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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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dern auch Quelle und Norm alles Rechts, aller Gesetze, das Fundament für
alle Maximen der Negierung. ihr voi'MS MriiZ und Staatsgrundgesetz. Theologie
und Jurisprudenz, Staat und Kirche fallen zusammen, aber nicht in dem Sinne
harmonischer Durchdringung und Ausgleichung, sondern wir haben in der Türkei
ein Beispiel unbegrenzter Herrschaft der Kirche über den Staat, völliger Knebe¬
lung des Staates durch die Kirche. Jedes neue Staatsgesetz bedarf des Fetwa,
d. h. des billigenden Gutachtens von Seiten des Scheit ni Islam, daß es sich
im Einklang befinde mit den Lehren des Koran. Und wollte das geistliche
Oberhaupt über diesen Punkt hinwegsehen, so würde der Stand der Richter als
zugleich der Geistlichen sich erheben zu einem Veto, das in dem einfachen Ge¬
müth des gläubigen Moslem lautes Echo fände.

Es war ein kläglicher Nothbehelf, zu welchem die Reformpartei griff bei
allen den Hals, welche das alte Türkenthum in die Bahnen des civilisirten
Europa hineinziehen sollten, daß sie die mangelhaften Zustände der Gegen¬
wart und die ihnen zu Grunde liegenden Mißbräuche auf Mißverständnisse des
Koran zurückführte und die bessere Auslegung desselben als Norm politischer
Neugestaltung hinstellte. Aber es war der einzig mögliche Weg. Die Armuth
und Unzulänglichkeit des Koran als eine Rechts- und Gesetzcsquelle war schon
bald nach seinem Entstehen gefühlt worden. Man berief sich indeß auf münd¬
liche Aussprüche Mvhcuneds, dann auf Beschlüsse des ersten Kalifen, endlich auf
die Verordnungen der ersten Jnuuns, nach deren Analogie ziemlich willkürlich
Verfahren werden konnte, wofern sich nur geschmeidige U!ümas, ein einverstan¬
dener Scheik ni Islam fand. Man brauchte jetzt nur rückwärts auf demselben
Wege die ganze Tradition über Bord zu werfen, die Herstellung des alten
Korantextes zu erwirken, aber man begreift, daß das heißt, die Axt an die
Wurzel des Muhamedanismus legen, wie es den Katholicismus vernichten
würde, nähme man ihm die Tradition. Und auch so ist das Experiment immer
von der Zufälligkeit williger Organe abhängig.

Eine Persönlichkeit wie Mahmud der Zweit/schuf sie sich, als er die Ja-
nitscharen vernichten wollte, welche den früheren Sultanen als eine Schaar von
tapferen Glaubenskämpfern galten, auf deuen der Segen Gottes und der Blick
der Rechtgläubigen ruhte, berief er alle Ulömas, ergriff die Fahne des Propheten
und fragte den Scheik ni Islam: "Welche Züchtigung verdienen Empörer, welche
gegen den Padischah sich erheben?" Und der Scheik schlug den Koran auf und
las: "Wenn Ungerechte ihre Brüder angreifen, so bekriege sie." Mahmud aber
ließ die 20,000 Manu mit Kartätschen niederschießen, ließ den Nest in den
Flammen der angezündeten Kasernen hinter dem Hippodrom -- der Platz ist
seitdem wüste -- hinsterben und reinigte den Garten des Reichs von schäd¬
lichem und unnützen Unkraut.

Dem Islam und dem Papstthum scheint zu gleicher Zeit die Verhängnis!-


dern auch Quelle und Norm alles Rechts, aller Gesetze, das Fundament für
alle Maximen der Negierung. ihr voi'MS MriiZ und Staatsgrundgesetz. Theologie
und Jurisprudenz, Staat und Kirche fallen zusammen, aber nicht in dem Sinne
harmonischer Durchdringung und Ausgleichung, sondern wir haben in der Türkei
ein Beispiel unbegrenzter Herrschaft der Kirche über den Staat, völliger Knebe¬
lung des Staates durch die Kirche. Jedes neue Staatsgesetz bedarf des Fetwa,
d. h. des billigenden Gutachtens von Seiten des Scheit ni Islam, daß es sich
im Einklang befinde mit den Lehren des Koran. Und wollte das geistliche
Oberhaupt über diesen Punkt hinwegsehen, so würde der Stand der Richter als
zugleich der Geistlichen sich erheben zu einem Veto, das in dem einfachen Ge¬
müth des gläubigen Moslem lautes Echo fände.

Es war ein kläglicher Nothbehelf, zu welchem die Reformpartei griff bei
allen den Hals, welche das alte Türkenthum in die Bahnen des civilisirten
Europa hineinziehen sollten, daß sie die mangelhaften Zustände der Gegen¬
wart und die ihnen zu Grunde liegenden Mißbräuche auf Mißverständnisse des
Koran zurückführte und die bessere Auslegung desselben als Norm politischer
Neugestaltung hinstellte. Aber es war der einzig mögliche Weg. Die Armuth
und Unzulänglichkeit des Koran als eine Rechts- und Gesetzcsquelle war schon
bald nach seinem Entstehen gefühlt worden. Man berief sich indeß auf münd¬
liche Aussprüche Mvhcuneds, dann auf Beschlüsse des ersten Kalifen, endlich auf
die Verordnungen der ersten Jnuuns, nach deren Analogie ziemlich willkürlich
Verfahren werden konnte, wofern sich nur geschmeidige U!ümas, ein einverstan¬
dener Scheik ni Islam fand. Man brauchte jetzt nur rückwärts auf demselben
Wege die ganze Tradition über Bord zu werfen, die Herstellung des alten
Korantextes zu erwirken, aber man begreift, daß das heißt, die Axt an die
Wurzel des Muhamedanismus legen, wie es den Katholicismus vernichten
würde, nähme man ihm die Tradition. Und auch so ist das Experiment immer
von der Zufälligkeit williger Organe abhängig.

Eine Persönlichkeit wie Mahmud der Zweit/schuf sie sich, als er die Ja-
nitscharen vernichten wollte, welche den früheren Sultanen als eine Schaar von
tapferen Glaubenskämpfern galten, auf deuen der Segen Gottes und der Blick
der Rechtgläubigen ruhte, berief er alle Ulömas, ergriff die Fahne des Propheten
und fragte den Scheik ni Islam: „Welche Züchtigung verdienen Empörer, welche
gegen den Padischah sich erheben?" Und der Scheik schlug den Koran auf und
las: „Wenn Ungerechte ihre Brüder angreifen, so bekriege sie." Mahmud aber
ließ die 20,000 Manu mit Kartätschen niederschießen, ließ den Nest in den
Flammen der angezündeten Kasernen hinter dem Hippodrom — der Platz ist
seitdem wüste — hinsterben und reinigte den Garten des Reichs von schäd¬
lichem und unnützen Unkraut.

Dem Islam und dem Papstthum scheint zu gleicher Zeit die Verhängnis!-


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[0312] dern auch Quelle und Norm alles Rechts, aller Gesetze, das Fundament für alle Maximen der Negierung. ihr voi'MS MriiZ und Staatsgrundgesetz. Theologie und Jurisprudenz, Staat und Kirche fallen zusammen, aber nicht in dem Sinne harmonischer Durchdringung und Ausgleichung, sondern wir haben in der Türkei ein Beispiel unbegrenzter Herrschaft der Kirche über den Staat, völliger Knebe¬ lung des Staates durch die Kirche. Jedes neue Staatsgesetz bedarf des Fetwa, d. h. des billigenden Gutachtens von Seiten des Scheit ni Islam, daß es sich im Einklang befinde mit den Lehren des Koran. Und wollte das geistliche Oberhaupt über diesen Punkt hinwegsehen, so würde der Stand der Richter als zugleich der Geistlichen sich erheben zu einem Veto, das in dem einfachen Ge¬ müth des gläubigen Moslem lautes Echo fände. Es war ein kläglicher Nothbehelf, zu welchem die Reformpartei griff bei allen den Hals, welche das alte Türkenthum in die Bahnen des civilisirten Europa hineinziehen sollten, daß sie die mangelhaften Zustände der Gegen¬ wart und die ihnen zu Grunde liegenden Mißbräuche auf Mißverständnisse des Koran zurückführte und die bessere Auslegung desselben als Norm politischer Neugestaltung hinstellte. Aber es war der einzig mögliche Weg. Die Armuth und Unzulänglichkeit des Koran als eine Rechts- und Gesetzcsquelle war schon bald nach seinem Entstehen gefühlt worden. Man berief sich indeß auf münd¬ liche Aussprüche Mvhcuneds, dann auf Beschlüsse des ersten Kalifen, endlich auf die Verordnungen der ersten Jnuuns, nach deren Analogie ziemlich willkürlich Verfahren werden konnte, wofern sich nur geschmeidige U!ümas, ein einverstan¬ dener Scheik ni Islam fand. Man brauchte jetzt nur rückwärts auf demselben Wege die ganze Tradition über Bord zu werfen, die Herstellung des alten Korantextes zu erwirken, aber man begreift, daß das heißt, die Axt an die Wurzel des Muhamedanismus legen, wie es den Katholicismus vernichten würde, nähme man ihm die Tradition. Und auch so ist das Experiment immer von der Zufälligkeit williger Organe abhängig. Eine Persönlichkeit wie Mahmud der Zweit/schuf sie sich, als er die Ja- nitscharen vernichten wollte, welche den früheren Sultanen als eine Schaar von tapferen Glaubenskämpfern galten, auf deuen der Segen Gottes und der Blick der Rechtgläubigen ruhte, berief er alle Ulömas, ergriff die Fahne des Propheten und fragte den Scheik ni Islam: „Welche Züchtigung verdienen Empörer, welche gegen den Padischah sich erheben?" Und der Scheik schlug den Koran auf und las: „Wenn Ungerechte ihre Brüder angreifen, so bekriege sie." Mahmud aber ließ die 20,000 Manu mit Kartätschen niederschießen, ließ den Nest in den Flammen der angezündeten Kasernen hinter dem Hippodrom — der Platz ist seitdem wüste — hinsterben und reinigte den Garten des Reichs von schäd¬ lichem und unnützen Unkraut. Dem Islam und dem Papstthum scheint zu gleicher Zeit die Verhängnis!-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/312>, abgerufen am 26.07.2024.