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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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haben in dem praktischen England nicht viel mehr Aussicht auf Erfolg als das
Stimmrecht der Frauen, welches Mill bekanntlich auch verlangt.

Den Radicalen gegenüber steht nun die geschlossene statte Phalanx der
Conservativen, welche offen oder im Stillen jede Reform verwerfen, indeß auch
diese Position ist nicht haltbar. Man mag zugeben, daß ein dringendes Bedürf¬
niß für parlamentarische Reform, wie es offenbar vor 1832 da war, jetzt nicht
besteht, aber die Agitation ist zu bedeutsam geworden, um sie länger zu ignoriren.
Eine krankhafte Aufregung in der öffentlichen Meinung und eine wachsende Ent¬
fremdung der gesellschaftlichen Classen sind schon genügende Gründe für einen
consiitutionellen Wechsel, Die englische Verfassung hat bisher wie die römische
Kirche gesucht, so viel wie möglich sich die Kräfte einzuverleiben, welche sich
sonst wider sie gewandt hätten, und wahrscheinlich liegt in einer größern Be¬
theiligung der arbeitenden Classen am Wahlrecht das Mittel, jene" ungesunden
Geist, der sich jetzt in, den er^ass unious und andern politischen Gesellschaften
breit macht, zu bannen. Das Unterhaus wird durch solchen Wechsel vielleicht
wenig bedeutende Mitglieder gewinnen, aber es wird an Macht und Einfluß
wachsen, wenn die arbeitenden Classen nicht mehr behaupten können, daß sie
dort unvertreten seien und die Herren Bcaieö und Patter würden, wenn sie
darüber nicht mehr zetern könnten, wahrscheinlich in die verdiente Unbedeutend¬
heit zurücktreten. Es ist in der That die durchgehende Ueberzeugung der ein¬
sichtigen Mittclclasse wie der gemäßigten Presse, daß eine verständige Reform
in diesem Sinne nothwendig sei und grade die gegenwärtige Regierung hätte
gute Chancen, eine solche durchzusetzen. Der Grund liegt in den Parteiverhält¬
nissen, die Liberalen wissen, daß sie, um die Unterstützung der Radicalen zu er¬
langen, bei einer neuen Bill weiter gehen müßten als im vorigen Jahr, sie
Würden dann aber ebenso sicher die Majorität der Tones und Adullamitcn gegen
sich haben, der sie 1866 unterlagen, wollte" sie aber ihre Verbindung mit den
Radicalen aufgeben und eine Bill vorlegen, welche die Mittelpartei acceptirte,
so hätten sie Tortes und Radicale gegen sich, sie würden es daher nicht ungern
dem gegenwärtigen Ministerium überlassen, eine Bill durchzubringen, welche ge¬
mäßigten Ansprüchen genügte, zumal es ihnen nicht schwer fallen würde, das
Cabinet in einer andern Frage zu stürzen, sobald es ihnen diesen Dienst gethan.

Indeß eine solche Bill ist auch für die Tones nicht leicht, weil sie in dieser
Frage unter sich uneins sind, Lord Derby, Lord Stanley und namentlich Dis-
raeli sehen sehr wohl ein, baß mit bloßer Negation nichts gethan ist und eine
positive Lösung versucht werden muß, andere Minister dagegen, wie General
Peel und Lord Crcnrborne haben sich früher entschieden gegen jede Reform aus¬
gesprochen und wollen sich jetzt nicht in Widerspruch mit ihrer Vergangenheit
setzen. Dieser Zwiespalt hemmt die Regierung in jedem positiven Vorgehen,
denn die ganze Stärke der Konservativen lag bisher in der Disciplin ihrer


haben in dem praktischen England nicht viel mehr Aussicht auf Erfolg als das
Stimmrecht der Frauen, welches Mill bekanntlich auch verlangt.

Den Radicalen gegenüber steht nun die geschlossene statte Phalanx der
Conservativen, welche offen oder im Stillen jede Reform verwerfen, indeß auch
diese Position ist nicht haltbar. Man mag zugeben, daß ein dringendes Bedürf¬
niß für parlamentarische Reform, wie es offenbar vor 1832 da war, jetzt nicht
besteht, aber die Agitation ist zu bedeutsam geworden, um sie länger zu ignoriren.
Eine krankhafte Aufregung in der öffentlichen Meinung und eine wachsende Ent¬
fremdung der gesellschaftlichen Classen sind schon genügende Gründe für einen
consiitutionellen Wechsel, Die englische Verfassung hat bisher wie die römische
Kirche gesucht, so viel wie möglich sich die Kräfte einzuverleiben, welche sich
sonst wider sie gewandt hätten, und wahrscheinlich liegt in einer größern Be¬
theiligung der arbeitenden Classen am Wahlrecht das Mittel, jene» ungesunden
Geist, der sich jetzt in, den er^ass unious und andern politischen Gesellschaften
breit macht, zu bannen. Das Unterhaus wird durch solchen Wechsel vielleicht
wenig bedeutende Mitglieder gewinnen, aber es wird an Macht und Einfluß
wachsen, wenn die arbeitenden Classen nicht mehr behaupten können, daß sie
dort unvertreten seien und die Herren Bcaieö und Patter würden, wenn sie
darüber nicht mehr zetern könnten, wahrscheinlich in die verdiente Unbedeutend¬
heit zurücktreten. Es ist in der That die durchgehende Ueberzeugung der ein¬
sichtigen Mittclclasse wie der gemäßigten Presse, daß eine verständige Reform
in diesem Sinne nothwendig sei und grade die gegenwärtige Regierung hätte
gute Chancen, eine solche durchzusetzen. Der Grund liegt in den Parteiverhält¬
nissen, die Liberalen wissen, daß sie, um die Unterstützung der Radicalen zu er¬
langen, bei einer neuen Bill weiter gehen müßten als im vorigen Jahr, sie
Würden dann aber ebenso sicher die Majorität der Tones und Adullamitcn gegen
sich haben, der sie 1866 unterlagen, wollte» sie aber ihre Verbindung mit den
Radicalen aufgeben und eine Bill vorlegen, welche die Mittelpartei acceptirte,
so hätten sie Tortes und Radicale gegen sich, sie würden es daher nicht ungern
dem gegenwärtigen Ministerium überlassen, eine Bill durchzubringen, welche ge¬
mäßigten Ansprüchen genügte, zumal es ihnen nicht schwer fallen würde, das
Cabinet in einer andern Frage zu stürzen, sobald es ihnen diesen Dienst gethan.

Indeß eine solche Bill ist auch für die Tones nicht leicht, weil sie in dieser
Frage unter sich uneins sind, Lord Derby, Lord Stanley und namentlich Dis-
raeli sehen sehr wohl ein, baß mit bloßer Negation nichts gethan ist und eine
positive Lösung versucht werden muß, andere Minister dagegen, wie General
Peel und Lord Crcnrborne haben sich früher entschieden gegen jede Reform aus¬
gesprochen und wollen sich jetzt nicht in Widerspruch mit ihrer Vergangenheit
setzen. Dieser Zwiespalt hemmt die Regierung in jedem positiven Vorgehen,
denn die ganze Stärke der Konservativen lag bisher in der Disciplin ihrer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/300>, abgerufen am 04.07.2024.