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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Desto trauriger sah und sieht es mit den Finanzen aus. Trotz einer neuen
Anleihe zur Deckung der fälligen Zinszahlung der auswärtigen Schuld und der
Emission Von 9 Millionen neuer Schatzschuldscheine, ist das Deficit für 1866
von 21 auf 36 Millionen gestiegen und die Noth so groß, daß man zu Er¬
sparnissen auf allen Gebieten seine Zuflucht nehmen mußte, um nur nothdürftig
durchzukommen. Das Budget der Flotte geht bedeutenden Reductionen ent¬
gegen, die bereits sehr schlecht bezahlten Administrativbeamten sollen künftig noch
schlechter bezahlt werden, die Kosten für die Verpflegung der Armee sind auf
ein so geringes Maß herabgedrückt worden, daß kaum ein halber Silber-
groschen für den täglichen Unterhalt des Soldaten übrig bleibt, und die Haupt¬
quelle der indirecten Einnahmen des Staats, die Branntweinaccise ist so ma߬
los gesteigert, daß den Producenten eigentlich nur die traurige Alternative
gelassen ist. Betrüger oder Bankerotteure zu werden. Nur die Ausgaben für
den Hof und für die "Missionare" Büreaukratie in den früher polnischen Ländern
sind die alten geblieben und die Unkosten, welche die Vermählung des Thron¬
folgers Verschlungen hat, werden nach Millionen berechnet. -- In directem
Gegensatz zu dem Gang der Ereignisse während des vorigen Herbstes und Win¬
ters haben die Parteikämpfe der letzten Monate zu einer Reihe von Niederlagen
der miljutinschen Partei geführt. Der plötzliche Tod des Grafen Murawjew be¬
freite den Grafen Schuwalow von dem gefährlichsten seiner Rivalen. Jetzt
ging der kühne junge Staatsmann dem Nachfolger Murawjews und Hauptwerk¬
zeug der Nationalitätsfanatiker zu Leibe; der Generalgouvemeur von Wilna,
Kaufmann, mit dem er bereits als Statthalter in Riga zu Gunsten verfolgter
und nach Kurland geflüchteter Polen manchen Strauß ge-kämpft hatte, wurde
von Schuwalow gestürzt und trotz der Verwendung des Kriegsministers und
seiner übrigen Freunde zu einer elfmonatlichen Reise ins Ausland veranlaßt,
zu seinem Nachfolger der eben erst in den Ostseeprovinzen heimisch gewordene
Gras Baranow ernannt, ein Mann, dessen milde edle Gesinnung die beste
Bürgschaft dafür bot, daß es mit dem Terrorismus in den westlichen Gouver¬
nements zu Ende sei.

Die Wirkung dieses kühnen Griffes war so groß, daß er Freunde wie
Gegner für einen Augenblick um alle Fassung brachte. Mit einer Leidenschaft¬
lichkeit, die der Sache der Konservativen nur schaden konnte, schleuderte die
Wesstj (das Organ der konstitutionellen Adclspartei) dem entsetzten wilnaer
Generalgouvemeur ihre Verwünschungen nach, und die kluge, fein berechnete
Haltung der geistigen Schöpferin der Russificirungspolitik in Polen, der Mos¬
kaner Zeitung, wurde im ersten Schrecken so vollständig außer Augen gesetzt,
daß der Leiter dieses Blattes erklärte, wenn die in Litthauen gethane russische
Arbeit nicht verloren gehen solle, müsse ein Staatssecretanat für die westlichen
Gouvernements geschaffen und diesem der neue Generalgouvemeur von Wilna


Desto trauriger sah und sieht es mit den Finanzen aus. Trotz einer neuen
Anleihe zur Deckung der fälligen Zinszahlung der auswärtigen Schuld und der
Emission Von 9 Millionen neuer Schatzschuldscheine, ist das Deficit für 1866
von 21 auf 36 Millionen gestiegen und die Noth so groß, daß man zu Er¬
sparnissen auf allen Gebieten seine Zuflucht nehmen mußte, um nur nothdürftig
durchzukommen. Das Budget der Flotte geht bedeutenden Reductionen ent¬
gegen, die bereits sehr schlecht bezahlten Administrativbeamten sollen künftig noch
schlechter bezahlt werden, die Kosten für die Verpflegung der Armee sind auf
ein so geringes Maß herabgedrückt worden, daß kaum ein halber Silber-
groschen für den täglichen Unterhalt des Soldaten übrig bleibt, und die Haupt¬
quelle der indirecten Einnahmen des Staats, die Branntweinaccise ist so ma߬
los gesteigert, daß den Producenten eigentlich nur die traurige Alternative
gelassen ist. Betrüger oder Bankerotteure zu werden. Nur die Ausgaben für
den Hof und für die „Missionare" Büreaukratie in den früher polnischen Ländern
sind die alten geblieben und die Unkosten, welche die Vermählung des Thron¬
folgers Verschlungen hat, werden nach Millionen berechnet. — In directem
Gegensatz zu dem Gang der Ereignisse während des vorigen Herbstes und Win¬
ters haben die Parteikämpfe der letzten Monate zu einer Reihe von Niederlagen
der miljutinschen Partei geführt. Der plötzliche Tod des Grafen Murawjew be¬
freite den Grafen Schuwalow von dem gefährlichsten seiner Rivalen. Jetzt
ging der kühne junge Staatsmann dem Nachfolger Murawjews und Hauptwerk¬
zeug der Nationalitätsfanatiker zu Leibe; der Generalgouvemeur von Wilna,
Kaufmann, mit dem er bereits als Statthalter in Riga zu Gunsten verfolgter
und nach Kurland geflüchteter Polen manchen Strauß ge-kämpft hatte, wurde
von Schuwalow gestürzt und trotz der Verwendung des Kriegsministers und
seiner übrigen Freunde zu einer elfmonatlichen Reise ins Ausland veranlaßt,
zu seinem Nachfolger der eben erst in den Ostseeprovinzen heimisch gewordene
Gras Baranow ernannt, ein Mann, dessen milde edle Gesinnung die beste
Bürgschaft dafür bot, daß es mit dem Terrorismus in den westlichen Gouver¬
nements zu Ende sei.

Die Wirkung dieses kühnen Griffes war so groß, daß er Freunde wie
Gegner für einen Augenblick um alle Fassung brachte. Mit einer Leidenschaft¬
lichkeit, die der Sache der Konservativen nur schaden konnte, schleuderte die
Wesstj (das Organ der konstitutionellen Adclspartei) dem entsetzten wilnaer
Generalgouvemeur ihre Verwünschungen nach, und die kluge, fein berechnete
Haltung der geistigen Schöpferin der Russificirungspolitik in Polen, der Mos¬
kaner Zeitung, wurde im ersten Schrecken so vollständig außer Augen gesetzt,
daß der Leiter dieses Blattes erklärte, wenn die in Litthauen gethane russische
Arbeit nicht verloren gehen solle, müsse ein Staatssecretanat für die westlichen
Gouvernements geschaffen und diesem der neue Generalgouvemeur von Wilna


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[0024] Desto trauriger sah und sieht es mit den Finanzen aus. Trotz einer neuen Anleihe zur Deckung der fälligen Zinszahlung der auswärtigen Schuld und der Emission Von 9 Millionen neuer Schatzschuldscheine, ist das Deficit für 1866 von 21 auf 36 Millionen gestiegen und die Noth so groß, daß man zu Er¬ sparnissen auf allen Gebieten seine Zuflucht nehmen mußte, um nur nothdürftig durchzukommen. Das Budget der Flotte geht bedeutenden Reductionen ent¬ gegen, die bereits sehr schlecht bezahlten Administrativbeamten sollen künftig noch schlechter bezahlt werden, die Kosten für die Verpflegung der Armee sind auf ein so geringes Maß herabgedrückt worden, daß kaum ein halber Silber- groschen für den täglichen Unterhalt des Soldaten übrig bleibt, und die Haupt¬ quelle der indirecten Einnahmen des Staats, die Branntweinaccise ist so ma߬ los gesteigert, daß den Producenten eigentlich nur die traurige Alternative gelassen ist. Betrüger oder Bankerotteure zu werden. Nur die Ausgaben für den Hof und für die „Missionare" Büreaukratie in den früher polnischen Ländern sind die alten geblieben und die Unkosten, welche die Vermählung des Thron¬ folgers Verschlungen hat, werden nach Millionen berechnet. — In directem Gegensatz zu dem Gang der Ereignisse während des vorigen Herbstes und Win¬ ters haben die Parteikämpfe der letzten Monate zu einer Reihe von Niederlagen der miljutinschen Partei geführt. Der plötzliche Tod des Grafen Murawjew be¬ freite den Grafen Schuwalow von dem gefährlichsten seiner Rivalen. Jetzt ging der kühne junge Staatsmann dem Nachfolger Murawjews und Hauptwerk¬ zeug der Nationalitätsfanatiker zu Leibe; der Generalgouvemeur von Wilna, Kaufmann, mit dem er bereits als Statthalter in Riga zu Gunsten verfolgter und nach Kurland geflüchteter Polen manchen Strauß ge-kämpft hatte, wurde von Schuwalow gestürzt und trotz der Verwendung des Kriegsministers und seiner übrigen Freunde zu einer elfmonatlichen Reise ins Ausland veranlaßt, zu seinem Nachfolger der eben erst in den Ostseeprovinzen heimisch gewordene Gras Baranow ernannt, ein Mann, dessen milde edle Gesinnung die beste Bürgschaft dafür bot, daß es mit dem Terrorismus in den westlichen Gouver¬ nements zu Ende sei. Die Wirkung dieses kühnen Griffes war so groß, daß er Freunde wie Gegner für einen Augenblick um alle Fassung brachte. Mit einer Leidenschaft¬ lichkeit, die der Sache der Konservativen nur schaden konnte, schleuderte die Wesstj (das Organ der konstitutionellen Adclspartei) dem entsetzten wilnaer Generalgouvemeur ihre Verwünschungen nach, und die kluge, fein berechnete Haltung der geistigen Schöpferin der Russificirungspolitik in Polen, der Mos¬ kaner Zeitung, wurde im ersten Schrecken so vollständig außer Augen gesetzt, daß der Leiter dieses Blattes erklärte, wenn die in Litthauen gethane russische Arbeit nicht verloren gehen solle, müsse ein Staatssecretanat für die westlichen Gouvernements geschaffen und diesem der neue Generalgouvemeur von Wilna

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/24>, abgerufen am 25.08.2024.