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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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untergeordnet werden. Seitdem wogt der in der Presse geführte Parteitampf
leidenschaftlich hin und her: die Moskaner Zeitung, die den Finanzminister, den
Justizminister und den Minister des Innern zu Feinden hat, ist bereits soweit
gegangen, die russischen Conservativen als Polenfreunde und Verräther an der
nationalen Sache zu denunciren und dem Grafen Schuwalow wenigstens in-
direct den Krieg zu erklären. In den ersten Deeembertagen hat dieser einen
Sieg erfochten: sein Todfeind Miljutin, der abgöttisch verehrte Vorkämpfer der
national-demokratischen Sache ist von einem Schlaganfall zu Boden geworfen,
er selbst mit der Leitung der polnischen Angelegenheiten provisorisch betraut
worden.

In einem Staate, dessen Verhältnisse lediglich durch den unberechenbaren
Willen eines Einzelnen bedingt sind, in dem vor den sachlichen rein persönliche
Einflüsse bestimmend wirken, läßt sich keine Cvnjccturalpolitik treiben. Rußlands
innere Politik steht an einem Scheidewege -- ob sie rechts oder links wenden
Wird, ob man es versuchen wird, wie bisher einen Mittelweg zu gehen, hier
im liberalen Sinne zu reformiren, dort zu Gunsten blinder Nationalitätsleiden¬
schaften eine vorhandene Culturentwickelung niederzutreten und den maßlosesten
Terrorismus walten zu lassen -- das weiß niemand zu sagen. Die verhäng-
nißvolle polnische Frage ist es, welche die Zukunft Rußlands bedingt, welche
seit vier Jahren auf alle inneren Fragen entscheidend eingewirkt, das Leben der
Nation gewaltsam in neue Bahnen gedrängt, seine Entwickelung zu höherer Cul¬
tur, wahrer Freiheit und echter Menschlichkeit gehemmt hat. Ueber die Zukunft
Polens ist das letzte Wort aber noch nicht gesprochen: wenn es gesprochen wird, hat
Deutschland auch mitzureden und, Dank den großen Ereignissen des Sommers
1866, wenn das Deutschland unserer Zeit seine Stimme erhebt, kann sie nicht mehr
überhört werden. Das Panier der deutschen Eroberung Polens ist ein anderes
als das russische. Nicht das Schwert und nicht das byzantische Kreuz, auch nicht
der Köder der Ackervertheilung ist es, der unsern Culturpionieren vorausgetragen
wird, die Kraft der höheren Gesittung, der im Dienst eines sittlichen Princips
gethanen Arbeit ist es, was ihnen den Sieg verbürgt. Die Russen wissen das
Wohl und die Furcht davor, die Germanisation werbe die Weichsel überschreiten,
bevor die Russisicirung auch nur bis an die Grenzen des Königsreichs gedrungen,
ist eines ihres Hauptargumente für Beschleunigung der blutigen Arbeit auf
polnischer Erde. Führt eine frühere Krisis in der orientalischen Frage nicht zur
Entscheidung über die künftige Stellung Rußlands in der europäischen Welt,
so wird sich -- wie wir die Dinge ansehen -- dereinst zwischen Weichsel und
Njemen die Frage lösen, ob die Slawen wirklich berufen sind, die Träger der
Cultur der Zukunft zu werden, oder ob es mit der Aufgabe, welche das deutsche
Volk auf Erden zu lösen hat, noch nicht zu Ende ist.




untergeordnet werden. Seitdem wogt der in der Presse geführte Parteitampf
leidenschaftlich hin und her: die Moskaner Zeitung, die den Finanzminister, den
Justizminister und den Minister des Innern zu Feinden hat, ist bereits soweit
gegangen, die russischen Conservativen als Polenfreunde und Verräther an der
nationalen Sache zu denunciren und dem Grafen Schuwalow wenigstens in-
direct den Krieg zu erklären. In den ersten Deeembertagen hat dieser einen
Sieg erfochten: sein Todfeind Miljutin, der abgöttisch verehrte Vorkämpfer der
national-demokratischen Sache ist von einem Schlaganfall zu Boden geworfen,
er selbst mit der Leitung der polnischen Angelegenheiten provisorisch betraut
worden.

In einem Staate, dessen Verhältnisse lediglich durch den unberechenbaren
Willen eines Einzelnen bedingt sind, in dem vor den sachlichen rein persönliche
Einflüsse bestimmend wirken, läßt sich keine Cvnjccturalpolitik treiben. Rußlands
innere Politik steht an einem Scheidewege — ob sie rechts oder links wenden
Wird, ob man es versuchen wird, wie bisher einen Mittelweg zu gehen, hier
im liberalen Sinne zu reformiren, dort zu Gunsten blinder Nationalitätsleiden¬
schaften eine vorhandene Culturentwickelung niederzutreten und den maßlosesten
Terrorismus walten zu lassen — das weiß niemand zu sagen. Die verhäng-
nißvolle polnische Frage ist es, welche die Zukunft Rußlands bedingt, welche
seit vier Jahren auf alle inneren Fragen entscheidend eingewirkt, das Leben der
Nation gewaltsam in neue Bahnen gedrängt, seine Entwickelung zu höherer Cul¬
tur, wahrer Freiheit und echter Menschlichkeit gehemmt hat. Ueber die Zukunft
Polens ist das letzte Wort aber noch nicht gesprochen: wenn es gesprochen wird, hat
Deutschland auch mitzureden und, Dank den großen Ereignissen des Sommers
1866, wenn das Deutschland unserer Zeit seine Stimme erhebt, kann sie nicht mehr
überhört werden. Das Panier der deutschen Eroberung Polens ist ein anderes
als das russische. Nicht das Schwert und nicht das byzantische Kreuz, auch nicht
der Köder der Ackervertheilung ist es, der unsern Culturpionieren vorausgetragen
wird, die Kraft der höheren Gesittung, der im Dienst eines sittlichen Princips
gethanen Arbeit ist es, was ihnen den Sieg verbürgt. Die Russen wissen das
Wohl und die Furcht davor, die Germanisation werbe die Weichsel überschreiten,
bevor die Russisicirung auch nur bis an die Grenzen des Königsreichs gedrungen,
ist eines ihres Hauptargumente für Beschleunigung der blutigen Arbeit auf
polnischer Erde. Führt eine frühere Krisis in der orientalischen Frage nicht zur
Entscheidung über die künftige Stellung Rußlands in der europäischen Welt,
so wird sich — wie wir die Dinge ansehen — dereinst zwischen Weichsel und
Njemen die Frage lösen, ob die Slawen wirklich berufen sind, die Träger der
Cultur der Zukunft zu werden, oder ob es mit der Aufgabe, welche das deutsche
Volk auf Erden zu lösen hat, noch nicht zu Ende ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/25>, abgerufen am 25.08.2024.