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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Leben bei dem preußischen Volke von 1866 aussah, braucht von uns nicht
näher untersucht zu werden: daß ein Volk Jahre hindurch keinen anderen Ge¬
danken als den an den Ausbau seiner Verfassung hegt, daß es durch eine
Frage, wie die nach der Durchführung oder Sistirung der Militärorganisation,
um alle Ruhe und alles Behagen gebracht werden konnte, ist unseres Bedünkens
ein so redender Beleg für den blühenden Zustand seiner materiellen Interessen
und für das hohe Maß seiner Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten,
daß alle weiteren Anführungen zum Nachweis derselben überflüssig erscheinen.
Ist man in der Lage, durch seine Theilnahme an der Erörterung von Fragen,
die vorzugsweise theoretischer und abstract politischer Natur sind, vollständig
absorbirt zu werden, so muß man mit der Sorge um die primären Existenz¬
bedingungen sicher längst fertig geworden sein. -- Zu dem Verständniß und der
Theilnahme für (oder wider) eine Angelegenheit, wie es die Militärreorganisation
war, hätten es die Preußen von 1806 überhaupt gar nicht gebracht. Man hat
die Rolle, welche diese Angelegenheit in dem Leben der preußischen Nation
spielte, häusig mit dem Versassungsstreit vor Ausbruch der großen englischen Re¬
volution verglichen: zieht man aber in Betracht, daß es sich damals um ein
Volksrecht der faßbarsten, für jedermann leicht verständlichen Natur (das Steuer"
bcwilligungsrecht). in Preußen um eine Angelegenheit handelte, die zunächst nur
das gegenseitige Verhältniß der Factoren der Regierung berührte, so wird man
einräumen müssen, daß der preußische Verfassungskampf unserer Zelt ungleich
verfeincrtere Ansprüche an das Staatelcben zur Voraussetzung hat, als der bri¬
tische parlamentarische Conflict von 1642. Daß das Bedürfniß nach einem
größeren Maß der Betheiligung an den öffentlichen Angelegenheiten der Grund
zu der oppositionellen Haltung des preußischen Volks war, bot im Grunde die
beste Bürgschaft dafür, daß man dasselbe auf dem Platze finden werde, wo es
sich um die Existenz des Staats handelt.

Wie grundverschieden ist endlich der straffe rührige Geist, der Negierende
und Negierte vor Ausbruch des letzten Krieges beseelte, von dem faulen, gehalt¬
loser Optimismus, der die Signatur der Zeit vor der Schlacht bei Jena aus¬
machte! Während es von der einen Seite nur Mangel an Selbstvertrauen
war, der den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich und seinem
kriegerischen Beherrscher immer wieder hinausschob, verblendete man sich anderer¬
seits absichtlich gegen die Gefahr, in welcher Preußen bereits seit Jahren steckte.
In dem Gefühl der Verwahrlosung der heiligsten Interessen des Staats scheute
man sich, eine klare Einsicht in die Lage des Landes zu gewinnen und das
Verhältniß des Volkes zur Regierung einer ernsten, nüchternen Prüfung zu
unterziehen. Die Männer des alten Systems sahen in der Selbsttäuschung das
beste Mittel, über die Schwierigkeiten der Lage hinwegzukommen und suchten
sich selbst und die Massen durch prahlerische Hinweise auf die große Vergangen-


Leben bei dem preußischen Volke von 1866 aussah, braucht von uns nicht
näher untersucht zu werden: daß ein Volk Jahre hindurch keinen anderen Ge¬
danken als den an den Ausbau seiner Verfassung hegt, daß es durch eine
Frage, wie die nach der Durchführung oder Sistirung der Militärorganisation,
um alle Ruhe und alles Behagen gebracht werden konnte, ist unseres Bedünkens
ein so redender Beleg für den blühenden Zustand seiner materiellen Interessen
und für das hohe Maß seiner Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten,
daß alle weiteren Anführungen zum Nachweis derselben überflüssig erscheinen.
Ist man in der Lage, durch seine Theilnahme an der Erörterung von Fragen,
die vorzugsweise theoretischer und abstract politischer Natur sind, vollständig
absorbirt zu werden, so muß man mit der Sorge um die primären Existenz¬
bedingungen sicher längst fertig geworden sein. — Zu dem Verständniß und der
Theilnahme für (oder wider) eine Angelegenheit, wie es die Militärreorganisation
war, hätten es die Preußen von 1806 überhaupt gar nicht gebracht. Man hat
die Rolle, welche diese Angelegenheit in dem Leben der preußischen Nation
spielte, häusig mit dem Versassungsstreit vor Ausbruch der großen englischen Re¬
volution verglichen: zieht man aber in Betracht, daß es sich damals um ein
Volksrecht der faßbarsten, für jedermann leicht verständlichen Natur (das Steuer«
bcwilligungsrecht). in Preußen um eine Angelegenheit handelte, die zunächst nur
das gegenseitige Verhältniß der Factoren der Regierung berührte, so wird man
einräumen müssen, daß der preußische Verfassungskampf unserer Zelt ungleich
verfeincrtere Ansprüche an das Staatelcben zur Voraussetzung hat, als der bri¬
tische parlamentarische Conflict von 1642. Daß das Bedürfniß nach einem
größeren Maß der Betheiligung an den öffentlichen Angelegenheiten der Grund
zu der oppositionellen Haltung des preußischen Volks war, bot im Grunde die
beste Bürgschaft dafür, daß man dasselbe auf dem Platze finden werde, wo es
sich um die Existenz des Staats handelt.

Wie grundverschieden ist endlich der straffe rührige Geist, der Negierende
und Negierte vor Ausbruch des letzten Krieges beseelte, von dem faulen, gehalt¬
loser Optimismus, der die Signatur der Zeit vor der Schlacht bei Jena aus¬
machte! Während es von der einen Seite nur Mangel an Selbstvertrauen
war, der den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich und seinem
kriegerischen Beherrscher immer wieder hinausschob, verblendete man sich anderer¬
seits absichtlich gegen die Gefahr, in welcher Preußen bereits seit Jahren steckte.
In dem Gefühl der Verwahrlosung der heiligsten Interessen des Staats scheute
man sich, eine klare Einsicht in die Lage des Landes zu gewinnen und das
Verhältniß des Volkes zur Regierung einer ernsten, nüchternen Prüfung zu
unterziehen. Die Männer des alten Systems sahen in der Selbsttäuschung das
beste Mittel, über die Schwierigkeiten der Lage hinwegzukommen und suchten
sich selbst und die Massen durch prahlerische Hinweise auf die große Vergangen-


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[0028] Leben bei dem preußischen Volke von 1866 aussah, braucht von uns nicht näher untersucht zu werden: daß ein Volk Jahre hindurch keinen anderen Ge¬ danken als den an den Ausbau seiner Verfassung hegt, daß es durch eine Frage, wie die nach der Durchführung oder Sistirung der Militärorganisation, um alle Ruhe und alles Behagen gebracht werden konnte, ist unseres Bedünkens ein so redender Beleg für den blühenden Zustand seiner materiellen Interessen und für das hohe Maß seiner Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, daß alle weiteren Anführungen zum Nachweis derselben überflüssig erscheinen. Ist man in der Lage, durch seine Theilnahme an der Erörterung von Fragen, die vorzugsweise theoretischer und abstract politischer Natur sind, vollständig absorbirt zu werden, so muß man mit der Sorge um die primären Existenz¬ bedingungen sicher längst fertig geworden sein. — Zu dem Verständniß und der Theilnahme für (oder wider) eine Angelegenheit, wie es die Militärreorganisation war, hätten es die Preußen von 1806 überhaupt gar nicht gebracht. Man hat die Rolle, welche diese Angelegenheit in dem Leben der preußischen Nation spielte, häusig mit dem Versassungsstreit vor Ausbruch der großen englischen Re¬ volution verglichen: zieht man aber in Betracht, daß es sich damals um ein Volksrecht der faßbarsten, für jedermann leicht verständlichen Natur (das Steuer« bcwilligungsrecht). in Preußen um eine Angelegenheit handelte, die zunächst nur das gegenseitige Verhältniß der Factoren der Regierung berührte, so wird man einräumen müssen, daß der preußische Verfassungskampf unserer Zelt ungleich verfeincrtere Ansprüche an das Staatelcben zur Voraussetzung hat, als der bri¬ tische parlamentarische Conflict von 1642. Daß das Bedürfniß nach einem größeren Maß der Betheiligung an den öffentlichen Angelegenheiten der Grund zu der oppositionellen Haltung des preußischen Volks war, bot im Grunde die beste Bürgschaft dafür, daß man dasselbe auf dem Platze finden werde, wo es sich um die Existenz des Staats handelt. Wie grundverschieden ist endlich der straffe rührige Geist, der Negierende und Negierte vor Ausbruch des letzten Krieges beseelte, von dem faulen, gehalt¬ loser Optimismus, der die Signatur der Zeit vor der Schlacht bei Jena aus¬ machte! Während es von der einen Seite nur Mangel an Selbstvertrauen war, der den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich und seinem kriegerischen Beherrscher immer wieder hinausschob, verblendete man sich anderer¬ seits absichtlich gegen die Gefahr, in welcher Preußen bereits seit Jahren steckte. In dem Gefühl der Verwahrlosung der heiligsten Interessen des Staats scheute man sich, eine klare Einsicht in die Lage des Landes zu gewinnen und das Verhältniß des Volkes zur Regierung einer ernsten, nüchternen Prüfung zu unterziehen. Die Männer des alten Systems sahen in der Selbsttäuschung das beste Mittel, über die Schwierigkeiten der Lage hinwegzukommen und suchten sich selbst und die Massen durch prahlerische Hinweise auf die große Vergangen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/28>, abgerufen am 26.08.2024.