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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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und Namen ohne jeden Werth, eine phrasenreiche, aber inhaltsleere und darum
prosaische Lyrik, und eine dem Gehalt nach unendlich dürre, in Bildern aber
überschwengliche, darum lyrisch zu nennende Annalistik, von der folgende Stelle,
aus dem unter den Türken hochangesehenen Neichschronisten Ist instar omnium
einen Begriff geben mag. Nachdem derselbe ein paar am Bosporus sich gegen¬
überliegende vom Sultan Muhamed dem Eroberer erbaute Moscheen auf drei
Folioseiten in überschwenglichster Weise gepriesen hat, fährt er fort:

"Der Papagei der beschreibenden Feder muß bei dem Lobpreise dieser
Moschee statt in den großen Spiegel ausführlicher Beschreibung in den ver¬
kleinernden Handspiegel kurzer Worte hineinsehen, und sagt daher zum Lobpreise
derselben schließlich nur ganz kurz, daß diese hvchcrbauten Moscheen als zwei
große Käfichte kanonischer Wahrheit einander gegenüber an dem Dom des Him¬
mels aufgehängt sind, und daß vor den wohllautenden Sängern und schön¬
singende" Gcbctsansrufern derselben die Nachtigallen auf den Fluren ganz be¬
schämt und stumm zu Boden fallen. Deshalb faßt sich der Papagei der Feder
so kurz."

Einen besseren Begriff von dem literarischen Vermögen des Volkes geben
die Grabschriften, die trotz mancher wunderbaren Bilder und Blumen, welche
man stets mit in den Kauf nehmen muß, oft außerordentlich sinnig und treffend
abgefaßt sind und zum Theil von großer Tiefe des Gemüthes zeugen. So lautet
die Grabschrift des berühmten Seehelden Kildisch Ali Pascha, der nach der Nieder¬
lage bei Lepanto die Ehre der osmanischen Waffen wiederherstellte und an einem
der herrlichsten Punkte des Bosporus hart am Meere bestattet liegt, folgender¬
maßen: "Er hing seinen Säbel im Himmel auf und stieg nach abgespannter
Sehne des Lebens vom Alter gekrümmt, Wie sein hier aufgehängter Bogen, in
den einmännigcn Nachen des Sarges, um unter der Erde, die er bei seinem
Leben fast niemals betreten hatte, nach dem Tode für immer zu ruhn." --

Mit der sich vollziehenden inneren Regeneration der Türkei entsteht zugleich
schon eine neue Literatur. Und es ist charakteristisch und erfreulich, daß sie sich
vorwiegend der Erforschung eigener Zustände, der Geschichte des Landes zu¬
wendet. Gewdet Effendi ist der erste Türke, der eine kritische Geschichte seines
Vaterlandes gewagt hat. Sein Werk, eine Geschichte des OsmancnthumS vom
Frieden von Kaüuvdschi (1747) an. steht im Stil und historischer Kunst auf
dem Niveau moderner Wissenschaft. Es beruht auf sorgfältiger Durchforschung
der Archive, ist sehr freisinnig geschrieben und seine Wirkung auf die Ideen und
Anschauungen des Volkes zu Gunsten einer energischen und consequenten Reform
kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Auf den bedeutsamsten Beleg end¬
lich für den gegenwärtigen Gährungsprvceß in der geistigen Entwicklung der
türkischen Nation, die religiöse Krise, an deren Anfang sie steht, gehen wir
später ein.


Grenzboten I. 1867. 34

und Namen ohne jeden Werth, eine phrasenreiche, aber inhaltsleere und darum
prosaische Lyrik, und eine dem Gehalt nach unendlich dürre, in Bildern aber
überschwengliche, darum lyrisch zu nennende Annalistik, von der folgende Stelle,
aus dem unter den Türken hochangesehenen Neichschronisten Ist instar omnium
einen Begriff geben mag. Nachdem derselbe ein paar am Bosporus sich gegen¬
überliegende vom Sultan Muhamed dem Eroberer erbaute Moscheen auf drei
Folioseiten in überschwenglichster Weise gepriesen hat, fährt er fort:

„Der Papagei der beschreibenden Feder muß bei dem Lobpreise dieser
Moschee statt in den großen Spiegel ausführlicher Beschreibung in den ver¬
kleinernden Handspiegel kurzer Worte hineinsehen, und sagt daher zum Lobpreise
derselben schließlich nur ganz kurz, daß diese hvchcrbauten Moscheen als zwei
große Käfichte kanonischer Wahrheit einander gegenüber an dem Dom des Him¬
mels aufgehängt sind, und daß vor den wohllautenden Sängern und schön¬
singende» Gcbctsansrufern derselben die Nachtigallen auf den Fluren ganz be¬
schämt und stumm zu Boden fallen. Deshalb faßt sich der Papagei der Feder
so kurz."

Einen besseren Begriff von dem literarischen Vermögen des Volkes geben
die Grabschriften, die trotz mancher wunderbaren Bilder und Blumen, welche
man stets mit in den Kauf nehmen muß, oft außerordentlich sinnig und treffend
abgefaßt sind und zum Theil von großer Tiefe des Gemüthes zeugen. So lautet
die Grabschrift des berühmten Seehelden Kildisch Ali Pascha, der nach der Nieder¬
lage bei Lepanto die Ehre der osmanischen Waffen wiederherstellte und an einem
der herrlichsten Punkte des Bosporus hart am Meere bestattet liegt, folgender¬
maßen: „Er hing seinen Säbel im Himmel auf und stieg nach abgespannter
Sehne des Lebens vom Alter gekrümmt, Wie sein hier aufgehängter Bogen, in
den einmännigcn Nachen des Sarges, um unter der Erde, die er bei seinem
Leben fast niemals betreten hatte, nach dem Tode für immer zu ruhn." —

Mit der sich vollziehenden inneren Regeneration der Türkei entsteht zugleich
schon eine neue Literatur. Und es ist charakteristisch und erfreulich, daß sie sich
vorwiegend der Erforschung eigener Zustände, der Geschichte des Landes zu¬
wendet. Gewdet Effendi ist der erste Türke, der eine kritische Geschichte seines
Vaterlandes gewagt hat. Sein Werk, eine Geschichte des OsmancnthumS vom
Frieden von Kaüuvdschi (1747) an. steht im Stil und historischer Kunst auf
dem Niveau moderner Wissenschaft. Es beruht auf sorgfältiger Durchforschung
der Archive, ist sehr freisinnig geschrieben und seine Wirkung auf die Ideen und
Anschauungen des Volkes zu Gunsten einer energischen und consequenten Reform
kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Auf den bedeutsamsten Beleg end¬
lich für den gegenwärtigen Gährungsprvceß in der geistigen Entwicklung der
türkischen Nation, die religiöse Krise, an deren Anfang sie steht, gehen wir
später ein.


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[0275] und Namen ohne jeden Werth, eine phrasenreiche, aber inhaltsleere und darum prosaische Lyrik, und eine dem Gehalt nach unendlich dürre, in Bildern aber überschwengliche, darum lyrisch zu nennende Annalistik, von der folgende Stelle, aus dem unter den Türken hochangesehenen Neichschronisten Ist instar omnium einen Begriff geben mag. Nachdem derselbe ein paar am Bosporus sich gegen¬ überliegende vom Sultan Muhamed dem Eroberer erbaute Moscheen auf drei Folioseiten in überschwenglichster Weise gepriesen hat, fährt er fort: „Der Papagei der beschreibenden Feder muß bei dem Lobpreise dieser Moschee statt in den großen Spiegel ausführlicher Beschreibung in den ver¬ kleinernden Handspiegel kurzer Worte hineinsehen, und sagt daher zum Lobpreise derselben schließlich nur ganz kurz, daß diese hvchcrbauten Moscheen als zwei große Käfichte kanonischer Wahrheit einander gegenüber an dem Dom des Him¬ mels aufgehängt sind, und daß vor den wohllautenden Sängern und schön¬ singende» Gcbctsansrufern derselben die Nachtigallen auf den Fluren ganz be¬ schämt und stumm zu Boden fallen. Deshalb faßt sich der Papagei der Feder so kurz." Einen besseren Begriff von dem literarischen Vermögen des Volkes geben die Grabschriften, die trotz mancher wunderbaren Bilder und Blumen, welche man stets mit in den Kauf nehmen muß, oft außerordentlich sinnig und treffend abgefaßt sind und zum Theil von großer Tiefe des Gemüthes zeugen. So lautet die Grabschrift des berühmten Seehelden Kildisch Ali Pascha, der nach der Nieder¬ lage bei Lepanto die Ehre der osmanischen Waffen wiederherstellte und an einem der herrlichsten Punkte des Bosporus hart am Meere bestattet liegt, folgender¬ maßen: „Er hing seinen Säbel im Himmel auf und stieg nach abgespannter Sehne des Lebens vom Alter gekrümmt, Wie sein hier aufgehängter Bogen, in den einmännigcn Nachen des Sarges, um unter der Erde, die er bei seinem Leben fast niemals betreten hatte, nach dem Tode für immer zu ruhn." — Mit der sich vollziehenden inneren Regeneration der Türkei entsteht zugleich schon eine neue Literatur. Und es ist charakteristisch und erfreulich, daß sie sich vorwiegend der Erforschung eigener Zustände, der Geschichte des Landes zu¬ wendet. Gewdet Effendi ist der erste Türke, der eine kritische Geschichte seines Vaterlandes gewagt hat. Sein Werk, eine Geschichte des OsmancnthumS vom Frieden von Kaüuvdschi (1747) an. steht im Stil und historischer Kunst auf dem Niveau moderner Wissenschaft. Es beruht auf sorgfältiger Durchforschung der Archive, ist sehr freisinnig geschrieben und seine Wirkung auf die Ideen und Anschauungen des Volkes zu Gunsten einer energischen und consequenten Reform kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Auf den bedeutsamsten Beleg end¬ lich für den gegenwärtigen Gährungsprvceß in der geistigen Entwicklung der türkischen Nation, die religiöse Krise, an deren Anfang sie steht, gehen wir später ein. Grenzboten I. 1867. 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/275>, abgerufen am 22.12.2024.