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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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siker einseitig gefärbt. Und jetzt? Was Jahr am Schluß seiner vernichtenden
Kritik über Wagner sagt, ist das landläufige Urtheil aller Gebildeten geworden.
"Von einem Stile der wagnerschen Musik kann nicht die Rede sein. Die erste
Bedingung des Stiles ist Eigenthümlichkeit der Productionskraft, welche man
einem Manne nicht zuschreiben kann, bei dem man nicht nur die Einflüsse
Webers. Marschners, Mendelssohns, Meyerbeers u. a. im Ganzen und Ein¬
zelnen nachweisen kann, sondern dessen künstlerische Eigenthümlichkeit wesentlich
darin besteht, daß eine Anzahl heterogener Bildungselemente unserer Zeit bei
ihm in bedenklichste Confusion gerathen sind. Eine aus Mißverständniß und
Uebertreibung hervorgegangene willkürliche Theorie bei mangelndem Sinn für
Motivirung und Gestaltung aus dem Ganzen, und eine einseitige Virtuosität,
die nur äußerliche Mittel für äußerliche Zwecke zu verwenden geschickt ist, führen
nothwendig zur Manier, die deshalb allein eine Zeitlang täuschen und blenden
kann, weil sie den Fehlern und Schwächen ihrer Zeit entgegenkommt." Jahr
ließ sich aber nicht blenden und täuschen und wartete ruhig, bis auch den An¬
dern die Schuppen von den Augen sielen. Sein Scharfblick bewährte sich in
der vernichtenden Kritik Wagners ebenso sehr, wie in der mitgetheilten Anerkennung,
die er Stockhauscn (34. niederrheinisches Musikfest) zollte. Nicht daß er Stock-
Hausen lobt, sondern wie er das Lob motivirt, macht Jahns Urtheil so schätzbar.
Durch eine überaus feine Analyse der Eigenschaften des Sängers, der stets nur
das zur Geltung zu bringen weiß, was in den vorgetragenen Stellen liegt,
durch eine gründliche Erörterung, wie dieselben sich zu den allgemeinen künst¬
lerischen Gesetzen verhalten, bereitet er sein Urtheil vor, so daß dasselbe eine
zwingende Kraft erhält. Nie betont der Autor seine persönliche Meinung, stets
läßt er sachliche Gründe ausschließlich reden; nie ist sein Standpunkt willkürlich,
stets wird seine völlige Hingabe an den Gegenstand bemerkt, seine reine Ge¬
sinnung, seine objective Haltung offenbar. Kein Wunder, daß Jahns Kritiken
als mustergiltig angesehen werden.

Auch in seinen biographischen Aufsätzen beweist Jahr die vollkommene
Herrschaft über das Material, den beharrlichen Fleiß des gediegenen Gelehrten,
der auch das Entlegenste für seine Zwecke zu verwerthen weiß und auch das
Kleine und Unscheinbare auszufeilen nicht verschmäht, endlich durchdringendes
Verständniß der Gegenstände, über welche er schreibt. Daß es Jahr möglich
wurde, selbst in ganz engem Rahmen ein deutliches Bild von Winckelmanns
großer Statur zu entwerfen, kann nicht Staunen erregen. Hat er doch dem
Winkelmanncultus sein ganzes Leben gewidmet und wie Wenige der Mitleben¬
den des genialen Mannes Ziele und Aufgaben sich klar gemacht. Daß der längst
in unserer Literatur eingebürgerte Aufsatz über Goethes Jugend in Leipzig viel
des Anziehenden enthält, ist auch begreiflich. Nicht weil sich über Goethe nicht
langweilig schreiben läßt -- das haben unsere Literatoren glücklich erlernt --


siker einseitig gefärbt. Und jetzt? Was Jahr am Schluß seiner vernichtenden
Kritik über Wagner sagt, ist das landläufige Urtheil aller Gebildeten geworden.
„Von einem Stile der wagnerschen Musik kann nicht die Rede sein. Die erste
Bedingung des Stiles ist Eigenthümlichkeit der Productionskraft, welche man
einem Manne nicht zuschreiben kann, bei dem man nicht nur die Einflüsse
Webers. Marschners, Mendelssohns, Meyerbeers u. a. im Ganzen und Ein¬
zelnen nachweisen kann, sondern dessen künstlerische Eigenthümlichkeit wesentlich
darin besteht, daß eine Anzahl heterogener Bildungselemente unserer Zeit bei
ihm in bedenklichste Confusion gerathen sind. Eine aus Mißverständniß und
Uebertreibung hervorgegangene willkürliche Theorie bei mangelndem Sinn für
Motivirung und Gestaltung aus dem Ganzen, und eine einseitige Virtuosität,
die nur äußerliche Mittel für äußerliche Zwecke zu verwenden geschickt ist, führen
nothwendig zur Manier, die deshalb allein eine Zeitlang täuschen und blenden
kann, weil sie den Fehlern und Schwächen ihrer Zeit entgegenkommt." Jahr
ließ sich aber nicht blenden und täuschen und wartete ruhig, bis auch den An¬
dern die Schuppen von den Augen sielen. Sein Scharfblick bewährte sich in
der vernichtenden Kritik Wagners ebenso sehr, wie in der mitgetheilten Anerkennung,
die er Stockhauscn (34. niederrheinisches Musikfest) zollte. Nicht daß er Stock-
Hausen lobt, sondern wie er das Lob motivirt, macht Jahns Urtheil so schätzbar.
Durch eine überaus feine Analyse der Eigenschaften des Sängers, der stets nur
das zur Geltung zu bringen weiß, was in den vorgetragenen Stellen liegt,
durch eine gründliche Erörterung, wie dieselben sich zu den allgemeinen künst¬
lerischen Gesetzen verhalten, bereitet er sein Urtheil vor, so daß dasselbe eine
zwingende Kraft erhält. Nie betont der Autor seine persönliche Meinung, stets
läßt er sachliche Gründe ausschließlich reden; nie ist sein Standpunkt willkürlich,
stets wird seine völlige Hingabe an den Gegenstand bemerkt, seine reine Ge¬
sinnung, seine objective Haltung offenbar. Kein Wunder, daß Jahns Kritiken
als mustergiltig angesehen werden.

Auch in seinen biographischen Aufsätzen beweist Jahr die vollkommene
Herrschaft über das Material, den beharrlichen Fleiß des gediegenen Gelehrten,
der auch das Entlegenste für seine Zwecke zu verwerthen weiß und auch das
Kleine und Unscheinbare auszufeilen nicht verschmäht, endlich durchdringendes
Verständniß der Gegenstände, über welche er schreibt. Daß es Jahr möglich
wurde, selbst in ganz engem Rahmen ein deutliches Bild von Winckelmanns
großer Statur zu entwerfen, kann nicht Staunen erregen. Hat er doch dem
Winkelmanncultus sein ganzes Leben gewidmet und wie Wenige der Mitleben¬
den des genialen Mannes Ziele und Aufgaben sich klar gemacht. Daß der längst
in unserer Literatur eingebürgerte Aufsatz über Goethes Jugend in Leipzig viel
des Anziehenden enthält, ist auch begreiflich. Nicht weil sich über Goethe nicht
langweilig schreiben läßt — das haben unsere Literatoren glücklich erlernt —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/545>, abgerufen am 04.07.2024.