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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Wochenbetrachtnng.

Die Wellen unserer Wahlbcwegung heben sich ein wenig höher, gedruckte
Wahlreden flattern in die Häuser der Wähler, Wahlcomites entwickeln sehr er¬
freuliche Thätigkeit und trotzbärtige Lassallianer stören die Wahlversammlungen
durch Geschrei und wüstes Gebahren. -- Aber der Deutsche ist im Jahr 1867
gleichgiltiger geworden gegen Spectakel und anzügliche Inserate in den Tage¬
blättern, und in unserem Volke lebt ein Sinn für Anstand und für Billigkeit,
welche auch dem Gegner gerecht werden möchte. Das schließt die Frage nicht
aus. ob es zeitgemäß war, die sociale Bewegung in die politische hereinzutragen.

Unter den Aufgaben, welche den Mitgliedern des Reichstages gestellt wer¬
den, muß auch der Antrag auf Einführung einer gleichmäßigen Wahlordnung
sein. Die jetzt von den einzelnen Staaten im Verordnuugswege publicirten
sind so verschieden als möglich, zum Theil sehr künstlich ausgedacht. In Preußen
z. B. vertheilen die Parteien gedruckte Stimmzettel und die Urnen, in welche
die Zettel geworfen werden, sind zahlreich und bequem auch für die Landbe¬
wohner, in Sachsen muß der Wähler seinen Stimmzettel vom Wahlcommissar
abholen und dabei seine Berechtigung prüfen lassen, und er muß den Zettel
beschrieben zur Wahlurne tragen, natürlich wieder unter Prüfung seiner Be¬
rechtigung. Der Wähler hat also gerade die doppelte Mühe und Versäumnis?.

Es ist noch vergeblich, über die Resultate der Wahl Behauptungen aufzu¬
stellen, unter den Kandidaten sehen wir manchen neuen Namen, Gelehrte, höhere
Beamte, welche durch anderweitige Thätigkeit der Nation bekannt sind; freilich wird
der Reichstag, der nicht ganz 300 Mitglieder zählt, auch manches bewährte politische
Talent entbehren müssen. Aber wahrscheinlich ist doch, daß der Verfassungsent¬
wurf bei mehr als zwei Drittheilen der Gewählten guten Willen und warme
patriotische Unterstützung finden wird; auch unter den Separatisten wird vor¬
aussichtlich ein Theil nicht den Muth haben, eine geschlossene principielle Oppo¬
sition zu bilden. Bon dem Zahlenverhältniß zwischen preußischen Conservativen
und den Liberalen im Reichstage mag zum Theil abhängen, wie weit Rechte
und Befugnisse des Reichstages ausgedehnt werden oder nicht.

Eine andere Frage, noch wenig erhoben, und doch die verhängnihvollste von
allen, wäre die: Ist es denn überhaupt im Interesse nationaler Entwickelung,
den Reichstag so hoch zu stellen, daß er den preußischen Landtag überwächst?
Ist es für Preußen und Deutschland ein Glück, wenn er an Stelle des preu¬
ßischen Landtages Mittelpunkt der gesetzgeberischen Intelligenz und der politischen
Thatkraft unserer Nation wird? Der wäre ein weiser Mann, der schon jetzt de-


Wochenbetrachtnng.

Die Wellen unserer Wahlbcwegung heben sich ein wenig höher, gedruckte
Wahlreden flattern in die Häuser der Wähler, Wahlcomites entwickeln sehr er¬
freuliche Thätigkeit und trotzbärtige Lassallianer stören die Wahlversammlungen
durch Geschrei und wüstes Gebahren. — Aber der Deutsche ist im Jahr 1867
gleichgiltiger geworden gegen Spectakel und anzügliche Inserate in den Tage¬
blättern, und in unserem Volke lebt ein Sinn für Anstand und für Billigkeit,
welche auch dem Gegner gerecht werden möchte. Das schließt die Frage nicht
aus. ob es zeitgemäß war, die sociale Bewegung in die politische hereinzutragen.

Unter den Aufgaben, welche den Mitgliedern des Reichstages gestellt wer¬
den, muß auch der Antrag auf Einführung einer gleichmäßigen Wahlordnung
sein. Die jetzt von den einzelnen Staaten im Verordnuugswege publicirten
sind so verschieden als möglich, zum Theil sehr künstlich ausgedacht. In Preußen
z. B. vertheilen die Parteien gedruckte Stimmzettel und die Urnen, in welche
die Zettel geworfen werden, sind zahlreich und bequem auch für die Landbe¬
wohner, in Sachsen muß der Wähler seinen Stimmzettel vom Wahlcommissar
abholen und dabei seine Berechtigung prüfen lassen, und er muß den Zettel
beschrieben zur Wahlurne tragen, natürlich wieder unter Prüfung seiner Be¬
rechtigung. Der Wähler hat also gerade die doppelte Mühe und Versäumnis?.

Es ist noch vergeblich, über die Resultate der Wahl Behauptungen aufzu¬
stellen, unter den Kandidaten sehen wir manchen neuen Namen, Gelehrte, höhere
Beamte, welche durch anderweitige Thätigkeit der Nation bekannt sind; freilich wird
der Reichstag, der nicht ganz 300 Mitglieder zählt, auch manches bewährte politische
Talent entbehren müssen. Aber wahrscheinlich ist doch, daß der Verfassungsent¬
wurf bei mehr als zwei Drittheilen der Gewählten guten Willen und warme
patriotische Unterstützung finden wird; auch unter den Separatisten wird vor¬
aussichtlich ein Theil nicht den Muth haben, eine geschlossene principielle Oppo¬
sition zu bilden. Bon dem Zahlenverhältniß zwischen preußischen Conservativen
und den Liberalen im Reichstage mag zum Theil abhängen, wie weit Rechte
und Befugnisse des Reichstages ausgedehnt werden oder nicht.

Eine andere Frage, noch wenig erhoben, und doch die verhängnihvollste von
allen, wäre die: Ist es denn überhaupt im Interesse nationaler Entwickelung,
den Reichstag so hoch zu stellen, daß er den preußischen Landtag überwächst?
Ist es für Preußen und Deutschland ein Glück, wenn er an Stelle des preu¬
ßischen Landtages Mittelpunkt der gesetzgeberischen Intelligenz und der politischen
Thatkraft unserer Nation wird? Der wäre ein weiser Mann, der schon jetzt de-


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[0246] Wochenbetrachtnng. Die Wellen unserer Wahlbcwegung heben sich ein wenig höher, gedruckte Wahlreden flattern in die Häuser der Wähler, Wahlcomites entwickeln sehr er¬ freuliche Thätigkeit und trotzbärtige Lassallianer stören die Wahlversammlungen durch Geschrei und wüstes Gebahren. — Aber der Deutsche ist im Jahr 1867 gleichgiltiger geworden gegen Spectakel und anzügliche Inserate in den Tage¬ blättern, und in unserem Volke lebt ein Sinn für Anstand und für Billigkeit, welche auch dem Gegner gerecht werden möchte. Das schließt die Frage nicht aus. ob es zeitgemäß war, die sociale Bewegung in die politische hereinzutragen. Unter den Aufgaben, welche den Mitgliedern des Reichstages gestellt wer¬ den, muß auch der Antrag auf Einführung einer gleichmäßigen Wahlordnung sein. Die jetzt von den einzelnen Staaten im Verordnuugswege publicirten sind so verschieden als möglich, zum Theil sehr künstlich ausgedacht. In Preußen z. B. vertheilen die Parteien gedruckte Stimmzettel und die Urnen, in welche die Zettel geworfen werden, sind zahlreich und bequem auch für die Landbe¬ wohner, in Sachsen muß der Wähler seinen Stimmzettel vom Wahlcommissar abholen und dabei seine Berechtigung prüfen lassen, und er muß den Zettel beschrieben zur Wahlurne tragen, natürlich wieder unter Prüfung seiner Be¬ rechtigung. Der Wähler hat also gerade die doppelte Mühe und Versäumnis?. Es ist noch vergeblich, über die Resultate der Wahl Behauptungen aufzu¬ stellen, unter den Kandidaten sehen wir manchen neuen Namen, Gelehrte, höhere Beamte, welche durch anderweitige Thätigkeit der Nation bekannt sind; freilich wird der Reichstag, der nicht ganz 300 Mitglieder zählt, auch manches bewährte politische Talent entbehren müssen. Aber wahrscheinlich ist doch, daß der Verfassungsent¬ wurf bei mehr als zwei Drittheilen der Gewählten guten Willen und warme patriotische Unterstützung finden wird; auch unter den Separatisten wird vor¬ aussichtlich ein Theil nicht den Muth haben, eine geschlossene principielle Oppo¬ sition zu bilden. Bon dem Zahlenverhältniß zwischen preußischen Conservativen und den Liberalen im Reichstage mag zum Theil abhängen, wie weit Rechte und Befugnisse des Reichstages ausgedehnt werden oder nicht. Eine andere Frage, noch wenig erhoben, und doch die verhängnihvollste von allen, wäre die: Ist es denn überhaupt im Interesse nationaler Entwickelung, den Reichstag so hoch zu stellen, daß er den preußischen Landtag überwächst? Ist es für Preußen und Deutschland ein Glück, wenn er an Stelle des preu¬ ßischen Landtages Mittelpunkt der gesetzgeberischen Intelligenz und der politischen Thatkraft unserer Nation wird? Der wäre ein weiser Mann, der schon jetzt de-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/246>, abgerufen am 22.12.2024.