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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Scene, in welcher der alte Lucreiius seine Tochter um einen flagranten Frevel
der Tarquinier beten büßt, damit das Volt dadurch zur Abschüttelung der
Knechtschaft getrieben werde. Was die Tochter erbittet, fällt auf ihr eigenes
Haupt, eine Ironie des Schicksals, welche lebhaft an die furchtbar doppel¬
sinnigen Worte erinnert, die König Oedipus in seiner Verblendung spricht.

Einzelschönhciten in Bildern der Diction wie in fein psychologischen Strichen
der Charakterzeichnung ließen sich in Menge hervorheben-, ich gehe weder auf
diese noch auf ihre Kehrseite, die einzelnen Mißgriffe nochmals ein. die nament¬
lich von unsern berliner Tagesblättern nach der ersten Aufführung scharf genug
notirt worden sind. Aber einen Haupttadel mag ich auch an dieser Stelle nicht
zurückhalten: er betrifft die Anlehnung an fremde Muster. Wie sehr der Dichter
den Fußtapfen Shakespeares nachgeht, ist jedermann leicht erkennbar; aus der
Wendung des prosaischen Ausdrucks, dem Schnitt der Verse, den Nachformungen
der Metaphern spricht überall die Erinnerung an das Vorbild. Man hat in
den Figuren des wahnsinnigen Brutus den armen Thoas im König Lear, in
Tullia eine Abschwächung der Lady Macbeth, in Taiquinius den König im
Hamlet mit mehr oder minder Berechtigung winde>finde" wollen; sicher ist, daß
die Trauer des Collatinus um den wahnsinnigen Brutus der Klage Ophelicns
um Hamlet, und die Rede des Brutus an Collatinus im vierten Acte den
Bitten der Volumnia im Coriolanus nachgebildet worden. Die Anlage des
Stücks ist wesentlich dieselbe wie die des "Julius Cäsar". Man vergleiche:

Erster Act bei Shakespeare: Volksheere. Zwei Tribunen heißen die trag
dastehenden Bürger nach Hause gehen. Cassius beklagt, daß Brutus, der beste
Führer zur Freiheit, schlafe. Cäsar und seine Gemahlin treten auf; ersterer
schöpft Verdacht gegen Cassius.

Bei Lindner: Volksheere. Lucretius und Collatinus heißen die trag
dastehenden Bürger nach Hause gehen. Collalin klagt, daß Brutus, der beste
Führer zur Freiheit todt (wahnsinnig) sei. Tarquinius und Tullia treten auf,
letztere schöpft Beidacht gegen Brutus.

Dritter Act bei Shakespeare: Cäsar wird erstochen. Große Scene
an seiner Leiche. Volksaufruhr.

Bei Lindner: Lucretia ersticht sich. Große Scene an ihrer Leiche. Volks¬
bewegung.

Vierter Act. Shakespeare: Streit zwischen Brutus und Cassius.

Lindner: Streit zwischen Brutus und Collatinus.

Fünfter Act. Shakespeare: Schlacht bei Philippi. '

Lindner: Schlacht im Walde Arsici.

Aber dies ist nicht das Schlimmste, sondern die kleinen zum Theil wört¬
lichen Entlehnungen, die sich Lindner aus Ponsards (im übrigen sehr verschie¬
dener) I^ueröoe für die Schlußscene des ersten Acts und für den ganzen zweiten


Scene, in welcher der alte Lucreiius seine Tochter um einen flagranten Frevel
der Tarquinier beten büßt, damit das Volt dadurch zur Abschüttelung der
Knechtschaft getrieben werde. Was die Tochter erbittet, fällt auf ihr eigenes
Haupt, eine Ironie des Schicksals, welche lebhaft an die furchtbar doppel¬
sinnigen Worte erinnert, die König Oedipus in seiner Verblendung spricht.

Einzelschönhciten in Bildern der Diction wie in fein psychologischen Strichen
der Charakterzeichnung ließen sich in Menge hervorheben-, ich gehe weder auf
diese noch auf ihre Kehrseite, die einzelnen Mißgriffe nochmals ein. die nament¬
lich von unsern berliner Tagesblättern nach der ersten Aufführung scharf genug
notirt worden sind. Aber einen Haupttadel mag ich auch an dieser Stelle nicht
zurückhalten: er betrifft die Anlehnung an fremde Muster. Wie sehr der Dichter
den Fußtapfen Shakespeares nachgeht, ist jedermann leicht erkennbar; aus der
Wendung des prosaischen Ausdrucks, dem Schnitt der Verse, den Nachformungen
der Metaphern spricht überall die Erinnerung an das Vorbild. Man hat in
den Figuren des wahnsinnigen Brutus den armen Thoas im König Lear, in
Tullia eine Abschwächung der Lady Macbeth, in Taiquinius den König im
Hamlet mit mehr oder minder Berechtigung winde>finde» wollen; sicher ist, daß
die Trauer des Collatinus um den wahnsinnigen Brutus der Klage Ophelicns
um Hamlet, und die Rede des Brutus an Collatinus im vierten Acte den
Bitten der Volumnia im Coriolanus nachgebildet worden. Die Anlage des
Stücks ist wesentlich dieselbe wie die des „Julius Cäsar". Man vergleiche:

Erster Act bei Shakespeare: Volksheere. Zwei Tribunen heißen die trag
dastehenden Bürger nach Hause gehen. Cassius beklagt, daß Brutus, der beste
Führer zur Freiheit, schlafe. Cäsar und seine Gemahlin treten auf; ersterer
schöpft Verdacht gegen Cassius.

Bei Lindner: Volksheere. Lucretius und Collatinus heißen die trag
dastehenden Bürger nach Hause gehen. Collalin klagt, daß Brutus, der beste
Führer zur Freiheit todt (wahnsinnig) sei. Tarquinius und Tullia treten auf,
letztere schöpft Beidacht gegen Brutus.

Dritter Act bei Shakespeare: Cäsar wird erstochen. Große Scene
an seiner Leiche. Volksaufruhr.

Bei Lindner: Lucretia ersticht sich. Große Scene an ihrer Leiche. Volks¬
bewegung.

Vierter Act. Shakespeare: Streit zwischen Brutus und Cassius.

Lindner: Streit zwischen Brutus und Collatinus.

Fünfter Act. Shakespeare: Schlacht bei Philippi. '

Lindner: Schlacht im Walde Arsici.

Aber dies ist nicht das Schlimmste, sondern die kleinen zum Theil wört¬
lichen Entlehnungen, die sich Lindner aus Ponsards (im übrigen sehr verschie¬
dener) I^ueröoe für die Schlußscene des ersten Acts und für den ganzen zweiten


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[0244] Scene, in welcher der alte Lucreiius seine Tochter um einen flagranten Frevel der Tarquinier beten büßt, damit das Volt dadurch zur Abschüttelung der Knechtschaft getrieben werde. Was die Tochter erbittet, fällt auf ihr eigenes Haupt, eine Ironie des Schicksals, welche lebhaft an die furchtbar doppel¬ sinnigen Worte erinnert, die König Oedipus in seiner Verblendung spricht. Einzelschönhciten in Bildern der Diction wie in fein psychologischen Strichen der Charakterzeichnung ließen sich in Menge hervorheben-, ich gehe weder auf diese noch auf ihre Kehrseite, die einzelnen Mißgriffe nochmals ein. die nament¬ lich von unsern berliner Tagesblättern nach der ersten Aufführung scharf genug notirt worden sind. Aber einen Haupttadel mag ich auch an dieser Stelle nicht zurückhalten: er betrifft die Anlehnung an fremde Muster. Wie sehr der Dichter den Fußtapfen Shakespeares nachgeht, ist jedermann leicht erkennbar; aus der Wendung des prosaischen Ausdrucks, dem Schnitt der Verse, den Nachformungen der Metaphern spricht überall die Erinnerung an das Vorbild. Man hat in den Figuren des wahnsinnigen Brutus den armen Thoas im König Lear, in Tullia eine Abschwächung der Lady Macbeth, in Taiquinius den König im Hamlet mit mehr oder minder Berechtigung winde>finde» wollen; sicher ist, daß die Trauer des Collatinus um den wahnsinnigen Brutus der Klage Ophelicns um Hamlet, und die Rede des Brutus an Collatinus im vierten Acte den Bitten der Volumnia im Coriolanus nachgebildet worden. Die Anlage des Stücks ist wesentlich dieselbe wie die des „Julius Cäsar". Man vergleiche: Erster Act bei Shakespeare: Volksheere. Zwei Tribunen heißen die trag dastehenden Bürger nach Hause gehen. Cassius beklagt, daß Brutus, der beste Führer zur Freiheit, schlafe. Cäsar und seine Gemahlin treten auf; ersterer schöpft Verdacht gegen Cassius. Bei Lindner: Volksheere. Lucretius und Collatinus heißen die trag dastehenden Bürger nach Hause gehen. Collalin klagt, daß Brutus, der beste Führer zur Freiheit todt (wahnsinnig) sei. Tarquinius und Tullia treten auf, letztere schöpft Beidacht gegen Brutus. Dritter Act bei Shakespeare: Cäsar wird erstochen. Große Scene an seiner Leiche. Volksaufruhr. Bei Lindner: Lucretia ersticht sich. Große Scene an ihrer Leiche. Volks¬ bewegung. Vierter Act. Shakespeare: Streit zwischen Brutus und Cassius. Lindner: Streit zwischen Brutus und Collatinus. Fünfter Act. Shakespeare: Schlacht bei Philippi. ' Lindner: Schlacht im Walde Arsici. Aber dies ist nicht das Schlimmste, sondern die kleinen zum Theil wört¬ lichen Entlehnungen, die sich Lindner aus Ponsards (im übrigen sehr verschie¬ dener) I^ueröoe für die Schlußscene des ersten Acts und für den ganzen zweiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/244>, abgerufen am 22.12.2024.