Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Gewalt seiner Leidenschaften und die kritisch-materialistische Richtung seines Den¬
kens ihn fortriß. Sogleich nachdem er das Jesuitencolleg, das ihn vergeblich
für den geistlichen Stand zu gewinnen suchte, verlassen, zeigt er seine volle
Selbständigkeit, einen unbeugsamen Willen für die Betreibung der Arbei¬
ten, die ihm am Herzen liegen, aber auch für die Befriedigung aller anderen
Leidenschaften, die ihn beseelen. Er verweigert, sich einen bestimmten Stand
zu wählen, weil er vielmehr die Eigenthümlichkeit eines jeden geistig zu erfassen
strebt und ganz in diesen desultorischer. aber stets mit Energie verfolgten Studien
aufgeht. Er ertrotzt sich eine Heirath, durch die er sich eine Fessel schmiedet,
die er dann in seinen verschiedenen Liebesverhältnissen mit demselben Ungestüm
durchbricht, als er sie selbst erkoren, während er doch wiederum später für die
gute Erziehung und Versorgung seiner heißgeliebten Tochter ängstlich bemüht
ist und die größten Opfer dafür nicht scheut, unter die namentlich der Entschluß
zum Verkauf seiner Bibliothek zu rechnen ist. In seinen ersten schriftstellerischen
Versuchen, die seit seiner Verheiratung 1743 beginnen, wendet er sich der
englischen Literatur zu, welche die moralisirende Tendenz, zu der er von Hause
aus hinneigt, für immer in ihm befestigt, so daß er auch durch die schneidendsten
Widersprüche, in die er dadurch mit seiner sich immer schärfer ausbildenden,
vom Sensualismus zum Materialismus und Atheismus fortschreitenden Welt-
anschauung gerieth, nicht bewegt werden kann, sie aufzugeben. -- Diese natura¬
listische Hauptnchtung seines Denkens aber, begründet durch seinen skeptischen,
die ganze Welt viel weniger in ihrer organischen Einheit zusammenfassenden
als in ihrer Breite und Fülle durchforschender Gcistestrieb, der gleichsam jedes
Schubfach des Universums eröffnen, alle Schätze desselben auffinden und genießen
möchte, wird bestärkt und formirt durch den engen geselligen und wissenschaft¬
lichen Verkehr mit allen jenen bedeutenden Geistern, die diesem Zeitalter ihren
Stempel aufgedrückt haben, einem Rousseau, Voltaire, d'Alembert,Helvetius, Grimm,
Holbach:c., deren verschiedenartige Tendenzen, wie Rosenkranz nachweist, sich sämmt¬
lich in Diderot concentrilt finden; einer Republik von Geistern, die in der Ency¬
klopädie ihr allseitiges literarisches Organ gewinnt. Die Geschichte der Ency¬
klopädie ist eine der herrlichsten Partien des Wertes. Das Bild dieser ernsten
Arbeit, das hier vor unsern Augen entsteht, tilgt jede Voreingenommenheit gegen
die verrufenen Genossen, welche dieser Name umfaßt, und lehrt uns den He¬
roismus Diderots würdigen, der allein im Stande war, dieses unter so unend¬
lichen Mühseligkeiten und Verfolgungen erwachsende Werk zusammenzuhalten
und zu vollenden; wir vergegenwärtigen uns weiterhin die ganze Bedeutung
dieses in seinem Einflüsse auf die Zeitgenossen und in seiner Fortentwickelung
bis zu dem sich stets neu verjüngenden brockhausschen Universalbildungscompcn-
dium so wichtig gewordenen Wertes. Hier zuerst tritt uns in klaren Umrissen ent¬
gegen, was ein Hauptaugenmerk in der Darstellung des Verf. ist: daß nämlich


Gewalt seiner Leidenschaften und die kritisch-materialistische Richtung seines Den¬
kens ihn fortriß. Sogleich nachdem er das Jesuitencolleg, das ihn vergeblich
für den geistlichen Stand zu gewinnen suchte, verlassen, zeigt er seine volle
Selbständigkeit, einen unbeugsamen Willen für die Betreibung der Arbei¬
ten, die ihm am Herzen liegen, aber auch für die Befriedigung aller anderen
Leidenschaften, die ihn beseelen. Er verweigert, sich einen bestimmten Stand
zu wählen, weil er vielmehr die Eigenthümlichkeit eines jeden geistig zu erfassen
strebt und ganz in diesen desultorischer. aber stets mit Energie verfolgten Studien
aufgeht. Er ertrotzt sich eine Heirath, durch die er sich eine Fessel schmiedet,
die er dann in seinen verschiedenen Liebesverhältnissen mit demselben Ungestüm
durchbricht, als er sie selbst erkoren, während er doch wiederum später für die
gute Erziehung und Versorgung seiner heißgeliebten Tochter ängstlich bemüht
ist und die größten Opfer dafür nicht scheut, unter die namentlich der Entschluß
zum Verkauf seiner Bibliothek zu rechnen ist. In seinen ersten schriftstellerischen
Versuchen, die seit seiner Verheiratung 1743 beginnen, wendet er sich der
englischen Literatur zu, welche die moralisirende Tendenz, zu der er von Hause
aus hinneigt, für immer in ihm befestigt, so daß er auch durch die schneidendsten
Widersprüche, in die er dadurch mit seiner sich immer schärfer ausbildenden,
vom Sensualismus zum Materialismus und Atheismus fortschreitenden Welt-
anschauung gerieth, nicht bewegt werden kann, sie aufzugeben. — Diese natura¬
listische Hauptnchtung seines Denkens aber, begründet durch seinen skeptischen,
die ganze Welt viel weniger in ihrer organischen Einheit zusammenfassenden
als in ihrer Breite und Fülle durchforschender Gcistestrieb, der gleichsam jedes
Schubfach des Universums eröffnen, alle Schätze desselben auffinden und genießen
möchte, wird bestärkt und formirt durch den engen geselligen und wissenschaft¬
lichen Verkehr mit allen jenen bedeutenden Geistern, die diesem Zeitalter ihren
Stempel aufgedrückt haben, einem Rousseau, Voltaire, d'Alembert,Helvetius, Grimm,
Holbach:c., deren verschiedenartige Tendenzen, wie Rosenkranz nachweist, sich sämmt¬
lich in Diderot concentrilt finden; einer Republik von Geistern, die in der Ency¬
klopädie ihr allseitiges literarisches Organ gewinnt. Die Geschichte der Ency¬
klopädie ist eine der herrlichsten Partien des Wertes. Das Bild dieser ernsten
Arbeit, das hier vor unsern Augen entsteht, tilgt jede Voreingenommenheit gegen
die verrufenen Genossen, welche dieser Name umfaßt, und lehrt uns den He¬
roismus Diderots würdigen, der allein im Stande war, dieses unter so unend¬
lichen Mühseligkeiten und Verfolgungen erwachsende Werk zusammenzuhalten
und zu vollenden; wir vergegenwärtigen uns weiterhin die ganze Bedeutung
dieses in seinem Einflüsse auf die Zeitgenossen und in seiner Fortentwickelung
bis zu dem sich stets neu verjüngenden brockhausschen Universalbildungscompcn-
dium so wichtig gewordenen Wertes. Hier zuerst tritt uns in klaren Umrissen ent¬
gegen, was ein Hauptaugenmerk in der Darstellung des Verf. ist: daß nämlich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0538" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286686"/>
          <p xml:id="ID_1585" prev="#ID_1584" next="#ID_1586"> Gewalt seiner Leidenschaften und die kritisch-materialistische Richtung seines Den¬<lb/>
kens ihn fortriß. Sogleich nachdem er das Jesuitencolleg, das ihn vergeblich<lb/>
für den geistlichen Stand zu gewinnen suchte, verlassen, zeigt er seine volle<lb/>
Selbständigkeit, einen unbeugsamen Willen für die Betreibung der Arbei¬<lb/>
ten, die ihm am Herzen liegen, aber auch für die Befriedigung aller anderen<lb/>
Leidenschaften, die ihn beseelen. Er verweigert, sich einen bestimmten Stand<lb/>
zu wählen, weil er vielmehr die Eigenthümlichkeit eines jeden geistig zu erfassen<lb/>
strebt und ganz in diesen desultorischer. aber stets mit Energie verfolgten Studien<lb/>
aufgeht. Er ertrotzt sich eine Heirath, durch die er sich eine Fessel schmiedet,<lb/>
die er dann in seinen verschiedenen Liebesverhältnissen mit demselben Ungestüm<lb/>
durchbricht, als er sie selbst erkoren, während er doch wiederum später für die<lb/>
gute Erziehung und Versorgung seiner heißgeliebten Tochter ängstlich bemüht<lb/>
ist und die größten Opfer dafür nicht scheut, unter die namentlich der Entschluß<lb/>
zum Verkauf seiner Bibliothek zu rechnen ist. In seinen ersten schriftstellerischen<lb/>
Versuchen, die seit seiner Verheiratung 1743 beginnen, wendet er sich der<lb/>
englischen Literatur zu, welche die moralisirende Tendenz, zu der er von Hause<lb/>
aus hinneigt, für immer in ihm befestigt, so daß er auch durch die schneidendsten<lb/>
Widersprüche, in die er dadurch mit seiner sich immer schärfer ausbildenden,<lb/>
vom Sensualismus zum Materialismus und Atheismus fortschreitenden Welt-<lb/>
anschauung gerieth, nicht bewegt werden kann, sie aufzugeben. &#x2014; Diese natura¬<lb/>
listische Hauptnchtung seines Denkens aber, begründet durch seinen skeptischen,<lb/>
die ganze Welt viel weniger in ihrer organischen Einheit zusammenfassenden<lb/>
als in ihrer Breite und Fülle durchforschender Gcistestrieb, der gleichsam jedes<lb/>
Schubfach des Universums eröffnen, alle Schätze desselben auffinden und genießen<lb/>
möchte, wird bestärkt und formirt durch den engen geselligen und wissenschaft¬<lb/>
lichen Verkehr mit allen jenen bedeutenden Geistern, die diesem Zeitalter ihren<lb/>
Stempel aufgedrückt haben, einem Rousseau, Voltaire, d'Alembert,Helvetius, Grimm,<lb/>
Holbach:c., deren verschiedenartige Tendenzen, wie Rosenkranz nachweist, sich sämmt¬<lb/>
lich in Diderot concentrilt finden; einer Republik von Geistern, die in der Ency¬<lb/>
klopädie ihr allseitiges literarisches Organ gewinnt. Die Geschichte der Ency¬<lb/>
klopädie ist eine der herrlichsten Partien des Wertes. Das Bild dieser ernsten<lb/>
Arbeit, das hier vor unsern Augen entsteht, tilgt jede Voreingenommenheit gegen<lb/>
die verrufenen Genossen, welche dieser Name umfaßt, und lehrt uns den He¬<lb/>
roismus Diderots würdigen, der allein im Stande war, dieses unter so unend¬<lb/>
lichen Mühseligkeiten und Verfolgungen erwachsende Werk zusammenzuhalten<lb/>
und zu vollenden; wir vergegenwärtigen uns weiterhin die ganze Bedeutung<lb/>
dieses in seinem Einflüsse auf die Zeitgenossen und in seiner Fortentwickelung<lb/>
bis zu dem sich stets neu verjüngenden brockhausschen Universalbildungscompcn-<lb/>
dium so wichtig gewordenen Wertes. Hier zuerst tritt uns in klaren Umrissen ent¬<lb/>
gegen, was ein Hauptaugenmerk in der Darstellung des Verf. ist: daß nämlich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0538] Gewalt seiner Leidenschaften und die kritisch-materialistische Richtung seines Den¬ kens ihn fortriß. Sogleich nachdem er das Jesuitencolleg, das ihn vergeblich für den geistlichen Stand zu gewinnen suchte, verlassen, zeigt er seine volle Selbständigkeit, einen unbeugsamen Willen für die Betreibung der Arbei¬ ten, die ihm am Herzen liegen, aber auch für die Befriedigung aller anderen Leidenschaften, die ihn beseelen. Er verweigert, sich einen bestimmten Stand zu wählen, weil er vielmehr die Eigenthümlichkeit eines jeden geistig zu erfassen strebt und ganz in diesen desultorischer. aber stets mit Energie verfolgten Studien aufgeht. Er ertrotzt sich eine Heirath, durch die er sich eine Fessel schmiedet, die er dann in seinen verschiedenen Liebesverhältnissen mit demselben Ungestüm durchbricht, als er sie selbst erkoren, während er doch wiederum später für die gute Erziehung und Versorgung seiner heißgeliebten Tochter ängstlich bemüht ist und die größten Opfer dafür nicht scheut, unter die namentlich der Entschluß zum Verkauf seiner Bibliothek zu rechnen ist. In seinen ersten schriftstellerischen Versuchen, die seit seiner Verheiratung 1743 beginnen, wendet er sich der englischen Literatur zu, welche die moralisirende Tendenz, zu der er von Hause aus hinneigt, für immer in ihm befestigt, so daß er auch durch die schneidendsten Widersprüche, in die er dadurch mit seiner sich immer schärfer ausbildenden, vom Sensualismus zum Materialismus und Atheismus fortschreitenden Welt- anschauung gerieth, nicht bewegt werden kann, sie aufzugeben. — Diese natura¬ listische Hauptnchtung seines Denkens aber, begründet durch seinen skeptischen, die ganze Welt viel weniger in ihrer organischen Einheit zusammenfassenden als in ihrer Breite und Fülle durchforschender Gcistestrieb, der gleichsam jedes Schubfach des Universums eröffnen, alle Schätze desselben auffinden und genießen möchte, wird bestärkt und formirt durch den engen geselligen und wissenschaft¬ lichen Verkehr mit allen jenen bedeutenden Geistern, die diesem Zeitalter ihren Stempel aufgedrückt haben, einem Rousseau, Voltaire, d'Alembert,Helvetius, Grimm, Holbach:c., deren verschiedenartige Tendenzen, wie Rosenkranz nachweist, sich sämmt¬ lich in Diderot concentrilt finden; einer Republik von Geistern, die in der Ency¬ klopädie ihr allseitiges literarisches Organ gewinnt. Die Geschichte der Ency¬ klopädie ist eine der herrlichsten Partien des Wertes. Das Bild dieser ernsten Arbeit, das hier vor unsern Augen entsteht, tilgt jede Voreingenommenheit gegen die verrufenen Genossen, welche dieser Name umfaßt, und lehrt uns den He¬ roismus Diderots würdigen, der allein im Stande war, dieses unter so unend¬ lichen Mühseligkeiten und Verfolgungen erwachsende Werk zusammenzuhalten und zu vollenden; wir vergegenwärtigen uns weiterhin die ganze Bedeutung dieses in seinem Einflüsse auf die Zeitgenossen und in seiner Fortentwickelung bis zu dem sich stets neu verjüngenden brockhausschen Universalbildungscompcn- dium so wichtig gewordenen Wertes. Hier zuerst tritt uns in klaren Umrissen ent¬ gegen, was ein Hauptaugenmerk in der Darstellung des Verf. ist: daß nämlich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/538
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/538>, abgerufen am 04.07.2024.