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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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ist gebildeter als diejenige von vielen unserer mitten in dem Kreise der euro¬
päischen Bildung stehenden Nationen, als die Masse der Griechen, Spanier,
Italiener, zum Theil vielleicht selbst als die der Engländer. Es ist in England
bekanntlich ein nicht unbedeutendes Procent der erwachsenen Bevölkerung, welches
nicht lesen "ut schreiben kann, in der Türkei werden solche Fälle nur vereinzelt
vorkommen. Neben jeder Moschee befindet sich im ganzen türkischen Reich immer
eine sa'nie, d. h, auch in dem ärmlichsten Dorf ist für den Unterricht der Ju¬
gend gesorgt; der jedesmalige Innen") ist auch zugleich immer der Schullehrer;
aller Unterricht ist frei; Lesen, Schreiben, Rechnen und Bekanntschaft mit dem
Koran, das sind die einsamen, aber auch für jeden unerläßlichen Bestandtheile
der Volksbildung. Was sich darüber erhebt, ist ein verhältnißmäßig geringer
Bruchtheil der Bevölkerung; zunächst die in den höheren Schulen, den soge¬
nannten Medressebs gebildeten Theologen und Juristen. Konstantinopel hat gegen¬
wärtig vierzehn solcher Lehranstalten, in den Provinzen haben wenigstens alle
Hauptstädte deren eine oder mehre. Unternchtsgcgcnstände sind hier der Koran
und die Geschichte des Islam, türkische Orthographie und Stilistik, arabische,
türkische und Universal-Geschichte, Geographie, Arithmetik und Geometrie.
Auch hier ist der Unterricht frei, Lehrer sind die höheren Geistlichen, die Ule-mas,
das Local die Moschee selbst. Da liegen die jungen Leute lang ausgestreckt
auf dem Boden in weiten Kreisen um den Sofia gelagert, oft zwölf solcher
Kreise neben einander in derselben Moschee; jeder Schüler hat sein Exemplar
vor sich, sein persisches Schreibzeug zur Hand; die Lehrer hocken mit unterge¬
schlagenen Beinen hinter einem kleinen Lesepult auf ihren Lchrpolstern; man
kann ungestört zuhören, die Professoren fühlen sich höchstens durch die Anwesen¬
heit fremder Gäste geschmeichelt und verdoppeln ihren Lehreifer. Die jungen
Leute wohnen meist i" Convicten, welche mit den reichen Moscheen verbunden
zu sein Pflegen; einige näher bestimmte Curse genügen, dann treten sie in den
Kirchen- oder Justizdicnst ein; denn da der Koran Quelle und Norm alles
Rechtes ist, bedarf es keiner besonderen juristischen Vorbildung, es genügt die
theologische; nnr die Praxis scheidet die Diener der Kirche "ut des Gesetzes,
welche zusammen doch immer nur die eine Classe der Ulemas bilden.

Bor der Reformperiodc, welche von Selim dem Vierten zwar eingeleitet,
indessen recht eigentlich erst von Mahmud dem Zweiten, dem Vater des jetzigen
Sultans, ins Werk gesetzt wurde, kannte man keine anderen Institute; für alle
sonstigen Berufszweige bildete allein das Leben und die Erfahrung. Mahmud
der Zweite erkannte, daß die Regenerirung des Reiches von der Anbahnung
europäischer Bildung ausgehen müsse. Man errichtete zunächst Militärschulen



') So die richtige Betonung; ebenso IIm-üm, /^ki, NeKmvel, Link8een8c.Il, ^j-i;;, Ls,5Ä,r,
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ist gebildeter als diejenige von vielen unserer mitten in dem Kreise der euro¬
päischen Bildung stehenden Nationen, als die Masse der Griechen, Spanier,
Italiener, zum Theil vielleicht selbst als die der Engländer. Es ist in England
bekanntlich ein nicht unbedeutendes Procent der erwachsenen Bevölkerung, welches
nicht lesen »ut schreiben kann, in der Türkei werden solche Fälle nur vereinzelt
vorkommen. Neben jeder Moschee befindet sich im ganzen türkischen Reich immer
eine sa'nie, d. h, auch in dem ärmlichsten Dorf ist für den Unterricht der Ju¬
gend gesorgt; der jedesmalige Innen") ist auch zugleich immer der Schullehrer;
aller Unterricht ist frei; Lesen, Schreiben, Rechnen und Bekanntschaft mit dem
Koran, das sind die einsamen, aber auch für jeden unerläßlichen Bestandtheile
der Volksbildung. Was sich darüber erhebt, ist ein verhältnißmäßig geringer
Bruchtheil der Bevölkerung; zunächst die in den höheren Schulen, den soge¬
nannten Medressebs gebildeten Theologen und Juristen. Konstantinopel hat gegen¬
wärtig vierzehn solcher Lehranstalten, in den Provinzen haben wenigstens alle
Hauptstädte deren eine oder mehre. Unternchtsgcgcnstände sind hier der Koran
und die Geschichte des Islam, türkische Orthographie und Stilistik, arabische,
türkische und Universal-Geschichte, Geographie, Arithmetik und Geometrie.
Auch hier ist der Unterricht frei, Lehrer sind die höheren Geistlichen, die Ule-mas,
das Local die Moschee selbst. Da liegen die jungen Leute lang ausgestreckt
auf dem Boden in weiten Kreisen um den Sofia gelagert, oft zwölf solcher
Kreise neben einander in derselben Moschee; jeder Schüler hat sein Exemplar
vor sich, sein persisches Schreibzeug zur Hand; die Lehrer hocken mit unterge¬
schlagenen Beinen hinter einem kleinen Lesepult auf ihren Lchrpolstern; man
kann ungestört zuhören, die Professoren fühlen sich höchstens durch die Anwesen¬
heit fremder Gäste geschmeichelt und verdoppeln ihren Lehreifer. Die jungen
Leute wohnen meist i» Convicten, welche mit den reichen Moscheen verbunden
zu sein Pflegen; einige näher bestimmte Curse genügen, dann treten sie in den
Kirchen- oder Justizdicnst ein; denn da der Koran Quelle und Norm alles
Rechtes ist, bedarf es keiner besonderen juristischen Vorbildung, es genügt die
theologische; nnr die Praxis scheidet die Diener der Kirche »ut des Gesetzes,
welche zusammen doch immer nur die eine Classe der Ulemas bilden.

Bor der Reformperiodc, welche von Selim dem Vierten zwar eingeleitet,
indessen recht eigentlich erst von Mahmud dem Zweiten, dem Vater des jetzigen
Sultans, ins Werk gesetzt wurde, kannte man keine anderen Institute; für alle
sonstigen Berufszweige bildete allein das Leben und die Erfahrung. Mahmud
der Zweite erkannte, daß die Regenerirung des Reiches von der Anbahnung
europäischer Bildung ausgehen müsse. Man errichtete zunächst Militärschulen



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/272>, abgerufen am 23.12.2024.