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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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wärtigen Fragen abgelenkt. In der richtigen Erkenntniß, daß der Krieg gegen
Oestreich zur Zeit noch in einen Volkskrieg verwandelt werden konnte, daß diese
Möglichkeit aber durch eine längere Fortdauer der inneren Verwickelung täglich
abnehmen müsse, zog Graf Bismarck durch Besetzung Hannovers und Sachsens
einen dicken Strich durch die Rechnungen einer Vergangenheit, deren Bücher
von beiden Seiten zu schlecht geführt worden waren, als daß ein gewohnheits¬
mäßiger Abschluß derselben möglich geblieben wäre.

Vielleicht noch größer war die Verschiedenheit zwischen den inneren Ver¬
hältnissen des preußischen Staats von 1866 und denen von 1806. Unzufrieden¬
heit mit einem bestimmten Regierungssystem und Abwendung von den Staats¬
interessen als solchen, sind zwei Dinge, die trotz mancher äußeren Ähnlichkeit
nichts mit einander gemein haben. Ein einigermaßen gesundes Volk kann ein
großes Maß schlechten Regiments, eine Regierung, die an die Principien ihrer
Handlungsweise glaubt, ein gut Theil Volksunzufriedenheit vertragen: wenn
aber die Beziehungen beider Theile zu einander aufhören, wenn es keinen Punkt
mehr giebt, auf welchem die Interessen zusammentreffen, -- dann tritt die
Gefahr einer Zersetzung des staatlichen Organismus ein. Eine solche war seit
dem Tode Friedrich Wilhelm des Zweiten thatsächlich im Gange. Das alt-
preußische System hatte das Volk dem Staat entfremdet, die Regierung Friedrich
Wilhelm des Dritten kam in den Jahren vor der napoleonischen Invasion über
die Sorge für Beschaffung der Mittel zur Fortführung des Staatsgcschäfts
nicht hinaus, sie hatte das Bewußtsein von der Solidarität ihrer Interessen
mit denen der Nation verloren. Jede gesunde Betheiligung der Staatsbürger
an dem öffentlichen Leben hat ein gewisses Behagen der privaten Existenzen zur
nothwendigen Voraussetzung -- für die materiellen Interessen muß mindestens
nothdürftig gesorgt sein, ehe der Staat die Theilnahme seiner Bürger für die
res Mblieg, in Anspruch nehmen kann. Grade dieses Behagen war den preu¬
ßischen Staatsangehörigen am Wendepunkt des Jahrhunderts abhanden ge¬
kommen. Die wirthschaftlichen Interessen der Nation waren von der damaligen
Regierung so vollständig vernachlässigt worden, daß das Volk kaum mehr wußte,
ob das Wohl und Wehe des Einzelnen mit dem des Staatsganzen etwas zu
schaffen habe; dieses Ganze war den Massen gleichgiltig geworden und weil
man Staat und Negierung identificirte, galt die möglichst wohlfeile Abfindung
mit dem ersteren für die höchste Bürgerweisheit. In directen Gegensatz zu dem
leidenschaftlichen Eifer, der Anspannung aller Mittel und Kräfte, in welchen
Regierung und Volk bei den jüngsten Verfassungskämpfen wetteiferten, um
gewisse Ideen darüber, was dem Staate fromme, durchzusetzen, überboten
beide Theile damals einander in der Entfernung und Entfremdung von der
Staatsidee.

Wie es um die materiellen Interessen und um den Eifer für das staatliche


Grc"jbotm I. 18ti7. 3

wärtigen Fragen abgelenkt. In der richtigen Erkenntniß, daß der Krieg gegen
Oestreich zur Zeit noch in einen Volkskrieg verwandelt werden konnte, daß diese
Möglichkeit aber durch eine längere Fortdauer der inneren Verwickelung täglich
abnehmen müsse, zog Graf Bismarck durch Besetzung Hannovers und Sachsens
einen dicken Strich durch die Rechnungen einer Vergangenheit, deren Bücher
von beiden Seiten zu schlecht geführt worden waren, als daß ein gewohnheits¬
mäßiger Abschluß derselben möglich geblieben wäre.

Vielleicht noch größer war die Verschiedenheit zwischen den inneren Ver¬
hältnissen des preußischen Staats von 1866 und denen von 1806. Unzufrieden¬
heit mit einem bestimmten Regierungssystem und Abwendung von den Staats¬
interessen als solchen, sind zwei Dinge, die trotz mancher äußeren Ähnlichkeit
nichts mit einander gemein haben. Ein einigermaßen gesundes Volk kann ein
großes Maß schlechten Regiments, eine Regierung, die an die Principien ihrer
Handlungsweise glaubt, ein gut Theil Volksunzufriedenheit vertragen: wenn
aber die Beziehungen beider Theile zu einander aufhören, wenn es keinen Punkt
mehr giebt, auf welchem die Interessen zusammentreffen, — dann tritt die
Gefahr einer Zersetzung des staatlichen Organismus ein. Eine solche war seit
dem Tode Friedrich Wilhelm des Zweiten thatsächlich im Gange. Das alt-
preußische System hatte das Volk dem Staat entfremdet, die Regierung Friedrich
Wilhelm des Dritten kam in den Jahren vor der napoleonischen Invasion über
die Sorge für Beschaffung der Mittel zur Fortführung des Staatsgcschäfts
nicht hinaus, sie hatte das Bewußtsein von der Solidarität ihrer Interessen
mit denen der Nation verloren. Jede gesunde Betheiligung der Staatsbürger
an dem öffentlichen Leben hat ein gewisses Behagen der privaten Existenzen zur
nothwendigen Voraussetzung — für die materiellen Interessen muß mindestens
nothdürftig gesorgt sein, ehe der Staat die Theilnahme seiner Bürger für die
res Mblieg, in Anspruch nehmen kann. Grade dieses Behagen war den preu¬
ßischen Staatsangehörigen am Wendepunkt des Jahrhunderts abhanden ge¬
kommen. Die wirthschaftlichen Interessen der Nation waren von der damaligen
Regierung so vollständig vernachlässigt worden, daß das Volk kaum mehr wußte,
ob das Wohl und Wehe des Einzelnen mit dem des Staatsganzen etwas zu
schaffen habe; dieses Ganze war den Massen gleichgiltig geworden und weil
man Staat und Negierung identificirte, galt die möglichst wohlfeile Abfindung
mit dem ersteren für die höchste Bürgerweisheit. In directen Gegensatz zu dem
leidenschaftlichen Eifer, der Anspannung aller Mittel und Kräfte, in welchen
Regierung und Volk bei den jüngsten Verfassungskämpfen wetteiferten, um
gewisse Ideen darüber, was dem Staate fromme, durchzusetzen, überboten
beide Theile damals einander in der Entfernung und Entfremdung von der
Staatsidee.

Wie es um die materiellen Interessen und um den Eifer für das staatliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/27>, abgerufen am 26.08.2024.