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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Diderot, wie der Mittelpunkt der zeitgenössischen Tendenzen, so zugleich der Pro¬
phet und Vermittler aller modernen Ideen ist; hier sehen wir, wie er, der Sohn
des Messerschmieds in seinem wachsamen Interesse für alle Zweige des Lebens
dazu berufen war, in seinen trefflichen technischen Artikeln und Zeichnungen
die Poesie der Arbeit, die Ehre des Handwerks zum Bewußtsein zu bringen;
während er wiederum in seinen philosophischen Abhandlungen für Staat und
Kirche, für Kunst und Wissenschaft Probleme aufstellte und Gedanken aussprach,
die theils zu brennenden Fragen unserer Tage geworden sind, theils in der
Originalgestalt, die man zu ihrer Zeit paradox und anstößig fand, bereits all-
gemeine Anerkennung erworben haben. Die größte Bedeutung vindicirt ihm
Rosenkranz auf dem Gebiete der Aesthetik, wo er nicht etwa, wie man ihm fälschlich
nachgeredet, die sklavische Copirung der Natur empfohlen hat, sondern vielmehr als
Kämpe für die Natur wider die Unnatur eintretend zu einem objectiven Begriffe
der Schönheit vordrang und in den Urtheilen über die pariser'Kunstausstellungen
(los Lalous) die treffendsten künstlerischen Beobachtungen und Winke hinterließ,
von denen der Biograph mit Recht eine reiche Auswahl (namentlich auch aus
dem ungedruckten Petersburger Nachlaß) seinem Werke einverleibt hat. Diderot
darf in dieser Hinsicht den Vergleich mit Lessing nicht scheuen, da er eigenthüm¬
liche Vorzüge besitzt, durch welche die Mängel, die uns an ihm angesichts unseres
großen Landsmanns in die Augen springen, nahezu aufgewogen werden. Als
Dramatiker mittelmäßig, ist Diderot hingegen als Dramaturg voll der frucht¬
barsten Ideen für Schauspiel und Schauspieler; er fixirte den Standpunkt der
Indifferenz des Tragischen und Komischen, indem er für das soeben erstandene
bürgerliche Drama den entsprechenden dialektischen Ausdruck fand. Auf diesem
Wege konnte er. getragen von seiner Begeisterung für Naturwahrheit und Stärke
der Leidenschaft, allerdings zu mannigfachen Reformen des französischen Theaters
Anlaß geben, aber freilich nicht bis zur Würdigung Shakespeares gelangen.

Im Metaphysischen gilt Diderot dem Verf. als "der Verlorne Sohn der
Spekulation", der in mächtigen Geistesblitzen bis an die Grenze der von Kant
entdeckten neuen Welt vordringt, aber auf seinem Freiheit und Tugend postu-
lirenden Moralstandpunkte dem System seines consequent deterministischen Ma¬
terialismus die Spitze abbricht, andererseits wieder durch die unentfliehbaren
Folgerungen dieses atheistischen Systems seine Moral aufs bedenklichste ver¬
dirbt und statt die Natur, wie dies überall sein Bestreben, in ihre Rechte ein¬
zusetzen, in die widrigste Unnatur verfällt, die, wo er ihre Verwirklichung dem
Kreise seiner nächsten Lieben drohen sieht, mit Schauder von ihm zurück¬
gewiesen wird.

Hier aber ist in seinem Denken wie in seinem Leben der große Riß. der
ihn nie zu voller Harmonie und Einheit des Daseins und Schaffens gelangen
läßt. Er ist der Mann, der seinen Trieben nicht nur mit vollem Bewußtsein


Vrenzboten IV. 186", 64

Diderot, wie der Mittelpunkt der zeitgenössischen Tendenzen, so zugleich der Pro¬
phet und Vermittler aller modernen Ideen ist; hier sehen wir, wie er, der Sohn
des Messerschmieds in seinem wachsamen Interesse für alle Zweige des Lebens
dazu berufen war, in seinen trefflichen technischen Artikeln und Zeichnungen
die Poesie der Arbeit, die Ehre des Handwerks zum Bewußtsein zu bringen;
während er wiederum in seinen philosophischen Abhandlungen für Staat und
Kirche, für Kunst und Wissenschaft Probleme aufstellte und Gedanken aussprach,
die theils zu brennenden Fragen unserer Tage geworden sind, theils in der
Originalgestalt, die man zu ihrer Zeit paradox und anstößig fand, bereits all-
gemeine Anerkennung erworben haben. Die größte Bedeutung vindicirt ihm
Rosenkranz auf dem Gebiete der Aesthetik, wo er nicht etwa, wie man ihm fälschlich
nachgeredet, die sklavische Copirung der Natur empfohlen hat, sondern vielmehr als
Kämpe für die Natur wider die Unnatur eintretend zu einem objectiven Begriffe
der Schönheit vordrang und in den Urtheilen über die pariser'Kunstausstellungen
(los Lalous) die treffendsten künstlerischen Beobachtungen und Winke hinterließ,
von denen der Biograph mit Recht eine reiche Auswahl (namentlich auch aus
dem ungedruckten Petersburger Nachlaß) seinem Werke einverleibt hat. Diderot
darf in dieser Hinsicht den Vergleich mit Lessing nicht scheuen, da er eigenthüm¬
liche Vorzüge besitzt, durch welche die Mängel, die uns an ihm angesichts unseres
großen Landsmanns in die Augen springen, nahezu aufgewogen werden. Als
Dramatiker mittelmäßig, ist Diderot hingegen als Dramaturg voll der frucht¬
barsten Ideen für Schauspiel und Schauspieler; er fixirte den Standpunkt der
Indifferenz des Tragischen und Komischen, indem er für das soeben erstandene
bürgerliche Drama den entsprechenden dialektischen Ausdruck fand. Auf diesem
Wege konnte er. getragen von seiner Begeisterung für Naturwahrheit und Stärke
der Leidenschaft, allerdings zu mannigfachen Reformen des französischen Theaters
Anlaß geben, aber freilich nicht bis zur Würdigung Shakespeares gelangen.

Im Metaphysischen gilt Diderot dem Verf. als „der Verlorne Sohn der
Spekulation", der in mächtigen Geistesblitzen bis an die Grenze der von Kant
entdeckten neuen Welt vordringt, aber auf seinem Freiheit und Tugend postu-
lirenden Moralstandpunkte dem System seines consequent deterministischen Ma¬
terialismus die Spitze abbricht, andererseits wieder durch die unentfliehbaren
Folgerungen dieses atheistischen Systems seine Moral aufs bedenklichste ver¬
dirbt und statt die Natur, wie dies überall sein Bestreben, in ihre Rechte ein¬
zusetzen, in die widrigste Unnatur verfällt, die, wo er ihre Verwirklichung dem
Kreise seiner nächsten Lieben drohen sieht, mit Schauder von ihm zurück¬
gewiesen wird.

Hier aber ist in seinem Denken wie in seinem Leben der große Riß. der
ihn nie zu voller Harmonie und Einheit des Daseins und Schaffens gelangen
läßt. Er ist der Mann, der seinen Trieben nicht nur mit vollem Bewußtsein


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[0539] Diderot, wie der Mittelpunkt der zeitgenössischen Tendenzen, so zugleich der Pro¬ phet und Vermittler aller modernen Ideen ist; hier sehen wir, wie er, der Sohn des Messerschmieds in seinem wachsamen Interesse für alle Zweige des Lebens dazu berufen war, in seinen trefflichen technischen Artikeln und Zeichnungen die Poesie der Arbeit, die Ehre des Handwerks zum Bewußtsein zu bringen; während er wiederum in seinen philosophischen Abhandlungen für Staat und Kirche, für Kunst und Wissenschaft Probleme aufstellte und Gedanken aussprach, die theils zu brennenden Fragen unserer Tage geworden sind, theils in der Originalgestalt, die man zu ihrer Zeit paradox und anstößig fand, bereits all- gemeine Anerkennung erworben haben. Die größte Bedeutung vindicirt ihm Rosenkranz auf dem Gebiete der Aesthetik, wo er nicht etwa, wie man ihm fälschlich nachgeredet, die sklavische Copirung der Natur empfohlen hat, sondern vielmehr als Kämpe für die Natur wider die Unnatur eintretend zu einem objectiven Begriffe der Schönheit vordrang und in den Urtheilen über die pariser'Kunstausstellungen (los Lalous) die treffendsten künstlerischen Beobachtungen und Winke hinterließ, von denen der Biograph mit Recht eine reiche Auswahl (namentlich auch aus dem ungedruckten Petersburger Nachlaß) seinem Werke einverleibt hat. Diderot darf in dieser Hinsicht den Vergleich mit Lessing nicht scheuen, da er eigenthüm¬ liche Vorzüge besitzt, durch welche die Mängel, die uns an ihm angesichts unseres großen Landsmanns in die Augen springen, nahezu aufgewogen werden. Als Dramatiker mittelmäßig, ist Diderot hingegen als Dramaturg voll der frucht¬ barsten Ideen für Schauspiel und Schauspieler; er fixirte den Standpunkt der Indifferenz des Tragischen und Komischen, indem er für das soeben erstandene bürgerliche Drama den entsprechenden dialektischen Ausdruck fand. Auf diesem Wege konnte er. getragen von seiner Begeisterung für Naturwahrheit und Stärke der Leidenschaft, allerdings zu mannigfachen Reformen des französischen Theaters Anlaß geben, aber freilich nicht bis zur Würdigung Shakespeares gelangen. Im Metaphysischen gilt Diderot dem Verf. als „der Verlorne Sohn der Spekulation", der in mächtigen Geistesblitzen bis an die Grenze der von Kant entdeckten neuen Welt vordringt, aber auf seinem Freiheit und Tugend postu- lirenden Moralstandpunkte dem System seines consequent deterministischen Ma¬ terialismus die Spitze abbricht, andererseits wieder durch die unentfliehbaren Folgerungen dieses atheistischen Systems seine Moral aufs bedenklichste ver¬ dirbt und statt die Natur, wie dies überall sein Bestreben, in ihre Rechte ein¬ zusetzen, in die widrigste Unnatur verfällt, die, wo er ihre Verwirklichung dem Kreise seiner nächsten Lieben drohen sieht, mit Schauder von ihm zurück¬ gewiesen wird. Hier aber ist in seinem Denken wie in seinem Leben der große Riß. der ihn nie zu voller Harmonie und Einheit des Daseins und Schaffens gelangen läßt. Er ist der Mann, der seinen Trieben nicht nur mit vollem Bewußtsein Vrenzboten IV. 186», 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/539>, abgerufen am 04.07.2024.