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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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befriedigten und dem Wahrheilsbedürftigen als eine von demselben Zuge und
Bedürfniß hcrvorgetriebene Erscheinung, die protestantische Kirche als eine
Secte von Freigeistern und Philosophen. ?rote!kenn und Juden-nu ist vielen
gleichbedeutend mit Volturiiur (d. h. Atheisten), l^rumssun (d. h. tiÄne um.MA,
Freimaurer).*) In dieser Begriffsverwirrung hat die amerikanische und englische
Mission den Hebel eingesetzt und in zum Theil sehr verständiger und kluger
Weise das Werk der Evangclisation begonnen. Einmal nahe gebracht kamen
viele durch den Irrthum zur Wahrheit. Die Erfolge waren überraschend und
ebenso laute Zeugnisse für die Toleranz der Türken, wie für die tiefgehende
innere Krisis im Volke.

Schon im Jahre 1886 war unmittelbar vor dem Hauptportal der Aja
Sophia Angesichts der fortwährend aus und einströmenden Geistlichen das
neue Testament in türkischer Uebersetzung frei zum Verkauf ausgelegt. Und
damals wurden sie eifrig Von den Sofias selbst getauft und gelesen, die als
Hüter des Islam gegen das G>se gcfciet zu sein meinten und dann oft am
lebendigsten ergriffen wurden. Einer derselben kaufte einst fünfzehn Exemplare
gleichzeitig, bat den Colporteur, sofort fünfzehn neue zu holen und wartete
heimlich bis auch die zweite Lieferung angelangt war. Monatlich wurden durch¬
schnittlich dreihundert Exemplare des türkischen neuen Testaments abgesetzt; im
Ganzen kaufte der Mittelstand am regsten. Lord Stratfvrd hatte dem Sultan
Abdul Medschid aus persönlicher Zuneigung eine Bibel geschenkt, als er erfahren,
daß dieser sie nicht ganz besitze. Darauf überreichte ihm eine Deputation der
britischen Bibelgesellschaft ein Prachtexemplar; der Sultan scherzte, man wolle
ihn wohl zum Christenthum bekehren, nahm das Geschenk aber freundlich an,
ließ der Deputation den Palast zeigen und las, wie Lord Stratfvrd bestimmt
erfahren haben wollte, noch denselben Abend darin. Schon damals gab es
Cas6s mitten im eigentlichen Konstantinopel, in denen Zusammenkünfte stiller
Anhänger des Evangeliums sich allabendlich zum Bibellesen versammelten. Fol¬
gender Zufall gab neue Wege an die Hand. Eine Sendung ins Persische über¬
setzter Bücher, welche rein wissenschaftliche Widerlegung des Islam zum Inhalt
hatten, gelangte nach Konstantinopel zur Weiterbeförderung. Man hatte ver¬
gessen, das englische Titelblatt mit der 'Notiz "Streitschriften gegen den Muha-
medanismus" zu entfernen. Sie wurden daher von der Douane in Beschlag
genommen, verschwanden aber hier, ehe noch weitere Instruction aus England
ankam und fanden sich dann überall in der Stadt verstreut wieder. Sie waren
gestohlen worden und hatten so weit schnellere Verbreitung gefunden, als alle
absichtlichen Anstrengungen vielleicht zu Wege gebracht hätten. Man ließ nun
sofort noch einen Ballen kommen und noch einmal stehlen; ja es fand sich ein



") Wir verweisen rücksichtlich dieses Punktes u, a. auf eine Notiz des "Globus" von
18">4, worin die Gründung einer türkischen Loge in Konstantinopel projectm war.

befriedigten und dem Wahrheilsbedürftigen als eine von demselben Zuge und
Bedürfniß hcrvorgetriebene Erscheinung, die protestantische Kirche als eine
Secte von Freigeistern und Philosophen. ?rote!kenn und Juden-nu ist vielen
gleichbedeutend mit Volturiiur (d. h. Atheisten), l^rumssun (d. h. tiÄne um.MA,
Freimaurer).*) In dieser Begriffsverwirrung hat die amerikanische und englische
Mission den Hebel eingesetzt und in zum Theil sehr verständiger und kluger
Weise das Werk der Evangclisation begonnen. Einmal nahe gebracht kamen
viele durch den Irrthum zur Wahrheit. Die Erfolge waren überraschend und
ebenso laute Zeugnisse für die Toleranz der Türken, wie für die tiefgehende
innere Krisis im Volke.

Schon im Jahre 1886 war unmittelbar vor dem Hauptportal der Aja
Sophia Angesichts der fortwährend aus und einströmenden Geistlichen das
neue Testament in türkischer Uebersetzung frei zum Verkauf ausgelegt. Und
damals wurden sie eifrig Von den Sofias selbst getauft und gelesen, die als
Hüter des Islam gegen das G>se gcfciet zu sein meinten und dann oft am
lebendigsten ergriffen wurden. Einer derselben kaufte einst fünfzehn Exemplare
gleichzeitig, bat den Colporteur, sofort fünfzehn neue zu holen und wartete
heimlich bis auch die zweite Lieferung angelangt war. Monatlich wurden durch¬
schnittlich dreihundert Exemplare des türkischen neuen Testaments abgesetzt; im
Ganzen kaufte der Mittelstand am regsten. Lord Stratfvrd hatte dem Sultan
Abdul Medschid aus persönlicher Zuneigung eine Bibel geschenkt, als er erfahren,
daß dieser sie nicht ganz besitze. Darauf überreichte ihm eine Deputation der
britischen Bibelgesellschaft ein Prachtexemplar; der Sultan scherzte, man wolle
ihn wohl zum Christenthum bekehren, nahm das Geschenk aber freundlich an,
ließ der Deputation den Palast zeigen und las, wie Lord Stratfvrd bestimmt
erfahren haben wollte, noch denselben Abend darin. Schon damals gab es
Cas6s mitten im eigentlichen Konstantinopel, in denen Zusammenkünfte stiller
Anhänger des Evangeliums sich allabendlich zum Bibellesen versammelten. Fol¬
gender Zufall gab neue Wege an die Hand. Eine Sendung ins Persische über¬
setzter Bücher, welche rein wissenschaftliche Widerlegung des Islam zum Inhalt
hatten, gelangte nach Konstantinopel zur Weiterbeförderung. Man hatte ver¬
gessen, das englische Titelblatt mit der 'Notiz „Streitschriften gegen den Muha-
medanismus" zu entfernen. Sie wurden daher von der Douane in Beschlag
genommen, verschwanden aber hier, ehe noch weitere Instruction aus England
ankam und fanden sich dann überall in der Stadt verstreut wieder. Sie waren
gestohlen worden und hatten so weit schnellere Verbreitung gefunden, als alle
absichtlichen Anstrengungen vielleicht zu Wege gebracht hätten. Man ließ nun
sofort noch einen Ballen kommen und noch einmal stehlen; ja es fand sich ein



") Wir verweisen rücksichtlich dieses Punktes u, a. auf eine Notiz des „Globus" von
18«>4, worin die Gründung einer türkischen Loge in Konstantinopel projectm war.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/316>, abgerufen am 25.07.2024.