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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Das Preußische Abgeordnetenhaus.

Es sei diesem Blatte gestattet, beim Beginn eines neuen Jahres Dank,
Gruß und Heilwunsch der hohen Versammlung zu widmen, in welcher während
der letzten Monate auf dem Wege friedlicher Vereinbarung zwischen Regierung
und Nation die Arbeit der Schlachtfelder gesichert wurde. Es ziemt den Libe¬
ralen grade jetzt, sich zu erinnern, welch unermeßlichen Werth die Thätigkeit des
hohen Hauses in den Jahren seines Bestehens für Bildung und Schicksal der
Deutschen gehabt hat. Achtzehn Jahre! ein kurzer Zeitraum im Leben unsrer
Nation. Und doch gab es vor dieser Zeit in Preußen kaum eine politische
Presse, kaum eine öffentliche Meinung, der Beamtenstaat, den die Hohenzollern
des 18. Jahrhunderts eingerichtet, stand hilflos und charakterschwach den wo¬
genden Zeitfordernngen gegenüber, welche aus dem Volk aufstiegen, wie dichter
Wasserdampf am Frühlingsmorgen. Ein halbes Menschenalter parlamentarischer
Kämpfe und Leiden hat die Preußen zu einem politischen Volke gemacht, in
kranken Jahren war die Tribüne des Abgeordnetenhauses die einzige Stätte
eines freien Wortes und männlicher Forderungen, jede der großen politischen
Fragen, welche unsere Zeit bewegt haben, ward dort mit deutscher Redlichkeit
Verhandelt, die Urtheile der preußischen Volksvertreter sind in Millionen Seelen
gedrungen, die Parteien des Hauses haben der deutschen Tagespresse Richtung
gegeben und das Interesse am Staat anch in den kleinen Kreisen zum Be¬
wußtsein gebracht. Und was noch segensvoller war, Talent und Charakter der
Einzelnen, weiche dort stritten, sind der Nation werth geworden. Gedanken und
Herzschlag vieler, von Waldeck und Schulze-Delitzsch an bis zum Grafen Bis-
marck. hat der Deutsche in den Räumen des preußischen Abgeordnetenhauses
beobachtet und diese Bekanntschaft, welcher Widerstand oder Hingabe folgte, hat
uns nicht weniger gefördert, als die Vermehrung politischer Einsicht. Durch
achtzehn Jahre war das Abgeordnetenhaus die große politische Schule der
Deutschen. Auch eine Schule für die Vertreter des Volkes selbst und für die
Minister, die ihnen gegenüberstanden. Wer die politischen Charaktere unsrer
Zeit gerecht beurtheilen will, der muß vor allem daran denken, daß wir in der
ersten Generation eines Vcrfassungslebens allesammt Lernende gewesen sind,


Grenzboten I, 1867. 1

Das Preußische Abgeordnetenhaus.

Es sei diesem Blatte gestattet, beim Beginn eines neuen Jahres Dank,
Gruß und Heilwunsch der hohen Versammlung zu widmen, in welcher während
der letzten Monate auf dem Wege friedlicher Vereinbarung zwischen Regierung
und Nation die Arbeit der Schlachtfelder gesichert wurde. Es ziemt den Libe¬
ralen grade jetzt, sich zu erinnern, welch unermeßlichen Werth die Thätigkeit des
hohen Hauses in den Jahren seines Bestehens für Bildung und Schicksal der
Deutschen gehabt hat. Achtzehn Jahre! ein kurzer Zeitraum im Leben unsrer
Nation. Und doch gab es vor dieser Zeit in Preußen kaum eine politische
Presse, kaum eine öffentliche Meinung, der Beamtenstaat, den die Hohenzollern
des 18. Jahrhunderts eingerichtet, stand hilflos und charakterschwach den wo¬
genden Zeitfordernngen gegenüber, welche aus dem Volk aufstiegen, wie dichter
Wasserdampf am Frühlingsmorgen. Ein halbes Menschenalter parlamentarischer
Kämpfe und Leiden hat die Preußen zu einem politischen Volke gemacht, in
kranken Jahren war die Tribüne des Abgeordnetenhauses die einzige Stätte
eines freien Wortes und männlicher Forderungen, jede der großen politischen
Fragen, welche unsere Zeit bewegt haben, ward dort mit deutscher Redlichkeit
Verhandelt, die Urtheile der preußischen Volksvertreter sind in Millionen Seelen
gedrungen, die Parteien des Hauses haben der deutschen Tagespresse Richtung
gegeben und das Interesse am Staat anch in den kleinen Kreisen zum Be¬
wußtsein gebracht. Und was noch segensvoller war, Talent und Charakter der
Einzelnen, weiche dort stritten, sind der Nation werth geworden. Gedanken und
Herzschlag vieler, von Waldeck und Schulze-Delitzsch an bis zum Grafen Bis-
marck. hat der Deutsche in den Räumen des preußischen Abgeordnetenhauses
beobachtet und diese Bekanntschaft, welcher Widerstand oder Hingabe folgte, hat
uns nicht weniger gefördert, als die Vermehrung politischer Einsicht. Durch
achtzehn Jahre war das Abgeordnetenhaus die große politische Schule der
Deutschen. Auch eine Schule für die Vertreter des Volkes selbst und für die
Minister, die ihnen gegenüberstanden. Wer die politischen Charaktere unsrer
Zeit gerecht beurtheilen will, der muß vor allem daran denken, daß wir in der
ersten Generation eines Vcrfassungslebens allesammt Lernende gewesen sind,


Grenzboten I, 1867. 1
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[0011] Das Preußische Abgeordnetenhaus. Es sei diesem Blatte gestattet, beim Beginn eines neuen Jahres Dank, Gruß und Heilwunsch der hohen Versammlung zu widmen, in welcher während der letzten Monate auf dem Wege friedlicher Vereinbarung zwischen Regierung und Nation die Arbeit der Schlachtfelder gesichert wurde. Es ziemt den Libe¬ ralen grade jetzt, sich zu erinnern, welch unermeßlichen Werth die Thätigkeit des hohen Hauses in den Jahren seines Bestehens für Bildung und Schicksal der Deutschen gehabt hat. Achtzehn Jahre! ein kurzer Zeitraum im Leben unsrer Nation. Und doch gab es vor dieser Zeit in Preußen kaum eine politische Presse, kaum eine öffentliche Meinung, der Beamtenstaat, den die Hohenzollern des 18. Jahrhunderts eingerichtet, stand hilflos und charakterschwach den wo¬ genden Zeitfordernngen gegenüber, welche aus dem Volk aufstiegen, wie dichter Wasserdampf am Frühlingsmorgen. Ein halbes Menschenalter parlamentarischer Kämpfe und Leiden hat die Preußen zu einem politischen Volke gemacht, in kranken Jahren war die Tribüne des Abgeordnetenhauses die einzige Stätte eines freien Wortes und männlicher Forderungen, jede der großen politischen Fragen, welche unsere Zeit bewegt haben, ward dort mit deutscher Redlichkeit Verhandelt, die Urtheile der preußischen Volksvertreter sind in Millionen Seelen gedrungen, die Parteien des Hauses haben der deutschen Tagespresse Richtung gegeben und das Interesse am Staat anch in den kleinen Kreisen zum Be¬ wußtsein gebracht. Und was noch segensvoller war, Talent und Charakter der Einzelnen, weiche dort stritten, sind der Nation werth geworden. Gedanken und Herzschlag vieler, von Waldeck und Schulze-Delitzsch an bis zum Grafen Bis- marck. hat der Deutsche in den Räumen des preußischen Abgeordnetenhauses beobachtet und diese Bekanntschaft, welcher Widerstand oder Hingabe folgte, hat uns nicht weniger gefördert, als die Vermehrung politischer Einsicht. Durch achtzehn Jahre war das Abgeordnetenhaus die große politische Schule der Deutschen. Auch eine Schule für die Vertreter des Volkes selbst und für die Minister, die ihnen gegenüberstanden. Wer die politischen Charaktere unsrer Zeit gerecht beurtheilen will, der muß vor allem daran denken, daß wir in der ersten Generation eines Vcrfassungslebens allesammt Lernende gewesen sind, Grenzboten I, 1867. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/11>, abgerufen am 22.12.2024.