Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

begabten und energischen Mannes, sondern er hat sich allmälig im Laufe der
Jahrhunderte ausgebildet.

Er beruht, wie die meisten Proceßordnungen gebildeter Nationen alter und
neuer Zeit, z. B. schon der attische und der zur Zeit Jusiinians geltende römische
Civilproceß auf einer Verbindung von schriftlichen und mündlichem Verfahren.
Die Parteien müssen beim ordentlichen Processe, also abgesehn von den vor den
Friedensrichter verwiesenen Streitigkeiten über geringe Objecte, durch Anwälte
vertreten sein, welche durch die von ihnen gewechselten Schriften die mündliche
Verhandlung vor dem erkennenden Gerichte vorbereiten. Es finden nur zwei
Instanzen statt. Nur als außerordentliches Rechtsmittel findet gegen ein Er¬
kenntniß zweiter Instanz die Nichtigkeitsbeschwerde statt, bei der aber nur geprüft
wird, ob bei dem Erkenntniß zweiter Instanz gegen einen Rechtsgrundsatz oder
gegen eine wesentliche Vorschrift des Verfahrens verstoßen ist und welche auch
nur den Erfolg haben kann, daß das Erkenntniß zweiter Instanz aufgehoben
und die Verhandlung der Sache an ein anderes Gericht zweiter Instanz ver¬
wiesen wird.

Reinhardts bereits im Jahre 1827 ausgearbeiteter Entwurf wqrd nun aber
in vielen wichtigen Punkten vom Grafen Dankelmann nicht gebilligt, er mußte
vollständig umgearbeitet werden, wurde jedoch auch in dieser veränderten Gestalt
nicht eingefühlt, weil inzwischen der Graf Dankelmann gestorben war und der
an seiner Stelle mit der Gesetzrevision beauftragte Minister v. Kamptz ein prin¬
cipieller Gegner aller Neuerungen war, die aus Frankreich entlehnt zu sein schienen.

In der Praxis hatten sich indessen die größten Uebelstände infolge des Ver¬
fahrens der Allgemeinen Gerichtsordnung herausgestellt, namentlich klagte man
über eine unerträgliche Verschleppung grade der allereinfachsten Processe. Durch
eine Brochüre des Nechtsanwalts Marchand zu Berlin ward der König Friedrich
Wilhelm der Dritte persönlich aus diesen Uebelstand aufmerksam gemacht; es
gab dies trotz des Widerstrebens des Ministers v. Kamptz Veranlassung zum
Erlaß der Verordnung vom 1. Juni 1833. welche größtentheils wörtlich an"
dem reinhardtschen revidirten Entwürfe entlehnt ist und welche für einfache
Sachen, die sogenannten summarischen Processe, ein abgekürztes Verfahren mit
mündlicher Schlußverhandlung vorschrieb. In der Praxis bewährte sich die"
Verfahren so gut. daß man eS mit einigen Modificationen durch die Verord¬
nung vom 21. Juli 1846 auf alle Processe ohne Ausnahme ausdehnte. Diese
teilweise Annahme des Princips der Mündlichkeit ist gegenwärtig von fast
allen Praktikern gebilligt. Zwar verlangen viele weitere Aenderungen, aber eS
ist uns nicht bekannt, daß irgendein Jurist Rückkehr zur unveränderten Allgemei¬
nen Gerichtsordnung wünschte. Durch die Verordnung vom 2. Januar 1849
wurden die Patrimonialgerichtsbarkeit und der eximirte Gerichtsstand aufgehoben
und die jetzt bestehende Gerichtsverfassung eingeführt.


begabten und energischen Mannes, sondern er hat sich allmälig im Laufe der
Jahrhunderte ausgebildet.

Er beruht, wie die meisten Proceßordnungen gebildeter Nationen alter und
neuer Zeit, z. B. schon der attische und der zur Zeit Jusiinians geltende römische
Civilproceß auf einer Verbindung von schriftlichen und mündlichem Verfahren.
Die Parteien müssen beim ordentlichen Processe, also abgesehn von den vor den
Friedensrichter verwiesenen Streitigkeiten über geringe Objecte, durch Anwälte
vertreten sein, welche durch die von ihnen gewechselten Schriften die mündliche
Verhandlung vor dem erkennenden Gerichte vorbereiten. Es finden nur zwei
Instanzen statt. Nur als außerordentliches Rechtsmittel findet gegen ein Er¬
kenntniß zweiter Instanz die Nichtigkeitsbeschwerde statt, bei der aber nur geprüft
wird, ob bei dem Erkenntniß zweiter Instanz gegen einen Rechtsgrundsatz oder
gegen eine wesentliche Vorschrift des Verfahrens verstoßen ist und welche auch
nur den Erfolg haben kann, daß das Erkenntniß zweiter Instanz aufgehoben
und die Verhandlung der Sache an ein anderes Gericht zweiter Instanz ver¬
wiesen wird.

Reinhardts bereits im Jahre 1827 ausgearbeiteter Entwurf wqrd nun aber
in vielen wichtigen Punkten vom Grafen Dankelmann nicht gebilligt, er mußte
vollständig umgearbeitet werden, wurde jedoch auch in dieser veränderten Gestalt
nicht eingefühlt, weil inzwischen der Graf Dankelmann gestorben war und der
an seiner Stelle mit der Gesetzrevision beauftragte Minister v. Kamptz ein prin¬
cipieller Gegner aller Neuerungen war, die aus Frankreich entlehnt zu sein schienen.

In der Praxis hatten sich indessen die größten Uebelstände infolge des Ver¬
fahrens der Allgemeinen Gerichtsordnung herausgestellt, namentlich klagte man
über eine unerträgliche Verschleppung grade der allereinfachsten Processe. Durch
eine Brochüre des Nechtsanwalts Marchand zu Berlin ward der König Friedrich
Wilhelm der Dritte persönlich aus diesen Uebelstand aufmerksam gemacht; es
gab dies trotz des Widerstrebens des Ministers v. Kamptz Veranlassung zum
Erlaß der Verordnung vom 1. Juni 1833. welche größtentheils wörtlich an«
dem reinhardtschen revidirten Entwürfe entlehnt ist und welche für einfache
Sachen, die sogenannten summarischen Processe, ein abgekürztes Verfahren mit
mündlicher Schlußverhandlung vorschrieb. In der Praxis bewährte sich die«
Verfahren so gut. daß man eS mit einigen Modificationen durch die Verord¬
nung vom 21. Juli 1846 auf alle Processe ohne Ausnahme ausdehnte. Diese
teilweise Annahme des Princips der Mündlichkeit ist gegenwärtig von fast
allen Praktikern gebilligt. Zwar verlangen viele weitere Aenderungen, aber eS
ist uns nicht bekannt, daß irgendein Jurist Rückkehr zur unveränderten Allgemei¬
nen Gerichtsordnung wünschte. Durch die Verordnung vom 2. Januar 1849
wurden die Patrimonialgerichtsbarkeit und der eximirte Gerichtsstand aufgehoben
und die jetzt bestehende Gerichtsverfassung eingeführt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0226" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190385"/>
          <p xml:id="ID_775" prev="#ID_774"> begabten und energischen Mannes, sondern er hat sich allmälig im Laufe der<lb/>
Jahrhunderte ausgebildet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_776"> Er beruht, wie die meisten Proceßordnungen gebildeter Nationen alter und<lb/>
neuer Zeit, z. B. schon der attische und der zur Zeit Jusiinians geltende römische<lb/>
Civilproceß auf einer Verbindung von schriftlichen und mündlichem Verfahren.<lb/>
Die Parteien müssen beim ordentlichen Processe, also abgesehn von den vor den<lb/>
Friedensrichter verwiesenen Streitigkeiten über geringe Objecte, durch Anwälte<lb/>
vertreten sein, welche durch die von ihnen gewechselten Schriften die mündliche<lb/>
Verhandlung vor dem erkennenden Gerichte vorbereiten. Es finden nur zwei<lb/>
Instanzen statt. Nur als außerordentliches Rechtsmittel findet gegen ein Er¬<lb/>
kenntniß zweiter Instanz die Nichtigkeitsbeschwerde statt, bei der aber nur geprüft<lb/>
wird, ob bei dem Erkenntniß zweiter Instanz gegen einen Rechtsgrundsatz oder<lb/>
gegen eine wesentliche Vorschrift des Verfahrens verstoßen ist und welche auch<lb/>
nur den Erfolg haben kann, daß das Erkenntniß zweiter Instanz aufgehoben<lb/>
und die Verhandlung der Sache an ein anderes Gericht zweiter Instanz ver¬<lb/>
wiesen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_777"> Reinhardts bereits im Jahre 1827 ausgearbeiteter Entwurf wqrd nun aber<lb/>
in vielen wichtigen Punkten vom Grafen Dankelmann nicht gebilligt, er mußte<lb/>
vollständig umgearbeitet werden, wurde jedoch auch in dieser veränderten Gestalt<lb/>
nicht eingefühlt, weil inzwischen der Graf Dankelmann gestorben war und der<lb/>
an seiner Stelle mit der Gesetzrevision beauftragte Minister v. Kamptz ein prin¬<lb/>
cipieller Gegner aller Neuerungen war, die aus Frankreich entlehnt zu sein schienen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_778"> In der Praxis hatten sich indessen die größten Uebelstände infolge des Ver¬<lb/>
fahrens der Allgemeinen Gerichtsordnung herausgestellt, namentlich klagte man<lb/>
über eine unerträgliche Verschleppung grade der allereinfachsten Processe. Durch<lb/>
eine Brochüre des Nechtsanwalts Marchand zu Berlin ward der König Friedrich<lb/>
Wilhelm der Dritte persönlich aus diesen Uebelstand aufmerksam gemacht; es<lb/>
gab dies trotz des Widerstrebens des Ministers v. Kamptz Veranlassung zum<lb/>
Erlaß der Verordnung vom 1. Juni 1833. welche größtentheils wörtlich an«<lb/>
dem reinhardtschen revidirten Entwürfe entlehnt ist und welche für einfache<lb/>
Sachen, die sogenannten summarischen Processe, ein abgekürztes Verfahren mit<lb/>
mündlicher Schlußverhandlung vorschrieb. In der Praxis bewährte sich die«<lb/>
Verfahren so gut. daß man eS mit einigen Modificationen durch die Verord¬<lb/>
nung vom 21. Juli 1846 auf alle Processe ohne Ausnahme ausdehnte. Diese<lb/>
teilweise Annahme des Princips der Mündlichkeit ist gegenwärtig von fast<lb/>
allen Praktikern gebilligt. Zwar verlangen viele weitere Aenderungen, aber eS<lb/>
ist uns nicht bekannt, daß irgendein Jurist Rückkehr zur unveränderten Allgemei¬<lb/>
nen Gerichtsordnung wünschte. Durch die Verordnung vom 2. Januar 1849<lb/>
wurden die Patrimonialgerichtsbarkeit und der eximirte Gerichtsstand aufgehoben<lb/>
und die jetzt bestehende Gerichtsverfassung eingeführt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0226] begabten und energischen Mannes, sondern er hat sich allmälig im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet. Er beruht, wie die meisten Proceßordnungen gebildeter Nationen alter und neuer Zeit, z. B. schon der attische und der zur Zeit Jusiinians geltende römische Civilproceß auf einer Verbindung von schriftlichen und mündlichem Verfahren. Die Parteien müssen beim ordentlichen Processe, also abgesehn von den vor den Friedensrichter verwiesenen Streitigkeiten über geringe Objecte, durch Anwälte vertreten sein, welche durch die von ihnen gewechselten Schriften die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Gerichte vorbereiten. Es finden nur zwei Instanzen statt. Nur als außerordentliches Rechtsmittel findet gegen ein Er¬ kenntniß zweiter Instanz die Nichtigkeitsbeschwerde statt, bei der aber nur geprüft wird, ob bei dem Erkenntniß zweiter Instanz gegen einen Rechtsgrundsatz oder gegen eine wesentliche Vorschrift des Verfahrens verstoßen ist und welche auch nur den Erfolg haben kann, daß das Erkenntniß zweiter Instanz aufgehoben und die Verhandlung der Sache an ein anderes Gericht zweiter Instanz ver¬ wiesen wird. Reinhardts bereits im Jahre 1827 ausgearbeiteter Entwurf wqrd nun aber in vielen wichtigen Punkten vom Grafen Dankelmann nicht gebilligt, er mußte vollständig umgearbeitet werden, wurde jedoch auch in dieser veränderten Gestalt nicht eingefühlt, weil inzwischen der Graf Dankelmann gestorben war und der an seiner Stelle mit der Gesetzrevision beauftragte Minister v. Kamptz ein prin¬ cipieller Gegner aller Neuerungen war, die aus Frankreich entlehnt zu sein schienen. In der Praxis hatten sich indessen die größten Uebelstände infolge des Ver¬ fahrens der Allgemeinen Gerichtsordnung herausgestellt, namentlich klagte man über eine unerträgliche Verschleppung grade der allereinfachsten Processe. Durch eine Brochüre des Nechtsanwalts Marchand zu Berlin ward der König Friedrich Wilhelm der Dritte persönlich aus diesen Uebelstand aufmerksam gemacht; es gab dies trotz des Widerstrebens des Ministers v. Kamptz Veranlassung zum Erlaß der Verordnung vom 1. Juni 1833. welche größtentheils wörtlich an« dem reinhardtschen revidirten Entwürfe entlehnt ist und welche für einfache Sachen, die sogenannten summarischen Processe, ein abgekürztes Verfahren mit mündlicher Schlußverhandlung vorschrieb. In der Praxis bewährte sich die« Verfahren so gut. daß man eS mit einigen Modificationen durch die Verord¬ nung vom 21. Juli 1846 auf alle Processe ohne Ausnahme ausdehnte. Diese teilweise Annahme des Princips der Mündlichkeit ist gegenwärtig von fast allen Praktikern gebilligt. Zwar verlangen viele weitere Aenderungen, aber eS ist uns nicht bekannt, daß irgendein Jurist Rückkehr zur unveränderten Allgemei¬ nen Gerichtsordnung wünschte. Durch die Verordnung vom 2. Januar 1849 wurden die Patrimonialgerichtsbarkeit und der eximirte Gerichtsstand aufgehoben und die jetzt bestehende Gerichtsverfassung eingeführt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/226
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/226>, abgerufen am 22.12.2024.