schuldigen falle" sie unerbittlich an. alle anderen, die ihn umgeben, bleiben
verschon!; nach einer Erzählung treten sie sogar unsichtbar auf, um ihre geistige
Natur recht kenntlich zu machen. Sie erscheinen in dem Augenblicke, da der
der Unthat hinzugefügte Hohn gleichsam den Becher der Schuld überfließen läßt.
Der Beifolgte findet nirgend Schuh vor ihnen, weder auf der Erde, wo keine
Waffe ihrer Menge gewachsen ist, noch ans dem Wasser, denn sie schwimmen
seinem Schiffe unaufhaltsam nach, weder hinter den Flammen des angezündeten
Holzstoßes, welche sie durchbrechen, noch endlich in der Luft, denn diese ist an¬
gedeutet durch den Bau eines hohen Thurmes und noch deutlicher durch das
Aufhängen in einem schwebenden Kasten. In keinem der vier Elemente also
vermag der Uebelthäter sich zu bergen: überall stehen ihm als Rachegeister die
Seelen der Gemordeten unentrinnbar vor Augen, überall zerreißen ihn nagende
Gewissensbisse, bis er endlich elend an seiner Schuld zu Grunde geht. So
wären die Mäuse gleich den griechischen Erinnycn mit ihren Schlangen ein
Bild der Gewissensqualen, gegen die auch der mächtigste Verbrecher sich nicht
schützen kann und trefflich würde dazu stimmen, daß ihre Verfolgung ausdrück¬
lich als ein Strafgericht Gottes bezeichnet wird.

So ansprechend diese Deutung für unser sittliches Gefühl scheinen mag
und so gewiß es auch ist, daß die christlichen Erzähler der Sage eine moralische
Nutzanwendung.hineingelegt haben, so entstehen gegen dieselbe doch große Be¬
denken, Die erbauliche Wendung einer viel jüngeren Zeit beweist ja zunächst
gar nichts für den ursprünglichen Sinn der Sage. Die Auffassung derer, weiche
uns vom Mäusethurme Kunde hinterlassen haben oder uns noch heute Kunde
davon geben, ist für "us keinesfalls maßgebend, denn sie betrachten ihn nur als
eine wunderbare geschichtliche Thatsache, die sie entweder annehmen oder bezwei¬
feln, hinter der sie aber sicherlich keinen tieferen Gehalt als den unmittelbar
moralische" suchen, -- Die obige Auslegung ferner erklärt zwar den Untergang
des Frevlers, allein sie läßt völlig unerörtert, weshalb grade gegen die Armen
so unmenschliche Härte geübt wurde, wie es durch Hatto geschah. Der Fcuer-
odcr Hungertod der arme" Leute ist al'er offenbar ein ebenso wesentliches Stück
der Sage, wie die Flucht vor den Mäusen. Dies Motiv kehrt am häufigsten
wieder, auch in Polen scheint es, wie schon angedeutet, ursprünglich zu Grunde
zu liegen, weil der Name Popiel einen bezeichnet, der da sengt und brennt, da¬
her den Bösen oder den Teufel selbst. Die Abweichungen sind dann vielleicht
so zu erklären, daß an manchen Orten nur der schreckliche Ausgang des Frev¬
lers in dem Gedächtniß der Menschen haftete -- wie wir ja sehr oft solche
trümmerhafte Ueberlieferungen finden -- und daß man diesem Ausgange irgend-


bestatteten Leiden, der ermordeten Oheime hervor: nichts Anderes also sind sie
als deren Seelen, die an dem Mörder die Blutrache vollstrecken wollen und
zwar in seiner Sünden Fülle, da er eben beim Gelage schwelgt. Nur den
Schuldigen falle» sie unerbittlich an. alle anderen, die ihn umgeben, bleiben
verschon!; nach einer Erzählung treten sie sogar unsichtbar auf, um ihre geistige
Natur recht kenntlich zu machen. Sie erscheinen in dem Augenblicke, da der
der Unthat hinzugefügte Hohn gleichsam den Becher der Schuld überfließen läßt.
Der Beifolgte findet nirgend Schuh vor ihnen, weder auf der Erde, wo keine
Waffe ihrer Menge gewachsen ist, noch ans dem Wasser, denn sie schwimmen
seinem Schiffe unaufhaltsam nach, weder hinter den Flammen des angezündeten
Holzstoßes, welche sie durchbrechen, noch endlich in der Luft, denn diese ist an¬
gedeutet durch den Bau eines hohen Thurmes und noch deutlicher durch das
Aufhängen in einem schwebenden Kasten. In keinem der vier Elemente also
vermag der Uebelthäter sich zu bergen: überall stehen ihm als Rachegeister die
Seelen der Gemordeten unentrinnbar vor Augen, überall zerreißen ihn nagende
Gewissensbisse, bis er endlich elend an seiner Schuld zu Grunde geht. So
wären die Mäuse gleich den griechischen Erinnycn mit ihren Schlangen ein
Bild der Gewissensqualen, gegen die auch der mächtigste Verbrecher sich nicht
schützen kann und trefflich würde dazu stimmen, daß ihre Verfolgung ausdrück¬
lich als ein Strafgericht Gottes bezeichnet wird.

So ansprechend diese Deutung für unser sittliches Gefühl scheinen mag
und so gewiß es auch ist, daß die christlichen Erzähler der Sage eine moralische
Nutzanwendung.hineingelegt haben, so entstehen gegen dieselbe doch große Be¬
denken, Die erbauliche Wendung einer viel jüngeren Zeit beweist ja zunächst
gar nichts für den ursprünglichen Sinn der Sage. Die Auffassung derer, weiche
uns vom Mäusethurme Kunde hinterlassen haben oder uns noch heute Kunde
davon geben, ist für »us keinesfalls maßgebend, denn sie betrachten ihn nur als
eine wunderbare geschichtliche Thatsache, die sie entweder annehmen oder bezwei¬
feln, hinter der sie aber sicherlich keinen tieferen Gehalt als den unmittelbar
moralische» suchen, — Die obige Auslegung ferner erklärt zwar den Untergang
des Frevlers, allein sie läßt völlig unerörtert, weshalb grade gegen die Armen
so unmenschliche Härte geübt wurde, wie es durch Hatto geschah. Der Fcuer-
odcr Hungertod der arme» Leute ist al'er offenbar ein ebenso wesentliches Stück
der Sage, wie die Flucht vor den Mäusen. Dies Motiv kehrt am häufigsten
wieder, auch in Polen scheint es, wie schon angedeutet, ursprünglich zu Grunde
zu liegen, weil der Name Popiel einen bezeichnet, der da sengt und brennt, da¬
her den Bösen oder den Teufel selbst. Die Abweichungen sind dann vielleicht
so zu erklären, daß an manchen Orten nur der schreckliche Ausgang des Frev¬
lers in dem Gedächtniß der Menschen haftete — wie wir ja sehr oft solche
trümmerhafte Ueberlieferungen finden — und daß man diesem Ausgange irgend-


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[0361] bestatteten Leiden, der ermordeten Oheime hervor: nichts Anderes also sind sie als deren Seelen, die an dem Mörder die Blutrache vollstrecken wollen und zwar in seiner Sünden Fülle, da er eben beim Gelage schwelgt. Nur den Schuldigen falle» sie unerbittlich an. alle anderen, die ihn umgeben, bleiben verschon!; nach einer Erzählung treten sie sogar unsichtbar auf, um ihre geistige Natur recht kenntlich zu machen. Sie erscheinen in dem Augenblicke, da der der Unthat hinzugefügte Hohn gleichsam den Becher der Schuld überfließen läßt. Der Beifolgte findet nirgend Schuh vor ihnen, weder auf der Erde, wo keine Waffe ihrer Menge gewachsen ist, noch ans dem Wasser, denn sie schwimmen seinem Schiffe unaufhaltsam nach, weder hinter den Flammen des angezündeten Holzstoßes, welche sie durchbrechen, noch endlich in der Luft, denn diese ist an¬ gedeutet durch den Bau eines hohen Thurmes und noch deutlicher durch das Aufhängen in einem schwebenden Kasten. In keinem der vier Elemente also vermag der Uebelthäter sich zu bergen: überall stehen ihm als Rachegeister die Seelen der Gemordeten unentrinnbar vor Augen, überall zerreißen ihn nagende Gewissensbisse, bis er endlich elend an seiner Schuld zu Grunde geht. So wären die Mäuse gleich den griechischen Erinnycn mit ihren Schlangen ein Bild der Gewissensqualen, gegen die auch der mächtigste Verbrecher sich nicht schützen kann und trefflich würde dazu stimmen, daß ihre Verfolgung ausdrück¬ lich als ein Strafgericht Gottes bezeichnet wird. So ansprechend diese Deutung für unser sittliches Gefühl scheinen mag und so gewiß es auch ist, daß die christlichen Erzähler der Sage eine moralische Nutzanwendung.hineingelegt haben, so entstehen gegen dieselbe doch große Be¬ denken, Die erbauliche Wendung einer viel jüngeren Zeit beweist ja zunächst gar nichts für den ursprünglichen Sinn der Sage. Die Auffassung derer, weiche uns vom Mäusethurme Kunde hinterlassen haben oder uns noch heute Kunde davon geben, ist für »us keinesfalls maßgebend, denn sie betrachten ihn nur als eine wunderbare geschichtliche Thatsache, die sie entweder annehmen oder bezwei¬ feln, hinter der sie aber sicherlich keinen tieferen Gehalt als den unmittelbar moralische» suchen, — Die obige Auslegung ferner erklärt zwar den Untergang des Frevlers, allein sie läßt völlig unerörtert, weshalb grade gegen die Armen so unmenschliche Härte geübt wurde, wie es durch Hatto geschah. Der Fcuer- odcr Hungertod der arme» Leute ist al'er offenbar ein ebenso wesentliches Stück der Sage, wie die Flucht vor den Mäusen. Dies Motiv kehrt am häufigsten wieder, auch in Polen scheint es, wie schon angedeutet, ursprünglich zu Grunde zu liegen, weil der Name Popiel einen bezeichnet, der da sengt und brennt, da¬ her den Bösen oder den Teufel selbst. Die Abweichungen sind dann vielleicht so zu erklären, daß an manchen Orten nur der schreckliche Ausgang des Frev¬ lers in dem Gedächtniß der Menschen haftete — wie wir ja sehr oft solche trümmerhafte Ueberlieferungen finden — und daß man diesem Ausgange irgend-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/361>, abgerufen am 02.10.2024.